H. von Studnitz schreibt über die Erfahrungen seines Lebens
Eine Ergänzung zum Thema : "Was ist Wahrheit ?" - 1974 hat Hans-Georg von Studnitz (geb. 1907) ein Buch über sein Leben geschrieben, aus dem ich hier wesentliche Absätze zitiere und referenziere. Es kommen eine Menge historischer Informationen vor, die heutzutage in 2018 wieder aktuell sind, zum Beispiel die ungelöste "Katalonien-Frage" aus 1936.
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Anfang 1935 - mein "Römisches Intermezzo"
Als mir Anfang 1935 der römische Korrespondentenposten übertragen wurde, stand Italien am Vorabend des abessinischen Krieges. Die Annäherung zwischen Berlin und Rom war schneller erfolgt, als man nach den Vorgängen in Österreich erwarten durfte, die 1934 das deutsch-italienische Verhältnis belastet hatten.
Noch im August des Jahres 1934, wenige Wochen nach der Ermordung von Dollfuß, nannte Mussolini, bei einer Begegnung mit Starhemberg in Ostia, Hitler einen gefährlichen Narren und grausamen Sadisten und bezeichnete den Nationalsozialismus als ein unmenschliches System, das das Ende der europäischen Zivilisation bedeuten werde.
Oktober 1935 - und schon wieder gab es Krieg
Am 7. Januar 1935 konnten sich Frankreich und Italien über Gebietskorrekturen in Libyen und Somaliland einigen. Laval wähnte Italien reif für eine antideutsche Koalition. Am 11. April 1935 fand in Stresa eine Zusammenkunft zwischen Mussolini, Laval und dem britischen Premierminister Macdonald statt. Auf dieser Konferenz war das Thema Afrika nicht zur Sprache gekommen. Gleichwohl gewann Mussolini den Eindruck eines stillschweigenden Einverständnisses der beiden Westmächte mit seinen afrikanischen Plänen.
Im Juni 1935 erschien Außenminister Sir Anthony Eden in Rom, um das Mißverständnis zu bereinigen. Die Engländer beriefen sich auf den Völkerbund, warnten die Italiener vor einem Abenteuer und schlugen vor, Mussolini möge sich mit der Abtretung der abessinischen Provinz Ogaden begnügen. Der Duce lehnte ab. Er wollte das ganze Land, mit Ausnahme vielleicht der Provinzen, die schon zu Zeiten Meneliks dem "Löwen von Juda" (der frühere äthiopische Kaiser Haile Selassie) botmäßig gewesen waren. Am 2. Oktober 1935 - »nach vierzig Jahren der Geduld« - erklärte Rom dem Negus den Krieg.
Zögern und Zaudern - damit kam die Stunde Hitlers
Die Frage, ob Großbritannien eingreifen würde, bewegte die Welt. Nichts dergleichen geschah. Die Engländer beschränkten sich auf eine drohende Haltung, und damit kam die Stunde Hitlers.
Mussolini hat einmal das Jahr 1936 als Geburtsstunde der Achse Berlin-Rom bezeichnet. Das Feuer, um sie zu schmieden, wurde 1935 angeblasen.
Und der Journalist mitten drin - nur keine Fehler machen
Die deutsche Berichterstattung mußte dieser Lage Rechnung tragen. Das war leichter gefordert als getan. Italienische Empfindlichkeiten sollten geschont werden, obschon die wirtschaftlichen und militärischen Schwächen des Landes nicht zu übersehen waren.
Der Faschismus hatte Italien vor dem Absinken ins Chaos bewahrt, den Charakter der Bevölkerung aber nicht zu ändern vermocht. Das Pathos eines Regimes, das sich auf die Römer als Zeugen einer imperialen Vergangenheit berief, entzündete Strohfeuer.
In der Einschätzung italienischer Realitäten waren sich die meisten deutschen Beobachter einig. Ihren Sympathien für Land und Leute tat dies sowenig Abbruch wie der Anerkennung der Leistung Mussolinis.
Ulrich v. Hassel - Chef der Deutschen Botschaft in Rom
An der Spitze der in der Villa Wolkonski, nicht weit vom Lateran, residierenden Deutschen Botschaft stand Ulrich v. Hassel, eine Persönlichkeit von edler Gesinnung, der sich ebenso wie seine Gemahlin, eine Tochter des Großadmirals v. Tirpitz, der Wertschätzung des Duce erfreute.
In seinem Stab verkörperte der Botschaftsrat Baron Hans von Plessen das Savoir-faire des alten Auswärtigen Amtes. In dem Presseattache Hans Mollier, der an der Piazza Farnese bezaubernd wohnte, stand Hassel ein Experte mit langjähriger Italienerfahrung zur Seite. Über den Prinzen Philipp von Hessen, der mit der Prinzessin Mafalda von Italien verheiratet war, besaß die Botschaft einen Draht zur königlichen Familie, deren Einfluß auf die italienische Politik größer war, als man in Berlin wahrhaben wollte.
Neben dran beim Vatikan war Diego von Bergen Botschafter
Auch die deutsche Vertretung beim Vatikan war mit dem Botschafter Diego von Bergen und dem Botschaftsrat Klee ausgezeichnet besetzt. Sie war in der Villa Bonaparte untergebracht, in der Napoleons Schwester Pauline Borghese gelebt hatte. Gegen jede Usance bemächtigten sich nach dem Kriege die Engländer der Villa Wolkonski, während die Franzosen, die im Palazzo Farnese ohnehin die schönste Botschaft in Rom besaßen, die Villa Bonaparte einsteckten.
Um die beiden deutschen Botschaften und um deutsche Institutionen in Rom wie die Villa Massimo, die Biblioteca Hertziana und das Archäologische Institut gruppierten sich viele Deutsche, die zu Wahlrömern geworden waren und über vielschichtige Beziehungen zu römischen Kreisen verfügten.
Zu ihnen gehörten der Archäologe Prof. Ludwig Curtius, der hin und wieder seine Freunde durch römische Altertümer führte, und der Publizist Philipp Hiltebrandt, der, mit einer Kusine Hermann Görings verheiratet, seit Jahren am Tiber lebte, als Nestor der deutschen Journalisten einem Stammtisch bei Tito Magri vorsaß und als einer der besten Kenner der lateinischen Psyche galt.
Bereits in Wien mit Empfehlungen für Rom eingedeckt
In Wien hatte ich mich mit Empfehlungen für Rom eindecken können, die mir das Einleben in die neuen Verhältnisse erleichterten. Ich besuchte Margherita Sarfatti, die einen politischen Salon führte und von der es hieß, daß sie eine Zeitlang Mussolini "nahe" stand.
Ich sah den frankophilen Publizisten Francesco Coppola, den früheren Unterrichtsminister Balbino Giuliano, den Senator Emilio Bodrero, den Philosophen Francesco Crestano, den Mathematiker Federico Enriques, den Rektor der römischen Universität Alfredo Rocco und den Wirtschaftler Alberto di Stefano.
Ich machte die Bekanntschaft der Journalisten Forges d'Avanzati und Gaida, von denen letzterer als Sprachrohr Mussolinis eine wichtige Stellung einnahm. Von den Größen des Regimes suchte ich Roberto Farinacci und Giuseppe Bottai auf. Einen Teil dieser Einführungen dankte ich dem Prinzen Karl Anton Rohan, dem sich als Gründer des Europäischen Kulturbundes alle Türen in Paris und Rom öffneten.
Bis jetzt noch kein Wort mit Mussolini gesprochen
Der Zentralfigur des politischen Geschehens in Rom, Benito Mussolini, bin ich während meines römischen Korrespondentenjahres nicht begegnet. Ich sollte dem Duce erst während des Krieges vorgestellt werden, als ich mit dem Chef der Presseabteilung im Auswärtigen Amt, dem Gesandten Dr. Paul Schmidt, in Rom, Madrid und Paris Besuche machte.
Im Halbdunkel seines riesigen Arbeitszimmers im Palazzo Venezia erinnerte an Mussolini nichts an den Volkstribunen und Diktator.
Er zeigte sich als ein äußerst gescheiter Mann, der die Kunst, sich knapp und präzise auszudrücken, vollendet beherrschte. Im Unterschied zu Hitler, der schwer zu durchschauen war, ging von Mussolini nichts Rätselhaftes aus.
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Italien - die Deutschen werden geachtet - aber nicht geliebt
Wie die meisten seiner Landsleute achtete er die Deutschen, ohne sie zu lieben. Die Ordnung, die er Italien aufgenötigt hatte, entsprach dem Volkscharakter nicht. Der Test, dem der Duce sein Volk im abessinischen Krieg unterwarf, war zweifellos das Äußerste, was den Italienern zugemutet werden konnte.
Das Risiko, das Mussolini dabei in Kauf nahm, war so waghalsig wie das Hitlers beim Handstreich auf Norwegen. Keiner der beiden Diktatoren besaß von maritimer Strategie eine Vorstellung. Hätte Mussolini sich 1940 auf eine bewaffnete Neutralität beschränkt, statt in zwölfter Stunde gegen Frankreich einzugreifen, der Zweite Weltkrieg würde das faschistische Regime vermutlich so intakt gelassen haben wie die Herrschaft Francos.
Statt dessen band Mussolini deutsche Kräfte erst auf dem Balkan, dann in Nordafrika und schließlich auf der Apenninhalbinsel. Die Verknüpfung des deutschen mit dem italienischen Schicksal hat sich immer wieder als Verhängnis erwiesen.
Die Botschafter Dino Alfieri und Filippo Anfuso
Während des Krieges stand ich mit den Mitgliedern der italienischen Botschaft in Berlin in enger Verbindung. Die Botschafter Dino Alfieri und Filippo Anfuso, die Sekretäre Alberico Casardi, Michele Lanza, Agostino Benazzo, den Marchese Valdetaro, den Grafen della Porta, den Presseattache Cristiano Ridomi, den Grafen Emo Capodilista sah ich häufig, ebenso den italienischen Außenminister Graf Galaezzo Ciano, wenn ihn der Weg nach Berlin führte.
Keiner von ihnen war ein Dummkopf. Ich bin vielen ungebildeten Italienern begegnet, aber es gab unter ihnen nicht einen einzigen, der sich nicht durch wache Intelligenz auszeichnete.
Die intelligenten Italiener glaubten den Deutschen nicht
Niemand von den als Diplomaten oder Journalisten in Berlin tätigen Italienern glaubte den deutschen Zusicherungen über das Bevorstehen des »Endsieges«. Illusionen waren ihre Sache nicht.
Und doch hatte Mussolini es verstanden, in diesem Volk von Zweiflern die Hoffnung zu wecken, der Faschismus werde Italien befähigen, die Rolle eines Fremdenverkehrslandes abzustreifen, aus dem Schatten der großen Mächte zu treten und mitzutun, wenn die angelsächsischen, germanischen und slawischen Nationen die Händel der Welt unter sich ausmachten.
Freilich mischte sich in die Nostalgie nach Ruhm und Größe eine tiefe Melancholie. Sie kam aus der Einsicht, daß die Italiener vom Faschismus überfordert wurden, daß ihnen die Natur die Eignung versagte zu vollenden, wozu man sie aufgerufen hatte: mitzuwirken an einer utopischen Renaissance des römischen Imperialismus.
Eigentlich waren die Italiener wie fast alle anderen auch
Waren die Italiener darum lächerlich? In meinen Augen sowenig wie die Engländer, die sich nach Liebe sehnen, ohne sie geben zu können, sowenig wie die Amerikaner, deren Technik ihr Bedürfnis nach Gemütlichkeit erstickt, sowenig wie die Franzosen, die zu Wagner wallfahren, um Romantik zu erleben.
Und die Spanier? - Plagt sie das Heimweh nach geschichtlicher Größe nicht so sehr, daß sie die Gegenwart darüber vergessen?
Die farbigen Völker? Warum greifen sie, die von der Natur mit so viel Anmut ausgestattet wurden, nach Attributen der Häßlichkeit wie Hornbrille und Büstenhaltern?
Schweigen wir über die Deutschen! Wollen sie nicht gerade das, wofür sie nicht taugen? Vollbringen sie nicht stets, was zu tun ihnen fernlag?
Italiener - ein Volk ohne Humor - mein Fehltritt
In Italien begegnete ich zum erstenmal einem Volk ohne Humor. Der Faschismus duldete nicht, daß die Italiener über sich und Ausländer über die Italiener lachten! Schon bald sollte ich ins römische Fettnäpfchen treten.
In der »Woche«2 schilderte ich, daß in Italien niemandem die gebratenen Tauben in den Mund flogen, daß Bauarbeiter an Regentagen ohne Lohn blieben und viele Werktätige auf ihr Frühstück verzichten müßten.
Über römische Geselligkeit schrieb ich: »Man findet sich in den schönsten, seidenbespannten Salons in einem musealen Milieu, unter festlich gekleideten, sich tödlich langweilenden Menschen, die mehr oder weniger uninteressiert ein riesiges Büffet betrachten, das auf drei Dutzend schwerer silberner Teller alte Leibnizkekse auftischt.«
Drei Wochen später wurde mir vom »II Popolo d'Italia« 3 vorgehalten, ich sei nie in Italien gewesen, und wenn ich es besucht hätte, sei mir kein Licht aufgegangen!
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Ebenso unerfreulich - die römischen Geheimpolizei
Ernster war ein Rencontre mit der römischen Geheimpolizei. Während eines Wochenendes in der Abruzzenstadt Aquila steckte mir im Waschraum meines Hotels ein für Abessinien eingezogener Südtiroler Soldat eine Ansichtskarte mit der Bitte zu, sie an seine in Charlottenburg lebende Braut zu befördern. Während des Abendessens erschien er nochmals an meinem Tisch, um mir an die gleiche Adressatin einen Brief zu übergeben. Bei dieser Szene wurden wir von italienischen Offizieren beobachtet.
Am anderen Tag überholte mich auf dem Rückweg nach Rom ein Kraftwagen und verstellte mir die Straße. Heraus sprangen vier Zivilisten, die ich für Räuber hielt, bis sie sich durch Blechmarken als Polizeiagenten auswiesen. Nachdem sie drohten, meine Frau und mich körperlich zu durchsuchen, rückte ich die Postkarte heraus, von deren harmlosen Text ich mich überzeugt hatte.
Hochbefriedigt zogen die Häscher ab. Ich öffnete nun den Brief, der Angaben enthielt, die dem Absender ein Verfahren wegen Verrat militärischer Geheimnisse eintragen konnten. Ich zerriß das Schreiben und verscharrte die Schnitzel im Straßengraben. Aber die Italiener schalteten schneller. In meiner römischen Pension erwartete mich ein Sicherheitsbeamter, verhaftete mich und brachte mich auf die Präfektur, auf der ich in Gegenwart eines Dolmetschers einem Verhör unterzogen wurde. Da man mir den Besitz des Briefes nicht nachweisen konnte, verlegte ich mich aufs Leugnen. Den Fragen mußte ich freilich entnehmen, daß der Soldat ein volles Geständnis zu Papier gebracht habe.
Der Präfekt, wütend, mich nicht überführen zu können, entließ mich mit dem Bescheid, ich würde wieder von ihm hören. Ich alarmierte nun die Botschaft, die den Fall als bedenklich ansah.
Mollier begab sich zum Innenminister und konnte gerade noch verhindern, daß ich ausgewiesen wurde. Wie in Wien folgte mir nun auch in Rom ein Schatten.
Eine keineswegs deutschfreundliche Stimmung in Italien
Die Episode war symptomatisch für die keineswegs deutschfreundliche Stimmung im Lande. Im »Berliner Lokalanzeiger« berichtete ich:
»Deutschland ist der Krieg, Frankreich der Frieden, Italiens Freundschaft hat keine Wahl - so schreibt die italienische Presse täglich, so reden die Rechtsanwälte, die Professoren, so redet der festgeschlossene Kreis von Intellektuellen, die aus Tradition schon immer franzosenfreundlich waren.«
Der Sommer 1935 war in Rom ungewöhnlich heiß
Die gespannte politische Atmosphäre beeinträchtigte unser Leben in Rom nicht. Wir wohnten im dritten Stock eines Mietshauses an der Via Porta Pinciana als Gäste einer Pension, die von Signora Gigliesi, der Frau eines verabschiedeten Offiziers, ausgezeichnet geführt wurde.
Die Vormittage vergingen mit Pressekonferenzen und Besuchen auf der Stampa Esteri, dem Treffpunkt der ausländischen Korrespondenten. Die Nachmittage verbrachten wir mit Anschauen römischer Sehenswürdigkeiten, mit Besuchen von Kirchen, Palästen und Museen, Grabmälern, Brunnen, Galerien und Gärten. Ein Jahr verging, und wir hatten noch längst nicht alles gesehen.
Spätherbst 1935 - Italien und die Abessinienkrise
Im Spätherbst 1935 trieb die Abessinienkrise ihrem Höhepunkt zu. Würde Großbritannien durch Sperrung des Suezkanals Mussolini den Seeweg nach Eritrea verlegen, wo die Offensive gegen das äthiopische Kaiserreich vorbereitet wurde? Rom verwandelte sich in eine brodelnde Gerüchteküche. Meldungen über die Mobilisierung der britischen Mittelmeerflotte machten die Runde.
Ich beschloß, in das Zentrum der britischen Mittelmeermacht vorzustoßen, und begab mich, ohne Rückfrage in Berlin zu halten, auf den Weg nach Malta. Den Postdampfer »The Knight of Malta« umhüllte die Nacht, als die Lichter der großen Seefestung auftauchten. Im Kielwasser konnten wir die Positionslaternen einer Zerstörerhalbflottille ausmachen. In den weiten Hafenbecken bot sich am anderen Morgen ein phantastisches Bild.
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Mein Abstecher nach Malta
Dort lagen die Flugzeugträger »Furious«, »Glorious« und »Eagle«, die Schlachtschiffe »Valiant« und »Royal Sovereign«, die den Rückhalt der »Mediterranean Division« der Royal Navy bildeten. Quer durch den Grand Harbour zog sich eine U-Bootsperre.
Drahtnetze verriegelten die Zufahrt zum Marsamuscetto Harbour, in welchem U-Boote und Zerstörer sich an ihren Bojen wiegten. Die Steilküste der Insel war mit Stacheldraht bewehrt. Die britische Mittelmeerflotte umfaßte damals zweihundert Kriegsschiffe, die von Admiral Sir William Fisher befehligt wurden.
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Auf Malta herrschte britisches Phlegma
Im Unterschied zum italienischen Festland, auf dem die Mobilmachung die Bevölkerung in einen dauernden Erregungszustand versetzt hatte, herrschte auf Malta britisches Phlegma. Die Engländer glaubten weder an Krieg, noch nahmen sie die Italiener als Gegner ernst.
Ich machte dem stellvertretenden Gouverneur Sir Harry Luke meine Aufwartung und begab mich in den Union-Club, der sich im Provence-Palast des Malteserordens eingerichtet hatte. Dort traf ich zahlreiche Notabeln, hohe Beamte und Offiziere. Einige von ihnen blätterten den Jahrgang 1914 von »The Times« durch, um festzustellen, wie es damals »los«gegangen war.
Englische "Normalitäten"
Premierminister von Malta war Lord Strickland, der als Gouverneur von Westaustralien, Tasmanien, New South Wales und der Leeward-Inseln auf eine große Karriere zurückblickte und sich nach La Valetta zurückgezogen hatte. Dort wurde er Haupt der englandfreundlichen Partei, die ihn zum Regierungschef wählte.
Seine Tochter, Miss Mabel Strickland, gab auf der Insel eine englische und eine maltesische Tageszeitung heraus. Sie lud mich in ihre Villa Bologna, wo ich Lord Louis und Lady Edwina Mountbatten kennenlernte. Lord Louis befehligte als Lieutenant Commander eine Zerstörergruppe. Bord an Bord mit seinem Kriegsschiff lag die Mountbattensche Jacht. Auf ihr gab es Stallungen für Polopferde, die Mountbatten auf alle Kommandos begleiteten. Nach einem Drink empfahl sich Mountbatten, um auf dem Poloplatz ein Match gegen die Armee auszutragen.
Der damals 35jährige Prinz Mountbatten
Flakgeschütze umstellten den Sportclub, wo das Spiel stattfand. Zwischen Grooms und Ponnies patrouillierten mit geschultertem Gewehr Grenadiere des Regiments »Duke of Wellington«. Der damals fünfunddreißig jährige Mountbatten war einer der schönsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Hochgewachsen, von blendender Gestalt, mit veilchenblauen Augen in einem klassisch geschnittenen Gesicht, glich er einem griechischen Gott.
Jeder Zoll ein Prinz, der er bis zur Anglisierung seines einem morganatischen Zweig des Hauses Hessen entstammenden Vaters gewesen war, hatte er sich mit Edwina Ashley, einer Tochter Lord Mount Temples und Enkelin des aus Frankfurt stammenden Bankiers Sir Ernest Cassel, eines engen Freundes Eduards VII., vermählt.
Immens reich, fröhlich und in höchstem Maße attraktiv, war Lady Edwina Mountbatten eine der gefeiertsten Frauen im Vorkriegsengland. Niemand ahnte, daß diesem märchenhaften Paar nach dem Kriege eine weltpolitische Rolle zufallen sollte.
Die Labour-Regierung wählte den Großadmiral, Kriegshelden und nahen Verwandten des Königshauses Earl Mountbatten of Burma als Vize-König, um die Abdankung Großbritanniens in Indien zu vollziehen.
Schwelgen in alten Zeiten - der Anfang des Untergangs
Im Regierungspalast von Malta entdeckte ich die Inschrift: »Die Liebe der Malteser und die Stimme Europas bestätigen den Übergang dieses Eilandes an das große und unbesiegbare Britannien.« Das war 1814.
Im Herbst 1935 wurde auf Malta der Untergang des britischen Weltreiches eingeleitet. Das Geschwader im Hafen von La Valetta blieb zur Untätigkeit verurteilt. Die italienischen Transporter beförderten ungehindert Truppen und Material durch den Suezkanal nach Ostafrika. Mussolini gelangte ans Ziel, Hitler registrierte die Schwäche der Westmächte.
Auf Malta belebte sich meine Anglophilie, die ich als Sohn einer Hamburgerin mit der Muttermilch eingesogen hatte und die der jahrelange Aufenthalt in lateinischen Ländern nur zeitweise hatte überdecken können.
Das Schiff, das mich nach La Valetta brachte, erschien mir wie ein Mikrokosmos des britischen Weltreiches. Das Essen schmeckte so englisch, daß man das Mittelmeer darüber vergessen konnte.
Tomatensuppe, gedünstete Tomaten, Tomatensalat, Tomaten-Ketchup, Fisch, Ente, ein undefinierbares Gallert, ein kaum als solcher erkennbarer Kaffee, »Pearson Blue Label-Ale«, drei Sorten Mineralwasser, Whisky, Virginia-Zigaretten. Keine Spaghetti, kein Vermouth, kein Pernod, nicht die geringste Konzession an den Geschmack der Reisenden, die in der Mehrzahl maltesische und sizilianische Geschäftsleute waren.
Die Besatzung Malteser - die Offiziere Engländer
Die Besatzung Malteser. Abenteuerlich aussehende Burschen mit Tätowierungen auf Brust und Armen. Über ihnen Engländer, Kapitän, Erster Offizier, Erster Ingenieur, Bootsmann. Wortkarg, die Pfeife zwischen den Lippen, fuhren sie als Fährleute auf dem Hades, der das britische Weltreich vom Rest der Erde schied.
Namenlose Träger einer weltumspannenden Eroberung, in Glasgow oder in Birmingham zu Hause, immer im Dienst, zwischen Kalkutta und Newport, zwischen Punta Arenas und den Falklandinseln, im Gelben Meer, in der Südsee, im Atlantik, wo immer Royal-Mail-Schiffe den Union-Jack hißten.
Was bedeutete die britische Herrschaft ohne diese stillen, anspruchslosen Männer, die für den Zusammenhalt des Empire unersetzlicher waren als die Herzöge und Lords, die Bankiers und Admirale, über die ständig in den Zeitungen berichtet wurde! Von ihnen sprach niemand. Wie mochte es in ihnen aussehen? Wie meisterten sie das Heimweh, die Sorge um die Treue der Frau, um das Fortkommen der Kinder? Ich bin diesen imperialen Termiten immer wieder begegnet, an den Küsten und in den Häfen. In ihrer Schlichtheit, ihrer Loyalität, ihrem Pflichtbewußtsein sprachen sie den Preußen in mir an.
Heute würde man es "ein Netzwerk knüpfen" nennen
Wo immer ich mich aufhielt, bemühte ich mich, Fäden zu knüpfen, die mir neue Verbindungen erschlossen. Ich träumte von einer Weltreise, auf der ich alle Länder aufsuchen wollte, die ich noch nicht gesehen hatte.
Die Scherl-Redaktionen erklärten sich einverstanden, vorausgesetzt, sie konnten einen zweiten Kostenträger gewinnen.
Er bot sich in der "UFA" an, die mir ihren Regisseur Dr. Martin Rikli attachieren wollte, um einen Film über die Reise zu machen. Die Redaktionen hatten sich daran gewöhnt, daß ich ihnen Interviews mit Regierungschefs brachte und über Audienzen bei Staatsoberhäuptern berichtete. Wie ich das zuwege brachte, kümmerte sie nicht.
So nutzte ich die Tage in Malta, um mir weitere Einführungen zu besorgen. Der stellvertretende Gouverneur gab mir Briefe an den Hochkommissar für Palästina, an die Chefs der Justizverwaltungen auf den Bahamas und den Fidschi-Inseln, an die Korrespondenten von Reuter und der »Times« in Kairo. Sie trugen das Datum des 9. März 1935 und steckten in Umschlägen mit der Aufschrift »On His Majestys Service«. Ihr Trauerrand erinnerte an das Ableben Georgs V.
Das Netzwerk hatte funktioniert, aber erst nach dem April 1945
Der Spanische Bürgerkrieg zerschlug den Weltreiseplan. Aber die Briefe waren nicht umsonst geschrieben. Sie leisteten mir einen wertvollen Dienst, als sie 1945 in die Hände des britischen Intelligence Service fielen, auf dessen Veranlassung ich am Tage vor Heiligabend verhaftet und in Gefangenschaft geführt wurde. Sie wiesen mich bei den Verhören als einen Deutschen aus, der 1935 das Vertrauen britischer Stellen genossen hatte. Nach meiner Entlassung erhielt ich die niemals an den Mann gebrachten Introduktionen mit allen meinen Korrespondenzen zurück. Nur zwei Schreiben fehlten. Eines stammte von Wilhelm II, das andere von Mahatma Gandhi.
Ein Abstecher in die Geschichte des Hauses Studnitz
In der langen Geschichte meiner Familie war ich der zweite, der den Boden Maltas betrat. Das Glück war mir dort holder als meinem Vorfahren Hans Studnitz, der sich am 29. April 1617 in Begleitung des Grafen Erbach und der Herren v. Neipperg, v. Starschedel, v. Kottwitz, v. Meissenbuch und Diede zu Fürstenstein in Neapel eingeschifft hatte, um das Leben der Johanniterritter auf Malta kennenzulernen.
Auf der Rückfahrt geriet die um einen freigekauften maurischen Galeerensklaven verstärkte Reisegesellschaft unter Korsaren. Fünf von ihnen schlug Studnitz die Köpfe ab, ohne verhindern zu können, daß einige seiner Kameraden getötet, andere schwer verletzt wurden. Am Ende geriet Studnitz mit den Überlebenden in die Hand des Bey von Tunis, der ihn nach 14 Monaten Kerker gegen ein hohes Lösegeld freiließ.
Er verstarb 1657. Die Geschichte dieses Abenteuers schrieb Emil Kraus nieder. Die Prinzessin Henry von Battenberg, eine Verwandte des Lord Louis Mountbatten, den ich in Malta getroffen hatte, übersetzte sie ins Englische und 1891 erschien sie in London. (Beatrice, Princess of Battenberg: The Advenrares of Counr George Albert of Erbach. London 1891: John Murray, Albemarle Street.) Graf Hans Coudenhove-Ronspergheim, der sich für alles Absonderliche interessierte, fand sie nach dem Kriege bei einem Stuttgarter Antiquar und schenkte sie mir.
Ende der 1960er Jahre sah ich Malta wieder.
Großbritannien war dort nur noch präsent mit einer Staffel der Royal Air Force und einer Kompanie Infanteristen, die Funk- und Radaranlagen der NATO bewachten. Häfen und Docks lagen verwaist, die Werftarbeiter waren nach Australien ausgewandert oder arbeitslos.
Englisch blieben nur die von britischen Touristen lebenden Hotels und Andenkenläden. Auf der Reede von La Valetta ankerten russische Fischkutter, die sich mit Verpflegung und Treibstoff eindeckten. Im Vakuum, das sich durch den Zerfall des britischen Weltreichs auftat, treibt die alte Seefestung wie ein Raumschiff, das den Kontakt mit der Erde verloren hat.
1935 - Meine Berichte aus Malta waren in Berlin die Knüller
Am 4. und 5. Oktober 1935 veröffentlichte die »Berliner illustrierte Nachtausgabe« meine Berichte aus Malta in großer Aufmachung. Ich hatte einen »Knüller« geliefert. Statt einer Anerkennung wurde ich von der Verlagsleitung für mein eigenmächtiges Handeln gerüffelt. Einen Prinzen von Homburg machte man jedoch nicht aus mir.
Ich steckte den Tadel gern ein. Mit der Malta-Story hatte ich mich journalistisch freigeschwommen. Ich war nun ein Star-Reporter, dem man einiges zutrauen durfte. Die Gelegenheit kam bald. Im Juli 1936 entsandte mich Scherl als Berichterstatter in den Spanischen Bürgerkrieg.