60 Jahre Berichterstattung über Film und Fernsehen
Norbert Bolewskis gesammelte Rückblicke von 1947 bis 2007
1996 - das Unmögliche wird wahr: "Das Virtuelle Studio"
Das Jahr 1996 begann mit einem Themenheft "Rund ums Virtuelle Studio". Neben einem großen Grundsatzbeitrag wurden auch die Aktualitäten der IBC in diesem Bereich mit einbezogen. Denn dass zur IBC 1995 gleich acht Unternehmen entsprechende Studios vorstellten, damit hatte keiner gerechnet. Wie oft in derartigen Situationen schlugen die Beurteilungen der vermeintlichen Möglichkeiten gleich Kapriolen. Gestern noch für fast unmöglich gehalten, schien nun plötzlich gleich alles möglich zu sein, sodass eine umfassende Bestandsaufnahme nötig wurde. In einem Punkt unterschieden sich die vorgestellten neuen Verfahren gewaltig, nämlich bei der Erkennung des Kameraorts und der gewählten Perspektive.
Die meisten Systeme arbeiteten mit Sensoren am Kamerastativ und an der Kamera selbst, um die entsprechenden Parameter zu ermitteln, die dann in den Rechner eingegeben die entsprechende Perspektivdarstellung des computergenerierten Raums ermöglichen. In der Zwischenzeit ist das virtuelle Studio bei vielen Sendern Stand der Technik (Bild 212). Man beschränkt sich aber meist auf die Darstellung von statistischen Bildern, durch deren Säulen dann der Moderator laufen kann usw. Der vollkommene Ersatz ganzer Studiobauten und damit erhebliche Kosteneinsparungen, wie das damals noch als wahrscheinlich galt, ist aber bis heute ausgeblieben.
Der Fernseher von Morgen
"Wie sieht der Fernseher von morgen aus?" fragten wir uns in einem weiteren Themenheft der FKT, präziser: "Architekturkonzepte multimedialer Endgeräte". Sinnvoll: Fernseher + DVB-Empfänger + DVD-Laufwerk. Nicht sinnvoll: Fernseher mit interner PC-Architektur. Und: sinnvoll: PC + TV-Tuner + Video- CD + Radio+ Internet + Telefon. Naja, letzteres sieht man heute wieder ganz anders. Und was die "Betriebssysteme" anbelangt, so wurde damals "OpenTV" als Betriebssystem für interaktive Anwendungen in der FKT diskutiert - und MHEG als Codierverfahren für Multimedia- und Hypermedia-Anwendungen. Alle diese Überlegungen wurden eigentlich durch das Internet überholt.
Ebenfalls noch 1996 vorgestellt: Bewegtbildübertragung für Fahrzeuge - aus DAB wird DMB. In der Ausgabe 3/1996 war der Schwerpunkt das digitale Fernsehen. Das Heft gab eine aktuelle Dokumentation des Standes und der Fortschritte der Entwicklung von DVB.
MPEG2 und das 4:2.2 Profile
Das Main Profile von MPEG-2 war als Internationaler Standard für die Verteilung von Video- und Audiosignalen zum Zuschauer bei Datenraten von typisch 2 bis 8 Mbit/s mit einer Obergrenze von 15 Mbit/s bekannt und wurde in der Zwischenzeit für die Ausstrahlung von Fernsehsignalen beim digitalen Fernsehen festgelegt. Es lag nun nahe, die Vorteile des Verfahrens auch in professionellen Studioumgebungen nutzen zu können.
Allerdings waren die Anforderungen im Produktionsbereich erheblich höher. Daher wurde mit dem 4:2:2-Profile dann ein Standard geschaffen, der diesen Ansprüchen genügen soll. Nicht nur die wesentlichen Merkmale des Standards, sondern insbesondere Untersuchungen hinsichtlich des Multigenerationen-Verhaltens, der Signalkaskadierung usw. waren ein viel diskutiertes Thema, dessen sich die FKT annahm.
Die Fernsehwelt befand sich damals in einer dramatischen Umbruchphase, was die Einführung digitaler Technik ins Studio anbelangt. Insbesondere gab es eine Vielzahl neuer Interfaces, die aufgrund neuer Anforderungen im Studio notwendig waren oder zumindest schienen. Diesen Interfaces galten einige technische Beiträge über SDDI, Ultra-SCSI, ATM, "Fibre Channel", SSA und "Firewire".
Betacam-SX und DVCPRO
Das Betacam-SX-Format (Bild 213) entwickelte sich als wesentlich für die elektronische Berichterstattung und diente dem Aufbau einer kompletten Systemfamilie. Tragbare Camcorder, digitale Satellitenübertragungsstrecken, nonlineares Editing, Video-Server usw. gehörten dieser Familie an. Die Signalverteilung zwischen den Systemkomponenten erfolgte über SDDI (Serial Digital Data Interface) in Realzeit oder auch wesentlich schneller.
Vorgestellt wurde daneben natürlich auch das neue Aufzeichnungssystems DVCPRO von Panasonic, das von einigen gegenüber SX favorisiert wurde.
Auch im Aufnahmestudio tat sich einiges: So wurde von dem Lichttechnik-Unternehmen Despar wurde für das FS-Studio 3 des Saarländischen Rundfunks (SR) das erste Studio der Welt realisiert, in dem die Automatisierung für die gesamte Lichttechnik eines Studios konsequent angewendet wurde (Bild 214). Die Ausführung erfolgte unter Benutzung des bereits bestehenden Automatisierungskonzepts "Icarus" von De Sisti, angepasst an die technischen Belange des SR.
MediaServer mit Festplattenfarmen
Die ersten Serverentwicklungen im Studio- und Playoutbereich bahnten sich an. In Europa gab es 1996 drei Avid-Serversysteme, von einem wurde regelmäßig gesendet, zwei waren in Betriebserprobung, und ein viertes System wurde installiert. CNN/fn beispielsweise war ein Sender, der fünf Tage pro Woche jeweils zwölf Stunden auf Sendung war und den gesamten Produktions- und Nachrichtensendebereich von einem Avid MediaServer mit zwölf angeschlossenen Aufnahme-, Bearbeitungs- und Wiedergabearbeitsplätzen realisierte. Beim MediaServer handelte es sich um einen "echten" Produktionsserver mit einer Client-Server-Architektur. Dieser Architektur lag ein Datenmodell zugrunde. Dieser vor rund elf Jahren gemachte Ansatz hat sich als richtig erwiesen. Heute hat die Servertechnik nicht allein durch die dramatische Zunahme an Speicherplatz ihren festen Platz in jedem Fernsehstudio der Welt. Viele Systeme von einer Vielzahl von Anbietern und Fortentwicklungen in unterschiedliche "Philosophien" sind heute mehr denn je immer noch ein wichtiges Thema in der FKT.
Während sich MPEG-2 als Kompressionsverfahren für das digitale Fernsehen (DVB) gerade in der Einführungsphase befand, arbeiteten die Mitglieder der Moving Picture Experts Group (MPEG) bereits an einer nächsten Stufe der Bild- und Toncodierung. Unter dem Stichwort MPEG-4 begann man, neue Verfahren zu standardisieren, die nicht nur eine weitere Erhöhung des Kompressionsfaktors erlauben, sondern völlig neue Funktionalitäten und Flexibilitäten boten. Dem Thema MPEG-4 einschließlich Audiocodierungen war ein Großteil der IBC-Ausgabe des Jahres 1996 gewidmet.
Das "Digital Cinema" mit DLP-Projektoren
Die neue digitale Komponententechnik im Fernsehstudio stellte völlig andere Anforderungen an die Messtechnik. Zwar fielen viele Justierarbeiten bei Inbetrieb- und Abnahme eines Studios weg, dafür waren aber speziell wegen der Signallaufzeiten eine Reihe neuer Aufgaben hinzugekommen. Dazu hatte Rohde & Schwarz in seinen "Digital Video Component Analyzer" VCA auch Laufzeitmessungen integriert, mit deren Hilfe sich die wesentlichen Laufzeitverhältnisse im digitalen Studio erfassen ließen (Bild 215).
Die ersten DLPs (Digital Light Processing) für ein Display mit Mikrospiegel-Ablenkung wurden vom Entwickler selbst, Larry Hornbeck, in einem umfangreichen Beitrag erstmals in Europa den FKT-Lesern dezidiert vorgestellt. Ein Beitrag, der bei vielen Veröffentlichungen später immer als Grundlage genannt und zitiert wurde. Im "Digital Cinema" hat sich heute die Wiedergabe über DLP-Projektoren als dominierende Methode eingeführt (Bild 216).
Mit dem "Plasmatron" stellte Sony ebenfalls einen technischen Meilenstein in der Displaytechnik vor (Bild 217). Die Technologie im Hintergrund hieß PALC - Plasma Addressed Liquid Cristal. Das Plasmatron verknüpfte moderne LC-Technik mit den Einsatzmöglichkeiten der Gasentladung.
Umbruch bei den elektronischen Nachrichten
Bereits auf der NAB 1994 kündigten die Firmen Avid und Ikegami ihre Zusammenarbeit für ein festplattengestütztes ENG-System an. Ein Jahr später, auf der NAB 1995 in Las Vegas, waren dann die ersten Prototypen der neuen Disk-Camcorder und der dockbare Disk-Recorder zu sehen. Von 1996 an waren die Produkte als Serienmodell verfügbar und ergänzten das nunmehr komplett bandlose DNG-System, das eine Broadcastproduktion ohne Einsatz von Bandmaterial erlaubte - von der Produktion bis hin zur Sendung.
Bei Paintbox und Picturebox, eingeführt von Quantel für die elektronische Standbild- Technik und Graphikanwendungen Anfang der 80er Jahre, kamen bereits Server zum Einsatz. Die neuen Techniken und Computer-Festplatten machten es nun möglich, die Systeme mit einem Clipbox-Videoserver zu komplettieren, der eine Zentralfunktion in der vorgeschlagenen News-Abwicklung einnehmen sollte. Das bedeutete, dass diese drei Server zu einem integrierten System zusammengeführt wurden. Was die Festplatten anbelangt, so boten die Dylan-Systeme eine Datentransferrate von mehr als 21 MByte/s, sodass selbst bei unkomprimiertem Video ein Zugriff in Video- Bildfrequenz auf jedes Halbbild möglich wurde.
Auf der IBC '96 wurde ein erster Prototyp des Nachrichten-Redaktionsystems AvidNews vorgestellt. Es war der Nachfolger des Basys Netstation-Systems. Wir berichteten ausführlich Ende 1996 über das System, das dann Mitte 1997 als AvidNews V1 (Bild 220) für den europäischen Markt zur Verfügung stand und in den Folgejahren eine sehr dominierende Rolle im News-Bereich spielte.
Bis zum Jahr 2001 wollte das Zweite Deutsche Fernsehen ZDF seine Sende- und Produktionsstudios auf Digitaltechnik umrüsten. Diese Maßnahmen waren allerdings nicht während des laufenden Betriebs möglich. Man kam dann zur Erkenntnis, dass ein vorübergehender Einsatz mobiler Einheiten höhere Kosten verursachen würde als ein paralleler Aufbau einer Ersatzregie. Der Ende 1996 erschienene Beitrag beschrieb die Konzeption, Projektierung und Realisierung dieser digitalen Produktionsregie (Bild 221).