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Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945

Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.

Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.

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Donnerstag, den 12. August 1943 - der RAM und Guariglia konferieren

Lanza gibt mir über seine Teilnahme an den Besprechungen zwischen dem RAM und dem neuen italienischen Außenminister Guariglia folgende Eindrücke wieder:

Die Atmosphäre sei zunächst frostig gewesen. Das Gefolge Guariglias habe den Eindruck gehabt, daß die Herren aus der Umgebung des RAM nicht als Freunde mit ihnen zu sprechen wünschten. Nach der ersten Unterhaltung habe sich jedoch die Stimmung aufgehellt und sei schließlich ausgesprochen gut geworden.

Er, Lanza, könne aus seiner fast zehnjährigen Erfahrung bekunden, daß noch niemals so klar geredet worden sei. Mit Guariglia wäre ein neuer Geist in das italienische Außenamt eingezogen.

Zur Zusammenkunft mit dem RAM seien erstklassige Kräfte entsandt worden, darunter der neue italienische Geschäftsträger in Berlin, Graf Rogeri, der zu den besten Köpfen des Palazzo Chigi zähle, und bei dem die kommissarische Leitung der Botschaft in ausgezeichneten Händen liege.

Lanza versicherte, auf italienischer Seite glaube man jetzt, daß der Krieg auch für Italien nicht verloren sei, wenn es gelinge, noch ein Jahr auszuhalten. Die Gegenseite habe seit der Machtübernahme Badoglios so schwere psychologische Fehler in der Behandlung des italienischen Volkes begangen, daß für die Fortführung des Krieges bessere Voraussetzungen gegeben seien.

Ob "der Neue" (Badoglio) sich halten kann ?

Fraglich wäre, ob Badoglio sich halten könne. Es herrsche kein Zweifel darüber, daß die Mehrheit des Volkes sofortigen Frieden wünsche. Die Vorgänge in Mailand und anderen italienischen Großstädten hätten die Augen vieler denkender Italiener über die Größe der kommunistischen Gefahr in Italien geöffnet.

Badoglio genieße zwar Ansehen, aber werde er als Politiker ausreichen, um die innere Lage zu meistern? Der König dagegen führe sich geschickt auf. Der Faschismus sei gestürzt durch die Dummheit, den Bildungsmangel, die Korruption und die allgemeine geringe menschliche Qualität seiner Träger.

Lanza sagte, es sei ein großer Fehler, wenn man deutscherseits versuche, den Faschismus wieder aufzumöbeln. Bei der Stimmung im italienischen Volk sei es sinnlos, sich für den Faschismus einzusetzen. Die faschistischen Radiosendungen aus Deutschland bezeichnete er als psychologischen Mißgriff.

Die hiesige italienische Botschaft sei schon drei Tage nach dem Rücktritt Mussolinis über deutsche Pläne, den Faschismus zu restaurieren, informiert gewesen. Deutschland spiele damit keinen Trumpf aus, sondern würde die innere Spaltung Italiens und seinen Zusammenbruch beschleunigen.

Auch in Deutschland müsse man sich zu der Plattform bekennen, auf der sich heute alle italienischen Patrioten zusammenfinden, denen es nicht um politische Personen oder politische Systeme ginge, sondern um die Erhaltung des italienischen Volkes und Staates und seines Platzes in Europa.

Verhandeln mit Rußland ?

Lanza warf die Frage auf, ob eine Möglichkeit des Verhandeins zwischen Deutschland und Rußland bestände. Seiner Auffassung nach könne schon die Andeutung einer solchen Möglichkeit die politische Lage zu unseren Gunsten verändern.

In Italien sei man mehr denn je überzeugt, daß Deutschland Rußland nicht schlagen könne, und man frage sich immer wieder, ob Deutschland dies nicht auch erkenne und bereit sei, politische Konsequenzen daraus zu ziehen. Die Ernennung des neuen italienischen Botschafters für Berlin nannte Lanza ein für seine Regierung schwieriges Problem.

Wenn Alfieri sich nicht an der Sitzung des Faschistischen Großrates beteiligt hätte, wäre er zweifellos auf seinem Posten belassen worden. So habe er dem Telegramm, an der Sitzung teilzunehmen, Folge geleistet, ohne sich über den Beratungsgegenstand zu informieren. Wenn er ihn geahnt hätte, wäre er wahrscheinlich hiergeblieben. Lanza erwähnte dann den Besuch, den er in Begleitung des Generals Marras nach dem Sturz Mussolinis beim Führer machte. Sie seien beide beeindruckt gewesen, wie ruhig der Führer auf die italienischen Hiobsnachrichten reagiert habe, während seinen Umgebung sich einer Art Panikstimmung hingab.

Freitag, den 13. August 1943 - Luftalarm und Übungsschießen

Essen bei Werner Blumenthal in seiner im vierten Stock eines Hauses am Lützowplatz gelegenen Wohnung. Blumenthal verkörpert den in Deutschland nicht eben häufigen Typ des Selfmademan. Als ehemaliger Kadett 1918 auf der Straße, verdingte er sich an die Firma Winter, die die Berliner Opel-Vertretung inne hatte.

Innerhalb von zehn Jahren stieg er zum Prokuristen und Teilhaber von Eduard Winter auf. Kurz vor dem Kriege verkauften Blumenthal und Winter ihre Firma an General Motors, die Opel übernommen hatten. Aus dem Erlös kauften sie Flugzeug- und Fallschirmfabriken.

Blumenthal ist der einzige deutsche Zivilist, der mitten im Kriege in einer zweimotorigen Privat-maschine in Europa herumfliegt. In seinen Werken werden Flugzeuge in der Hälfte der Zeit repariert, die die Werkstätten der Luftwaffe benötigen.

Es war kurz vor Mitternacht, und wir wollten uns gerade verabschieden, als die Sirene heulte. Es wurde beschlossen, die Keller der nahe gelegenen spanischen Botschaft aufzusuchen.

Mit einiger Mühe fanden wir Einlaß, tasteten uns von einem dunklen Raum in den anderen, machten Licht und entdeckten schließlich einen nur mit einem Bademantel bekleideten Mann auf einem Feldbett, der sich als der spanische Botschafter entpuppte!

Der Angriff selbst dauerte nur eine halbe Stunde, aber wie häufig benutzte ihn die Flak zu einem längeren Übungsschießen, was der Bevölkerung jedesmal Anlaß gibt, sich über dies Störung ihrer Nachtruhe zu beschweren.

Die "Blauen Division" der Spanier

Unter Werners Gästen befand sich Burard Preußen, der als Königlicher Prinz die Armee jetzt verlassen muß und bei IG-Farben eintritt. Er war zuletzt Verbindungsoffizier bei der spanischen Blauen Division im Nordabschnitt und erzählte, daß die spanischen Soldaten bei den russischen Mädchen weit mehr Chancen als die deutschen hätten. Sie lassen sich aus ihrer Heimat Frauenkleider schicken und verteilen sie unter die Russinnen.

Einige haben Russinnen zur Frau genommen, ohne daß diese Bindungen von Munoz Grande, dem spanischen Divisionskommandeur, anerkannt werden. Im Abschnitt der Blauen Division wagen die Russen kaum noch anzugreifen. Sie fürchten die Spanier mehr als die Deutschen. Tapferkeit und Ausdauer der Blauen Division finden im deutschen Hauptquartier große Anerkennung.

Donnerstag, den 19. August 1943 - die »Frankfurter Zeitung« wird eingestellt.

Die gestrige Ausgabe der »Frankfurter Zeitung« bestätigt, daß das Blatt ab 31. August 1943 nicht mehr erscheinen wird. Die »Frankfurter« war die einzige deutsche Zeitung, die im Ausland noch gelesen wurde. Der Redaktionsstab soll auf die deutsche Presse verteilt werden.

Laut Schmidt will das Promi den Korrespondenten der »Frankfurter Zeitung«, Irene Seligo, Margret Boveri und Lily Abegg, das Schreiben überhaupt verbieten. Schmidt versucht, diese drei hervorragenden Journalistinnen für das Auswärtige Amt zu retten.

Eine Schweizer Zeitung kommentiert die Nachricht von der Schließung der »Frankfurter«, indem sie an Bismarcks berühmten Ausspruch über die »Kölnische Zeitung« erinnert. Der Fürst hatte von ihr gesagt, daß ein solches Blatt ein Armeekorps wert sei.

Wie muß eine Staatsraison beschaffen sein, die im vierten Kriegsjahr ein Armeekorps liquidiert!

Montag; den 23. August 1943 - Himmler ist Reichsinnenminister

Himmler wurde zum Reichsinnenminister und Frick zum Reichsprotektor für Böhmen und Mähren ernannt. Vorläufig steht nichts darüber in der Presse.

Über den Tod des Generalobersten Jeschonnek, des Chefs des Generalstabes der Luftwaffe, laufen mehrere Versionen um. Eine behauptet, er sei an einer schweren Krankheit gestorben, eine andere, er habe Selbstmord begangen aus Kummer über die Schwäche unserer Luftverteidigung, die nicht einmal den Angriff auf die Versuchsanstalten in Peenemünde habe verhindern können.

Donnerstag, den 26. August 1943 - erneut Luftangriff auf Berlin

In der Nacht von Montag, dem 23., auf Dienstag, dem 24. August 1943, setzte um 23.40 Uhr Alarm ein. Dann kam eine längere Pause, die immer ein unheimliches Vorzeichen ist.

Um 0.30 Uhr begann das Flakfeuer, das bald so heftig wurde, daß wir in die Keller gingen. Die Kanonade dauerte bis 1.45 Uhr, entwarnt wurde erst gegen 2.30 Uhr. Einmal schrie jemand »Feuer im Haus!«. Bewaffnet mit der »Reichsluftschutzeinheits- handspritze« stürzten wir auf den Boden, ohne einen Brandherd zu entdecken. - Später stellte sich heraus, daß eine Leuchtkugel in den Hof gefallen war und diesen taghell illuminiert hatte.

Die verheerenden Wirkungen des Angriffs erfuhren wir in den Abendstunden des folgenden Tages, als Freddy Horstmann mich bat, ihn in Tino Soldatis Wagen nach Kerzendorf zu fahren. Er war am Morgen in die Stadt gekommen und hatte den gewohnten Weg über Marienfelde, Tempelhof nicht nehmen können.

So wählten wir für die Rückfahrt eine andere Route. In der Kaiserallee stießen wir auf die ersten Zerstörungen. In der Nähe der bulgarischen Gesandtschaft hatte eine Luftmine vier Etagenhäuser pulverisiert. In Steglitz, Friedenau, Lichterfelde und Marienfelde war stellenweise mit dem Auto nicht durchzukommen. Wasserlachen, Trümmerhaufen, Feuerwehrschläuche, Pionierabteilungen, Löschmannschaften, Lastzüge versperrten die Straße, die Tausende vor den Trümmern ihrer Häuser auf ihren Habseligkeiten hockende oder auf dem Trottoir aus Gulaschkanonen verpflegte Obdachlose säumten. Obwohl achtzehn Stunden seit dem Angriff vergangen waren, brannte es noch überall.

Dieser Angriff war schlichtweg eine große Katastrophe

Die Leitungen der Straßenbahn waren zerstört. Ausgebrannte Autobusse blockierten die Durchfahrt. Hunderte von Bäumen waren gefällt oder ihrer Belaubung entkleidet. Von einer Kolonie von Einfamilienhäusern standen nur noch die Schornsteine, Schilder warnten vor Blindgängern. Der fahle, rauchverdüsterte Himmel, in dem die Abendsonne als roter Ball stand, schien das Jüngste Gericht zu künden.

An der Peripherie der Stadt irrte eine herrenlose Kuhherde durch die Trümmer. Jenseits des Stadtrandes hörten die Zerstörungen auf. Das erste Dorf, Großbeeren, das sechs Kilometer vor Berlin liegt, war von dem Feuersturm unberührt geblieben. Welch ein Kontrast zwischen dem zerfetzten Antlitz der Riesenstadt und dem in Abendfrieden gebetteten Land!

Am nächsten Morgen passierten wir in Tempelhof die ausgebrannten Werke von Henschel und Siemens. Der Angriff war in den Körper Berlins wie ein Messer in eine Torte gefahren und hatte ein Dreieck herausgetrennt, dessen Spitze bis zum Bahnhof Zoo reichte.

Dort war der letzte Volltreffer in der Hardenbergstraße niedergegangen, hatte die Kommandantur zerstört, die Dächer der Musikhochschule abgeharkt und alle Fensterscheiben zertrümmert.

In den beiden folgenden Nächten gab es wieder Alarm. Kleinere Formationen von Moskito-Bombern warfen Bomben, die keine großen Schäden anrichteten, aber die Nerven der Bevölkerung strapazierten. In den 24 Stunden vorher betroffenen Vierteln befanden sich noch Hunderte von Ausgebombten auf der Straße, die aus Mangel an Fahrzeugen nicht abtransportiert werden konnten.

Auf den Gesichtern der Ärmsten stand die Angst vor einer weiteren Nacht, der sie schutzlos ausgesetzt sein würden. Die amtlichen Ziffern sprechen von 245 Toten, 2.000 Verletzten und 35.000, die ihre Wohnung verloren haben.

War das der Anfang vom Ende ?

Jeden bewegt die Frage, ob der Angriff von Montag der Anfang vom Ende bedeutet oder nur einen Schreckschuß, der den Berlinern die Macht der RAF zeigen sollte. Die Engländer geben die Zahl der angreifenden Flugzeuge mit 700 an.

Von uns wurden 400 festgestellt und 61 Abschüsse verzeichnet, von denen die Engländer 59 bestätigen. Auf unserer Seite wurden 300 Jäger eingesetzt, die zum Teil von weither abgezogen werden mußten.

Die Engländer berichteten, sie hätten den Angriff durch ein Pilotflugzeug gelenkt, das über der Stadt kreiste und den in sieben Wellen angreifenden Bombern über das Radiotelephon Befehle gab. Wie in Hamburg, wurde von den Engländern metallhaltiges Papier abgeworfen, um die Zielinstrumente der Flugabwehr (Anmerkung : das deutsche Radargerät Würzburg) zu stören.

Keine Sprachregelung für die Behandlung von Terrorangriffen

Eine Prognose für die nächsten Tage wagt niemand zu stellen. Presse und Heeresbericht erwähnen den Angriff nur am Rande. Die Sprachregelung für die Behandlung von Terrorangriffen ist nach wie vor uneinheitlich. So wurde gestern im Promi folgende Reuter-Meldung verboten: »Churchills Köchin läßt sich durch Bomben nicht aus der Ruhe bringen.«

Vor einigen Tagen erging sich der Reichspressechef Dietrich vor deutschen Schriftleitern in Ausfällen gegen die Italiener, denen er neunzig Prozent der Schuld an unseren militärischen Mißerfolgen zuschob. PK-Sonderführer Schrott wiederholte das vor der französischen Presse. Das Pariser Kommunique gelangte zur Kenntnis der Italiener, die sich sofort beschwerten.
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Montag, den 6. September 1943 - Erhebliche Zerstörungen diesmal ausserhalb Berlins

Wir erhalten die Schreckensnachricht, daß Freddy Horstmanns dreißig Kilometer vor Berlin gelegener Besitz Kerzendorf bei dem gestrigen Nachtangriff schwer beschädigt wurde.

Das kleine Gut mit einem von Knobelsdorff erbauten Schlößchen gehörte zu den hübschesten und kultiviertesten Landsitzen in der näheren Umgebung Berlins. Zuletzt von der Bankiersfamilie Schwabach bewohnt, gelangte es durch Heirat in den Besitz von Freddy Horstmann, der es zum Zentrum seiner Kunstsammlungen machte.

Während der Knobelsdorff-Bau unter Freddys sachverständiger Leitung einer Restaurierung unterzogen wurde, hatten sich die Horstmanns im »Cottage«, einer um die Jahrhundertwende entstandenen Villa im Park, vorläufig eingerichtet. Freddy glaubte hier seine herrlichen Möbel, Bilder, Bücher und Gobelins vor Luftangriffen gesichert.

Um so grausamer hat ihn die Katastrophe getroffen. Das Schlößchen, in dem die Handwerker noch tätig waren, brannte mit allen seinen Boiserieen und Panneaus aus, obwohl es nur von zwei Brandbomben getroffen wrorden war. Es gab jedoch niemand, der hätte löschen können. Außerdem fehlte es an Wasser. Nicht einmal das Safe, in dem wertvollstes sächsisches Porzellan aufbewahrt wurde, widerstand dem Feuer. Im gleichen Raum untergebrachtes Eingemachtes blieb dagegen unversehrt.

Zwischen Cottage und Pferdestall ging eine Brandbombe nieder und brachte das Cottage bis auf den Bibliotheksflügel zum Einsturz. Freddys Schlafzimmer blieb teilweise erhalten, aber die drei prachtvollen, mit Kostbarkeiten gefüllten Salons und die darüber liegenden Zimmer von Gloria und Lally sind ein einziger Trümmerhaufen.
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Keine Hilfe - auch nicht für honorige deutsche Halbjuden

Seitens der Behörden hat Freddy nicht die geringste Hilfe erhalten. Nicht einmal der Blindgänger wurde beseitigt. So machte ich mich mit drei serbischen Kriegsgefangenen an die Arbeit. Wir säuberten Freddys zum Teil erhaltenes Schlafzimmer und gruben unter ständiger Einsturzgefahr in den Resten von Lallys Schlafzimmer nach verlorenem Schmuck.

Zusammen mit Maria Dalen und Christa Tippelskirch, die zur Unterstützung aus Berlin gekommen waren, gelang es, Glorias Gardrobe fast unversehrt zu bergen. Nach fünfstündigem Suchen fanden wir im Geröll den Schmuck von Helene Biron. Alle Etuis waren aufgesprungen. Christa Tippelskirch fischte mit einer Kinderschaufel Edelstein für Edelstein aus dem Schutt.

Gegen Abend stießen wir auf einen Schrank, der Glorias und Mariettis Schmuck sowie die in Kerzendorf befindlichen Erstausgaben enthielt. An das zersplitterte Möbel zu gelangen, war sehr schwierig, weil es Teile des eingestürzten Daches abstützte. Gloria und Mariettis Schmuckschatullen konnten gesichert werden, ebenso ein Picasso, der Richard Kühlmann gehört.

Anderentags gelang es mir, von der Kommandantur Potsdam einen Offizier und zwanzig Mann zu bekommen, die heute mit den Aufräumungsarbeiten beginnen sollen. Im Pferdestall, in welchem Freddy das Mobiliar seiner Gesandtschaften in Brüssel und Lissabon gestapelt hatte, scheint einiges die Katastrophe überstanden zu haben. Kisten mit Augsburger Silber und Teilen des Meißner Schwanenservices balancieren in halsbrecherischen Lagen in der ersten Etage.

Das Ziel war das versteckte Rüstungswerk in Ludwigsfelde

Alle Güter und Dörfer in der Kerzendorfer Umgebung wurden schwer getroffen. Die Ernte ist teilweise verbrannt. Der Angriff richtete sich offensichtlich gegen ein im Wald von Ludwigsfelde verstecktes Rüstungswerk, das jedoch nicht entdeckt wurde und unbeschädigt blieb.

Das Kerzendorfer Idyll ist dahin, und Horstmanns bleiben auf ihre Wohnung am Berliner Steinplatz angewiesen, die sie nach der Vertreibung aus ihrem einer Behörde zugesprochenen Haus in der Tiergartenstraße kurz vor dem Kriege gemietet und mit großem Raffinement ausgestattet haben.

Berlins letzter Salon und die Horstmanns

Diese als »pied a terre« für Theaterabende in Berlin gedachte Bleibe ist zum letzen Salon Berlins geworden. Über seine Inhaber ließe sich ein Roman schreiben.

Freddy Horstmann erinnert an eine Gestalt aus der heroischen Epoche des amerikanischen Kapitalismus. Auf mächtigen Schultern ruht ein runder Kopf. Buschige, eisgraue Augenbrauen und ein gepflegter Seehundbart umrahmen ein Gesicht, das Intelligenz, Energie und Lebensfreude ausstrahlt. Alles in allem gleicht Freddy einem jener amerikanischen Millionäre, die während des Untergangs der »Titanic« ihre mit Diamanten und Chinchillas bedeckten Frauen in die Boote begleiteten und dann, eine Havanna rauchend, in den Ballsaal des Schiffes zurückkehrten, um bei den Klängen eines Walzers ihr Ende zu erwarten.

Lally ist mit einer wunderbaren Gestalt beschenkt. In ihrem von schwarzen Locken eingebetteten, schneeweißen Antlitz glänzen zwei von Nervosität und Geist sprühende Augen, deren Pupillen am Tage schrumpfen, um sich beim Aufflammen des ersten elektrischen Lichtes wie die Seher von Nachttieren zu weiten.

Die Blässe des Gesichts und die Laszivität des Mundes kontrastieren mit Zügen, die bisweilen negroid wirken, Um Jahrzehnte jünger als ihr Gatte, in den sie sich sechzehnjährig verliebte, hätte Lally Horstmann gut Freddys Tochter sein können. Sie ist es auch in dem Sinne, daß sie von ihm geformt, an seiner Seite ein unselbständiges Leben führt, das zu ihren eigenen Interessen in reizvollem Widerspruch steht.
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Über das Ehepaar Horstmann

Soziologisch entstammen die Horstmanns dem wilhelminischen Großbürgertum. Freddy kam aus Frankfurt, wo sein Vater als Verleger des »Frankfurter Generalanzeiger« seinen Kindern ein beträchtliches Vermögen hinterließ.

Lally ist die jüngste Tochter des Berliner Bankiers von Schwabach und seiner Frau aus der Hamburger Fatrizierfamilie Schroeder. Wie die Mendelssohns, Oppenheims, Weinbergs, Friedländer-Fulds, Bleichröders, Goldschmidt-Rothschilds, Rathenaus, Guggenheims, Hahns, Salomonsohns, Fürstenbergs, Klemperers und Guttmanns zählten die Schwabachs zu dem Kreis vornehmer jüdischer Familien, die in der liberalen Luft des Kaiserreichs Reichtum, sozialen Rang und aristokratischen Lebensstil erworben hatten. Wohlstand und Neigung führten Horstmann in die Diplomatie.

Als junger Attache stieß er in Paris, in der er in einem Team französischer Herzöge Polo spielen lernte, zur jeu-nesse d'oree Europas. Gegen Ende des Weltkrieges war er dem mit Friedensverhandlungen in Polen und Rumänien betrauten späteren Staatssekretär Richard von Kühlmann zugeteilt worden.

Den Höhepunkt seiner diplomatischen Karriere erreichte Horstmann als Gesandter in Brüssel und Lissabon, wo er als Gastgeber europäischen Ruf gewann. Als die Horstmanns sich einige Jahre vor dem Kriege in der Berliner Tiergartenstraße niederließen, wurden ihre Gesellschaften schnell berühmt. Wer gesellschaftlich aufsteigen wollte, suchte bei Horstmanns zu verkehren. Joachim von Ribbentrop gehörte dazu. Es sollte eine schicksalhafte Begegnung werden.
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Das Problem mit einer halbjüdischen Frau in der NS-Zeit

Als Außenminister war Ribbentrop am Ziel seiner Ambitionen und trug Horstmann die Leitung des Protokolls an, eine Stellung, für die Freddy prädestiniert war. Mit dem Angebot war jedoch inoffiziell eine Bedingung verknüpft, die Horstmann keinen Augenblick in Erwägung zu ziehen bereit war. Er sollte sich von seiner halbjüdischen Frau trennen. Er zog es vor, seinen Abschied zu nehmen, der ihn aus einer Karriere riß, die er über alles liebte.

Die Festigkeit seines Entschlusses erregte um so mehr Aufsehen, als Neider in Horstmann nur einen Genußmenschen hatten sehen wollen und seine Gelassenheit für Frivolität, seine Klugheit für Zynismus hielten.

Überdies lebte man in einer Zeit, die Loyalität nicht eben groß schrieb. Scheidungen, um Karriere zu machen, waren an der Tagesordnung. Im fünften Kriegsjahr bestand die innige Verbundenheit dieses glücklichen Ehepaares eine weitere Probe, als Ribbentrop Horstmann wissen ließ, er könne für die Sicherheit von Frau Horstmann nicht mehr einstehen, sei aber bereit, beiden die Ausreise nach Portugal zu ermöglichen.

Horstmann riet seiner Frau, das Angebot anzunehmen. Er selbst konnte sich zur Emigration nicht entschließen. Aber nun weigerte sich Lally, ihren Mann zu verlassen.
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Freddy Horstmann, der Meister der Beschränkung

Das Kerzendorfer Desaster verleiht dem pied ä terre am Steinplatz eine Bestimmung, die ihm nicht zugedacht war. Die Wohnung besteht nur aus drei nach der Straße gelegenen Räumen und einigen Hinterzimmern.

Horstmann, der Bewohner so vieler Paläste, zeigte sich nun als Meister der Beschränkung. Die Salons dienen dem Ehepaar auch als Schlafzimmer. Das Interieur erinnerte an ein Pariser Palais, mit Boiserieen verkleidete Wände, durch Rolladen abgeschirmte, von roten Damastvorhängen umrahmte Fenster, mit Wolkenfresken bemalte Decken umgeben ein klassisches Milieu der Grande Epoque, dem sich selbst das WC in der Hülle eines signierten Louis-Quinze-Fauteuil anpassen muß.

Eine Bronzebüste des Sonnenkönigs im Vestibül bedeutet den Gästen, wessen Geist in diesen Räumen regiert. Diener in blauen Fräcken und roten Westen geleiten die Ankömmlinge an die Schwelle der Empfangsräume, wo sie vom Hausherrn mit dem Ruf »Welche Freude« begrüßt werden.
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Freddy und sein "Personal"

Die Lösung der Personalfrage bereitet Freddy manches Kopfzerbrechen. Seine alten Diener wurden zur Polizei eingezogen, stellen aber ihre Freizeit ihrem früheren Herrn so oft wie möglich zur Verfügung. Lohndiener nimmt Freddy nur ungern ins Haus, nachdem der eine oder andere beim Horchen an einer Zimmertür ertappt wurde.

Obwohl Horstmann darauf sieht, daß seine Gäste keine politischen Unterhaltungen führen, halten sich nicht alle an diese Regel. Zumal für die ausländischen Diplomaten bildet die Kriegslage ein unerschöpfliches Thema, von dem sie sich nicht leicht abbringen lassen. Ein gefesselter Kosmopolit und leidender Patriot zugleich, bedrückt durch die Sorge um seine Frau, ist Freddy viel zu stolz, um Ausländern gegenüber ein Wort über deutsche Zustände zu verlieren.

Er offenbart sich nur unter vier Augen. Dann freilich kann er seine Tränen nicht immer zurückhalten. Nach Berlin versetzte Diplomaten haben meist eine Einführung zu Horstmanns und absolvieren dort einen Besuch, noch bevor sie dem Protokoll ihre Aufwartung machen oder dem Staatsoberhaupt ihre Beglaubigungen übergeben haben.

Obwohl es noch einige andere Berliner Häuser gibt, die Ausländer bei sich sehen, beurteilen die Diplomaten den gesellschaftlichen Rang ihrer Kollegen vor allem danach, ob sie bei Horstmanns verkehren.
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Man solle die Horstmanns meiden - so die Direktive "von oben"

Die Mitglieder des Auswärtigen Amtes sind angehalten worden, das Parterre am Steinplatz zu meiden, obschon sie dort die verlorengegangene Kunst - wie man empfängt - lernen könnten.

Aus Mangel an Zivilcourage kommen nicht wenige diesem Gebot nach - ein Verhalten, das Horstmann des Kontaktes mit seinen ehemaligen Mitarbeitern beraubt und ihn tief betrübt.

Horstmann nennt seine Wohnung gern eine »Abendschönheit«, weil sie bei künstlicher Beleuchtung besser zur Wirkung gelangt als bei Tage. Seine Tischdekorationen vor dem Kriege konnten als Kunstwerke gelten. So wurden Seerosen eine Stunde vor Beginn eines Diners im Buckower See geschnitten, im Auto nach Berlin geschafft und auf der Tafel mit Seerosen aus Berliner Porzellan ausgelegt.

Eine andere Dekoration bildeten Meißner Papageien, in deren Mitte eine vergoldete Voliere mit lebenden Kolibris angeordnet wurde. Das Mohrendiner gruppierte sich um schwarze Figurinen sächsischen Porzellans. Die Jahre nach dem ersten Weltkrieg, als fürstliche Sammlungen zur Versteigerung gelangten, hatte Horstmann zu umfangreichen Erwerbungen genutzt. Prachtvolles Vermeil, herrliches Augsburger Silber und Stücke des Meißner Schwanenservices, das für den Zaren gefertigt worden war, und von dem sich Doubletten im Pförtener Schloß des Grafen Brühl befinden, kamen in seinen Besitz. «

Die Abende im Hause Horstmann seien wie im Zirkus

Spötter vergleichen die Abende im Hause Horstmann mit einem Zirkus. Sie treffen ins Schwarze, sofern sie die Organisation meinen, ohne die ein Zirkus nicht auftreten kann. Im Zeitalter der Cocktailpartys huldigt Horstmann der reaktionären Auffassung, daß jeder Gast zum Gelingen einer gesellschaftlichen Veranstaltung seinen Beitrag zu leisten hat, und sei es nur dadurch, daß er das Interesse anderer Geladener erweckt.

Um bei Horstmann gebeten zu werden, muß man entweder intelligent sein oder vermögend, gut aussehen oder einen bekannten Namen tragen. Macht und Einfluß, gleich auf welchem Gebiet, sind willkommen. Wer nichts Derartiges aufzuweisen hat, darf nicht hoffen, eine Einladung zu erhalten. Innerhalb des Gästekreises wird jedoch niemand bevorzugt. Ein geistreicher Schriftsteller ist Horstmann so recht wie ein vertrottelter Prinz. Von Frauen verlangt er Anmut und gute Garderobe, aber keine hohe Abkunft. Wer sehr reich ist, darf auch dumm sein.

Neue Menschen zu »lancieren«, bereitet den Horstmanns die größte Freude. Helga Nehring, ein Geheimratstöchterlein aus dem Grunewald, fand so ihren Eingang in die Berliner Gesellschaft, der sie eine Folie klassischer Schönheit leiht.

Die Gräfin Gloria Fürstenberg, eine geborene Mexikanerin, dankt ihren Siegeszug durch Berlin dem Hause Horstmann, das ihrem geistsprühenden Temperament viele glänzende Auftritte ermöglichte. Die Kette dieser Entdeckungen reißt nie ab.

Im Kriege hat Freddy Zeit und Stil seiner Abendgesellschaften den Luftangriffen angepaßt. Das Krachen der Bomben, der Donner der am Tiergarten aufgestellten Flak lassen ihn ungerührt und entlocken ihm allenfalls einen Wink an die Diener, die Vorhänge fester zu zuziehen, um die Ohren der Gäste vor dem Lärm der Luftschlacht zu bewahren.

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