Tagesaktuelle Gedanken - Aufzeichnungen von 1943 bis 1945
Dieses Kriegs-Tagebuch gibt uns einen sehr nachdenklichen Eindruck von dem, das in den oberen Sphären der Politik und der Diplomatie gedacht wurde und bekannt war. In ganz vielen eupho- rischen Fernseh-Büchern, die bei uns vorliegen, wird das Fernsehen ab 1936 in den Mittelpunkt des Weltinteresses gestellt - und hier kommt es überhaupt nicht vor. Auch das Magnetophon kommt hier nicht vor. Alleine vom Radio wird öfter gesprochen. In den damaligen diplomatischen und höchsten politischen Kreisen hatten ganz andere Tagesthemen Vorrang. Und das kann man hier sehr authentisch nachlesen. Im übrigen ist es sehr ähnlich zu den wöchentlichen Berichten des Dr. Wagenführ in seinen Fernseh Informationen.
Diese Aufzeichnungen hier sind aber 1963 - also 20 Jahre danach - getextet worden und wir wissen nicht, ob einzelne Absätze nicht doch etwas aufgehübscht wurden. Auch wurde das Buch 1963 für die alte (Kriegs-) Generation geschrieben, die das alles noch erlebt hatte.
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Das VORWORT zu den Tagebuchseiten (von 1963)
Lawrence hat einmal gesagt, jeder Mensch führe - in Taten und Gedanken - ein Doppelleben. Beide seien wahr, nur den Tagebüchern dürfe man nicht glauben!
Wenn sich der Autor entschlossen hat, Beobachtungen zu veröffentlichen, die er 1943 bis 1945 aufzeichnete, so leiten ihn Gesichtspunkte, die zu unterdrücken er keinen Anlaß sieht. Einmal dürfte die Zahl derjenigen, die während dieser Zeit in der Lage waren, sich Notizen zu machen, sehr klein sein.
Zum anderen muß die Beurteilung einer Epoche nur auf Grund offizieller Dokumente zu Fehlschlüssen führen. Die Erforschung der Französischen Revolution und der Napolionischen Ära war zum Glück nicht nur auf das Studium der Staatsarchive und die Lebenserinnerungen des Kaisers angewiesen.
Sie konnte sich auch auf die Niederschriften von Zeitgenossen stützen, die beide überlebten und das zu Papier brachten, was ihnen merkwürdig erschien.
Oft sind es die scheinbar unwichtigen Begebenheiten, die das Bild der Geschichte abrunden und ihm die Züge einhauchen, die sich am längsten erhalten. Der Verfasser, 1907 geboren, erlebte den ersten Weltkrieg als Kind, den zweiten als Mann, der die Welt gründlich kennengelernt hatte.
Dieser Umstand trug ihm die Kriegsdienstverpflichtung im Auswärtigen Amt ein, dessen Informations- und Presseabteilung er mit einer kurzen Unterbrechung vom Herbst 1939 bis Kriegsende angehörte. Er war mit Aufgaben betraut, deren Natur seine umfassende Unterrichtung erforderten. So konnte er dem Kriegsgeschehen illusionslos folgen.
Die Abfassung eines kritischen Zeitdokurnents wäre ohne die Mitarbeit und Loyalität von Fräulein Gisela Albrecht, Sekretärin im Auswärtigen Amt, nicht möglich gewesen.
Sie fertigte die Niederschriften an und verschloß das nur in einem Exemplar geführte Tagebuch jeweils in dem für die Aufbewahrung von Geheimen Reichssachen bestimmten Panzerschrank, wo es vor Zugriffen sicher war.
Schlaitdorf (Württemberg), im Frühjahr 1963
Es geht los auf Seite 6 mit der militärischen Katastrophe :
Montag, der 1. Februar 1943 - Stalingrad ist zuende.
Der OKW-Bericht (Ober-Kommando der Wehrmacht) meldete das Ende von Stalingrad. Der Kapitulation der sechsten Armee gingen zahllose Gerüchte voraus. Fast jeder hat dort einen Angehörigen. Einige wollen Offiziere und Soldaten gesprochen haben, die noch vor wenigen Tagen im Kessel waren. Das Schicksal von Adam Baworowski, dem Tennismeister, von Ernix Studnitz, meinem Vetter, von Dressler, unserem Schulfreund aus Potsdam, und von vielen anderen, die wir kennen, ist ungewiß.
Das Volk nimmt die Hiobsbotschaft ruhig auf. Nur wenige vermögen die Bedeutung dieser Tragödie zu ermessen. Die Sprache der OKW-Berichte ist so knapp gehalten, daß nur Eingeweihte den Sinn ihrer Formulierungen erkennen. Auf den Parteidienststellen wird die Parole ausgegeben, daß man sich mit Stalingrad abfinden müsse.
Die Ersetzung von Raeder durch Dönitz hat in England Besorgnis ausgelöst. Die Ablösung Cavaileros durch Ambrosio geht auch uns an. Ambrosio steht dem Ciano-Kreis ferner, während Cavallero aufs engste mit ihm verbunden war.
Gestern erhielt ich den Orden von Isabella der Katholischen ausgehändigt. Die Auszeichnung galt dem Besuch, den ich vor zwei Jahren (1941) mit Schmidt der deutschen Buchausstellung in Madrid machte. Sie ist so unverdient, wie die meisten Orden. Doch gehört es zu den Eigenheiten des diplomatischen Lebens, daß man nur für Banalitäten dekoriert wird, während echte Leistungen nicht anerkannt oder einem anderen zugeschrieben werden.
Mittwoch, den 3, Februar 1943 - nochmal Stalingrad
Im OKW-Bericht heißt es heute:
»Das Opfer der Armee war nicht umsonst. Sie brach Wochen hindurch den Ansturm von sechs sowjetischen Armeen und gab damit der deutschen Führung Zeit und Möglichkeit zu Gegenmaßnahmen, von deren Durchführung das Schicksal der gesamten Ostfront abhängt.«
- Für drei Tage ist Landestrauer angeordnet worden. Auf die von den Russen angeführte Ziffer von 91.000 Gefangenen nimmt der OKW-Bericht nicht Bezug. Die Verheimlichung der Einzelheiten über Stalingrad muß die Bevölkerung der ausländischen Propaganda in die Arme treiben. Für die Angehörigen von rund 250.000 deutschen Soldaten handelt es sich darum, Näheres über das Schicksal ihrer Söhne, Väter und Brüder zu erfahren.
Nicht alle werden der Versuchung widerstehen können, sich diese Informationen aus dem feindlichen Rundfunk zu besorgen. Es wird höheren Ortes übersehen, daß die Bekanntgabe der von den Russen genannten Ziffern an deutschen Gefangenen beruhigend wirken würde. In den Augen des einfachen Mannes ist gefangen nicht gleichbedeutend mit tot, selbst dann nicht, wenn ihm wie oft erzählt wird, daß die Russen jeden Gefangenen umbringen.
Donnerstag, den 4. Februar 1943 - Erkenntnisse Bismarcks
In der »Frankfurter Zeitung« vom 1. Februar lese ich einen ausgezeichneten Artikel von Irene Seligo über den Beveridge-Plan. Gelänge es auch nur einer unserer diplomatischen Vertretungen, solches Material zusammenzutragen, es würde mit sieben Siegeln versehen und als Geheime Reichssache behandelt werden. Die paar guten deutschen Auslandsjournalisten, die es heute noch gibt, liefern Berichte, deren Niveau und Schlußfolgerungen brauchbarer sind als das meiste, was von den Auslandsmissionen kommt.
Die Bedeutung des Bismarckschen Wortes, nach dem man aus jedem Journalisten einen Staatssekretär machen kann, nicht aber aus jedem Staatssekretär einen Journalisten, ist mir nie so klar geworden, wie in den drei Jahren meiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt.
Seitdem ich mich im Auswärtigen Dienst befinde, entdecke ich, daß die meisten Journalisten geistige Riesen sind, verglichen mit den Leuten, mit denen ich es heute zu tun habe. Selbst von einem kleinen Umbruch-Redakteur werden mehr Kenntnisse, schnelleres und logischeres Denken verlangt, als von vielen höheren Beamten dieses Ministeriums. Der deutsche Journalismus hat zwar in den letzten Jahren ziemlich abgewirtschaftet. Aber noch immer verfügt er über eine Reihe bedeutender Köpfe. Die Auslandsberichterstattung der »Frankfurter Zeitung« ruht auf drei Säulen.
Irene Seligo berichtet aus Lissabon über die Entwicklung in England. Margret Boveri beobachtet von dort die Vereinigten Staaten, Lily Abegg folgt von Tokio aus den Ereignissen in Ostasien. Jede dieser drei Frauen ist eine hervorragende Kennerin ihres Sachgebietes.
Vor einigen Tagen aß Friedrich Sieburg bei uns, der bis zum Krieg Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« in Paris war. Sein Talent als Schriftsteller ist so groß wie seine Erzählergabe. Nach Kriegsausbruch wurde Sieburg zusammen mit Pückler von der »DAZ«, Wirsing von den »Münchner Neuesten Nachrichten« und mir in das Auswärtige Amt verpflichtet. Er erhielt den Titel eines Botschaftsrates und beobachtete zunächst von Brüssel aus die französische Situation. Später besuchte er Spanien und Portugal. Nach dem Waffenstillstand mit Frankreich wurde er der von Abetz übernommenen deutschen Botschaft in Paris zugeteilt, wo seine Aufgabe in der Fühlungnahme mit französischen Persönlichkeiten bestand.
Sein politischer Einfluß in Berlin blieb jedoch gering. Als er um Ablösung einkam, wollte man ihn nach China schicken, was er ablehnte. Jetzt ist es ihm gelungen, sich vom Auswärtigen Amt zu trennen. Er nimmt schon ab 1. Februar seine Tätigkeit bei der »Frankfurter Zeitung« wieder auf.
Seite 9 - Freitag, den 5. Februar 1943 - Schließung von Restaurants
Das für heute abend angesagte »Agathen-Essen«, das erst bei Horcher, dann im »Quartier Latin« geplant war, findet nicht statt. Die Regierung hat im Anschluß an die Stalingrad-Katastrophe die Schließung der letzten Berliner Luxusrestaurants verfügt.
Von der Maßnahme werden neben den beiden genannten Lokalen das »Neva Grill«, Peltzer's »Atelier« und das am Kurfürstendamm gelegene »Tuskulum« betroffen. Obschon die dort gebotenen kulinarischen Genüsse längst ihren Delikatessencharakter verloren hatten, waren diese Restaurants wegen ihrer gepflegten Räume und ihrer kultivierten Bedienung eine Zufluchtstätte geblieben. Auch konnte man dort gelegentlich ein markenfreies Stück Wild oder Geflügel verzehren. Die Weinkeller waren nicht so geplündert wie andernorts.
Um bei Horcher einen Tisch zu bekommen, mußte man sich tagelang vorher ansagen. Die Mehrzahl der Plätze war durch Behördenvertreter belegt. Bei Horcher aßen vor allem das Reichsluftfahrtministerium und die Luftfahrtindustrie, Diplomaten und Leute, die mit »Herr Generaldirektor« angeredet wurden. Ganz selten tauchte ein Gesicht aus der alten Gesellschaft auf.
Als Gastronom Görings war Horcher zum wichtigsten Restaurateur des Dritten Reiches aufgestiegen. Mit dem Arrangement von Staatsdiners beschäftigt, hatte er eine Einsatzreserve unter den Kellnern der Berliner Spitzenrestaurants gebildet, mit denen er anläßlich des Besuches des Prinzregenten Paul von Jugoslawien auch im Potsdamer Neuen Palais auftrat.
Nach der Eroberung halb Europas durch deutsche Truppen erweiterte sich Horchers Aufgabenkreis. Er übernahm vom Grafen Paly Palffy das Restaurant »Drei Husaren« in Wien, stieg bei »Maxim« in Paris ein und eröffnete Filialen in Oslo und Belgrad. Vor dem Kriege hatte er das deutsche Restaurant auf der Pariser Weltausstellung und später ein deutsches Lokal im Londoner Mayfair bewirtschaftet. Sein letztes Lokal machte er in Madrid auf.
So wird die folgende Geschichte erzählt:
Über Horchers Schließung in Berlin wird folgende Geschichte erzählt:
Auf Grund eines im »Reich« erschienenen Aufsatzes von Dr. Goebbels »Die Optik des Krieges« erhielt Horcher einen Anruf, daß er zumachen müsse.
Unter Vorsitz von Staatssekretär Gutterer fand am Tage darauf im Propagandaministerium eine Sitzung statt, auf der die letzten Maßnahmen, darunter die Schließung von Horcher, besprochen wurden. Es stellte sich heraus, daß niemand für Horchers Ende verantwortlich sein wollte.
Nach langem Suchen wurde ein untergordneter »Sachbearbeiter« des Ministeriums ausfindig gemacht, der sich zu der Anordnung bekannte. Als er gefragt wurde, mit welchem Recht er sie verfügt habe, gestand er, sein eigenes Gewissen habe ihn dazu getrieben. Dieser Vorgang gelangte zur Kenntnis des Adjutanten des Reichsmarschalls, General Bodenschatz, der sich ans Telefon hängte, um Rechenschaft zu fordern. Als der Referent sich abermals auf sein Gewissen berief, donnerte Bodenschatz: »Ich pfeife auf Ihr Gewissen, Herr Regierungsrat.«
Die Höllenmaschinen und der Graf
Als Veranstalter des »Agathen-Diners«, das alljährlich am Namenstag der heiligen Agathe abgehalten wurde, zeichnet Graf Hans Coudenhove-Kalergi, Sohn eine k. u. k. Botschafters und einer Japanerin, Majoratsherr auf Ronspergheim in Böhmen, älterer Bruder des Begründers der Paneuropa-Idee.
Angezogen von der Berliner Luft, bezog dieser reiche Aristokrat nach Kriegsausbruch Wohnung im »Kaiserhof«, wo er die Berliner Gesellschaft mit ihrem Anhang aus den Reichsministerien fürstlich traktierte. Er verschickte an jedermann Einladungen, der ihm interessant oder mächtig erschien, und erhielt nur wenige Körbe. Bald war sein Name in aller Munde, wozu seine seltsamen Streiche nicht wenig beitrugen.
Eines Tages umstellte die Polizei den »Kaiserhof«, in dem Adolf Hitler gelegentlich seinen Tee einnahm, um das Coudenhovesche Appartement zu durchsuchen, in dem zwei aus Böhmen eingetroffene Kisten Verdacht erweckt hatten. Sie sollten Höllenmaschinen enthalten. Als Pyrotechniker die Behälter öffneten, kam ein Meisterwerk sudetendeutscher Töpferei in Gestalt eines Kachelofens, den Reichsgrafen Coudenhove als Wärmespender darstellend, zum Vorschein. Die Gestapo hatte den Schaden und der Graf die Lacher auf seiner Seite.
Die Saalschlacht der Damen der hohen Gesellschaft
Schauplatz eines anderen Streiches wurde die von Coudenhove gemietete Wohnung des Rittmeisters Wickel am Lützow-Ufer. Der böhmische Graf gab dort einen Cocktail. Kaum hatten sich die Gäste an gutem Berliner Bier und aus Italien importiertem Wermut gelabt, als Coudenhove mit einem Koffer unter dem Arm den Versammelten mitteilte, er habe sich als Überraschung für die Damen ein Sortiment Pariser Parfüms, amerikanischer Strümpfe und englischer Seifen verschafft. Mit dem Ruf »Nehmen Sie sich, was Sie brauchen können« gab er den Koffer frei.
Im nächsten Augenblick verwandelte sich der Salon in eine Saalschlacht. Beamtenfrauen, Töchter hoher Ministerialen und Botschafterinnen fielen übereinander her, um sich den Schatz streitig zu machen. Besitzerinnen von Nerzmäntel wälzten sich am Boden. Krokodilslederne Handtaschen fanden als Schlagwaffe Verwendung, Pariser Hüte wurden zertreten, Regenschirme wirbelten durch die Luft, Strumpfmaschen liefen hoch. Schleier zerrissen und enthüllten Habgier, Kampfeslust und Tränen der Wut. Währenddessen genoß es der Urheber des höllischen Spektakels, das Gleichgewicht so vieler feiner Leute erschüttert zu haben.
Der rauhe Spaß erreichte seinen Höhepunkt, als eine brunhildenhafte Erscheinung, die sich die Taschen voller als irgendeine ihrer Rivalinnen gestopft hatte, die in ihrem abgelegten Pelz verstaute Beute, bestehend aus einer Halbliterflasche Chanel und mehreren Kistchen Arden-Creme, durch einen Ziegelstein ersetzt fand.
Die Wahrsagerinnen und der Agathen-Kult
Die Wohnung, in der sich diese Szenen abspielten, hatte Coudenhove in eine Art Schreckenskammer zu verwandeln gewußt. Von den Wänden blickten lebensgroße Porträts des Hausherrn. Sie zeigten den Grafen als Großmeister eines von ihm gestifteten Phantasieordens, als Europa auf dem Stier, als Schloßherrn im Smoking, den Blick auf eine Burgruine gerichtet, mit der reichberingten Hand einem Steinbock einen Champagnerkelch reichend, als Kardinal und als Judokämpfer.
Einige der Konterfeis hatten verstellbare Gesichter. Ein und das gleiche Bild blickte den Betrachter bald lächelnd, bald böse an. Manche der Gäste schrieben die veränderte Wirkung, die die Proträts des Hausherrn auf sie ausübten, den Einflüssen des Alkohols zu. Eine Rarität bildete der Abguß eine Fußes mit der Gravierung »Der rechte Fuß des Reichsgrafen von Coudenhove-Ronspergheim«. -
Coudenhove setzte viele der Wahrsagerinnen in Brot, die der Krieg nach Berlin geschwemmt hatte. Eine dieser weisen Frauen hatte ihm prophezeit, daß Trägerinnen des Namens Agathe auserwählt seien, ihm Glück zu bringen. Aus dieser Weissagung entstand der Agathen-Kult. Eine Heilige dieses Namens, die gefoltert ihre Brüste verloren hatte, inspirierte Coudenhove zu den tollsten Einfällen.
An ihrem Namenstag versammelte der Graf seine Freunde bei Horcher. Allen Damen mit diesem Vornamen überreichte Coudenhove Clips, deren in Brillanten gefaßte Korallen das Opfer der Märtyrerin symbolisierten, das auch in den silbergetriebenen Tafelaufsätzen Gestalt angenommen hatte. Die übrigen Gäste wurden mit Prunkmünzen beschenkt, die Coudenhove in der Gewandung eines römischen Imperators zeigten.
Seite 13 - Freitag, den 5. Februar 1943 - wenn die Italiener am Erfolg deutscher Kriegskunst zweifeln
Gestern abend aßen wir mit Lanza bei Ridomi. Diese beiden Diplomaten bilden das Gehirn der hiesigen italienischen Botschaft. Als Presseattache unterrichtet Ridomi den Botschafter über alles, was in Deutschland geschieht, vor allem über die Stimmung. Seine joviale Art und seine rundliche Erscheinung kommen ihm dabei so zustatten wie seine Beherrschung des Deutschen, das er als gebürtiger Trientiner mit leicht südöstlichem Akzent spricht. Ridomi bewegt sich mit großer Sicherheit in allen Gesellschaftsschichten. Er gilt für deutschfreundlich, wenngleich er, wie die meisten Italiener, zu persönlicher Empfindlichkeit neigt und sich seine Sympathien für Deutschland in letzter Zeit kaum vermehrt haben.
Bei Ridomi, wie bei anderen Italienern, macht sich mehr und mehr das Gefühl breit, daß Italien auf das falsche Pferd gesetzt hat. Die Mitglieder der hiesigen Botschaft sind von einem Unbehagen gegenüber der Zukunft erfüllt, was auf ihre Einstellung zu Deutschland drückt.
Lanza ist der begabteste von den zweiten Sekretären der Botschaft. Er war früher in Moskau und in London und kurz vor dem Krieg Generalkonsul in Tunis. Aus Turin stammend, mit einer attraktiven Mailänderin verheiratet, bewohnt er eine palaisartige Etage in der Großen Querallee, die der Gattin eines in Buenos Aires verstorbenen Berliner Arztes gehört. Der Salon der Wohnung wird durch ein Gemälde beherrscht, auf dem die Hausbesitzerin als Gestalt der griechischen Mythologie von einem Meergott geraubt wird.
Wir sprachen über die Reformen in der Roten Armee, die am 1. Februar durch den russischen Rundfunk verkündet wurden. Lanza hält die Wiedereinführung der Schulterstücke, die Ersetzung des Wortes »Kommandeur« durch »Offizier« und die damit verbundene Wiedererweckung der alten disziplinarischen Formen für eine der wichtigsten Maßnahmen seit Beginn der bolschewistischen Revolution. Er deutet diese Reformen als Rückkehr zu konservativen Lebensformen in der Sowjetunion.
Es sei nicht ausgeschlossen, daß das kommunistische Rußland sich nach dem Siege von Stalingrad auf seine nationale Mission besinne und den Gedanken an die Weltrevolution zurücktreten lasse.
Wenn ein Diplomat die Lage an der Ostfront für sehr ernst hält
Die Lage an der Ostfront hält Lanza nach den ihm vorliegenden Nachrichten für sehr ernst. Wenn er der Duce wäre, so würde er den Botschafter zum Führer schicken und ihn fragen lassen, über welche Kräfte er noch gebiete. Wenn Deutschland über keine Reserven verfüge, um im Frühjahr eine neue Offensive mit mehr Stoßkraft als im letzten Jahre aufzunehmen, so sei der Krieg verloren. Dieser Tatsache müßte man ins Auge sehen. Nur dann könne man für die Zukunft vorbauen.
So ernst die militärische Situation sei, so verkleinere sie nicht die politischen Perspektiven. Nach wie vor beständen für die Achse Möglichkeiten, den Krieg durch politische Manöver zu einem günstigen Abschluß zu bringen. Nachdem die militärischen Mittel erschöpft seien, müsse man mit den politischen kämpfen. Man könne dies um so leichter, als der Zusammenbruch nicht wie 1918 von innen kommen werde. Wenn eine Katastrophe eintrete, so, weil die deutschen Armeen im Felde geschlagen werden würden. Damit scheine hier niemand rechnen zu wollen.
Lanza bezweifle freilich die Fähigkeit unserer Leute, militärische Fehlschläge politisch wettzumachen. Er bemerkte weiter, es lägen den Italienern Nachrichten vor, daß die Russen die anglo-amerikanischen Waffensendungen bisher nicht verwendet hätten. Es scheine, daß sie das Material in einem rückwärtigen Heeresgebiet sammelten.
Die portugiesische Zeitung »Accao« schreibt in ihrer letzten Ausgabe, Großbritannien manövriere jetzt mit seiner traditionellen Geschicklichkeit, um den Krieg nicht zu verlieren, weder durch eine eigene Niederlage, noch durch einen Sieg der bolschewistischen Alliierten. Beide Möglichkeiten seien gleichwertige Kalamitäten.
Samstag, den 6. Februar 1943 - Regierungsumbildung in Rom
Das Ereignis des Tages ist die Kabinettsumbildung in Italien. Die Entlassung von Grandi und Bottai wird in den Schatten gestellt durch das Ausscheiden Cianos. Die Italiener geben die übliche Erklärung der »Wachablösung«.
Inoffiziell gibt es zwei Versionen. Nach der einen ist der Ciano-Kreis zum Duce in inneren Gegensatz geraten. Nach dem letzten Besuch Cianos im deutschen Hauptquartier soll dieser akut geworden sein. Man erzählt, daß Ciano den Auftrag gehabt habe, den Führer angesichts der festgefahrenen Lage im Osten zu überreden, eine Entscheidung im Mittelmeerraum zu suchen. Die Italiener wünschten eine defensive Kriegsführung im Osten und die Aufnahme einer Großoffensive im Mittelmeer, vor allem gegen Ägypten und in Tunis. Mit diesen Forderungen soll Ciano nicht durchgedrungen und unverrichteter Sache nach Rom zurückgekehrt sein.
Seitdem geben er und sein Kreis den Krieg für verloren und suchten, den Duce zu einer Änderung der italienischen Politik zu bestimmen. Als sich bald darauf die Lage in Südrußland verschlimmerte und dabei auch das italienische Expeditionskorps schwere Verluste erlitt, reichte der mit Ciano engstens befreundete Cavallero den Rücktritt ein. Der Wechsel im Oberkommando bildete die Ouvertüre zu der gestrigen Kabinettsumbildung.
Die andere Version will wissen, daß der Duce für Italien eine Krise auf Leben und Tod befürchte. Dieser Entwicklung vorbeugend, wollte er Ciano, den er als Gatten seiner Lieblingstochter höher stellt als seine eigenen Söhne, von jeder Verantwortlichkeit befreien, um Cianos und die Zukunft der Cianoschen Kinder nicht zu belasten. Bei Mussolinis Hang zum Nepotismus wäre es durchaus denkbar, daß er seinem Schwiegersohn vor der Niederlage Italiens einen Abgang zu ebnen sucht.
Die Gerüchteküche in Italien kocht
Was an diesen Gerüchten stimmt, ist schwer zu ermitteln. In der Geschichte des Faschismus sind plötzliche Kabinettsumbildungen üblich.
Während meines Aufenthaltes in Rom im Jahre 1935 entließ der Duce eines Abends 28 Minister und Staatssekretäre. Der Wechsel kam für die Beteiligten so plötzlich, daß sie ihn zum Teil erst aus den Morgenzeitungen erfuhren. Diesmal scheint es ähnlich gewesen zu sein.
Den Grafen Ciano lernte ich im Frühjahr 1941 während der Staatsakte in Wien anläßlich des Anschlusses von Bulgarien und Jugoslawien zum Dreimächtepakt kennen. Er stand damals im Zenit seiner Laufbahn. Hier war er immer umstritten. Seine jugendlich leichte Art stieß bei den schwerfälligen Deutschen auf Unverständnis. Es war ein offenes Geheimnis, daß Ribbentrop und Ciano nicht miteinander »konnten«. Das schloß nicht aus, daß man sich den Eigenarten des italienischen Außenministers, der als der engste Vertraute des Duce galt, anzupassen suchte.
Als Ciano im November 1941 in Berlin weilte, aß ich mit ihm in der Villa des italienischen Botschafters in Wannsee. Das Diner war auf 20 Uhr angesetzt. Die Verhandlungen zogen sich jedoch so hin, daß Ciano und Alfieri erst gegen 23 Uhr in Wannsee eintrafen, wo wir drei Stunden, immer hungriger werdend, nicht in bester Laune verwartet hatten.
Als Ciano erschien, schlug die Stimmung sofort um. Seine Liebenswürdigkeit eroberte ihm aller Herzen. Er gab sich so ganz anders, als die Menschen es hier von einem Staatswürdenträger gewöhnt sind. Seine sprühende Laune ließ den Abend trotz des verunglückten Anfangs zu einem vollen Erfolg werden.
Ein Vorurteil bestätigt sich
Gegen Mitternacht zog sich Ciano in einen benachbarten Salon zurück, wo er einzelnen Damen den Hof machte. Als ihm eine der bedrängten Schönen antwortete: »Mais, c'est impossible, Excellence«, antwortete er: »Impossible - c'est un mot, que n'existe pas dans la langue frangaise.«
An einem anderen Abend traf ich ihn im Hause des italienischen Botschaftssekretärs Casardi. Dort saß er, unbekümmert um die übrigen Gäste, mit einer Blondine auf dem äußersten Ende einer Ottomane und lauschte Mandolinenspielern, die napolitanische Liebeslieder vortrugen.
Von dem damals gerade in Berlin neu eingetroffenen spanischen Botschafter, Graf Mayalde, nahm Ciano so gut wie keine Notiz, was die anwesenden Spanier empörte. Mit den Damen der italienischen Botschaft stand der jugendliche Minister aufs beste. Es gab keine unter ihnen, der er nicht sein Proträt mit persönlicher Unterschrift vermacht hatte.
Über die politischen Leistungen von Ciano läßt sich noch kein Urteil fällen. Die Geschichtsforschung wird zu untersuchen haben, ob er an der Außenpolitik Mussolinis mit eigenen Gedanken beteiligt war. Sein größter Fehler war die ihm zugeschriebene verunglückte Kampagne gegen Griechenland. So katastrophal dieser Feldzug für Italien verlief, so brachte er den Faschisten doch die Herrschaft über Griechenland ein und gab den Anstoß zur Aufteilung Jugoslawiens, das Italien immer als Gegner betrachtet hatte.