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H. von Studnitz schreibt über die Erfahrungen seines Lebens

Eine Ergänzung zum Thema : "Was ist Wahrheit ?" - 1974 hat Hans-Georg von Studnitz (geb. 1907) ein Buch über sein Leben geschrieben, aus dem ich hier wesentliche Absätze zitiere und referenziere. Es kommen eine Menge historischer Informationen vor, die heutzutage in 2018 wieder aktuell sind, zum Beispiel die ungelöste "Katalonien-Frage" aus 1936.

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Erstaunlich, wofür ein Irrtum gut sein konnte

Der Irrtum mit der Hausnummer legte das Fundament zu meiner gesellschaftlichen Stellung unter den oberen Tausend der Metropole. Im Hause Rockefeller hatte, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft gab, das Auge der »social secretary« auf mir geruht, der die großen New Yorker Familien die Organisation von Festlichkeiten für ihre heiratsfähigen Töchter anvertrauten.

Auch in den USA mußten die Töchter verheiratet werden

Diese Dame kannte alle jungen Mädchen, die auf den »Markt« kamen, und führte Buch über alle jungen Leute, die als Tänzer rekrutiert werden konnten. Wer auf ihre Liste kam, hatte für den Ballwinter ausgesorgt. Dabei spielte es keine Rolle, ob man den Gastgebern persönlich bekannt war.

Die Debütantenbälle, zu denen wenigstens 300 junge Leute eingeladen wurden, fanden in Hotels wie dem »Plaza«, dem »Ritz« und dem »Waldorf« oder in eleganten Restaurants wie »Pierre« statt. Der Aufwand war außerordentlich. Mitten im Januar waren die Wände der Ballräume mit Spalieren verkleidet, in denen Tausende von Marechal-Niel-Rosen blühten.

Musik und Alkohol in großen Mengen

Ungeachtet der damals herrschenden Prohibition alkoholischer Getränke, wurden Hunderte von Flaschen besten Champagners ausgeschenkt. Vier Kapellen, die sich auf Foxtrott, Walzer, Tango und Charleston spezialisierten, spielten auf. Pausen gab es nicht.
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Die Unsitte des »cutting in«

Neu war mir die Unsitte des »cutting in«, die damenlosen Kavalieren gestattete, durch Berühren der Schulter einem Tänzer seine Partnerin zu entführen, um selbst mit ihr zu tanzen. Wer dieser Aufforderung nicht unverzüglich nachkam, machte sich unmöglich.

So wechselten attraktive junge Dinger alle Augenblicke ihren Tanzpartner, während man weniger anziehende Mädchen nicht mehr los wurde. Nur wenn es einem gelang, die Schöne zum Einnehmen des Soupers auf die große Treppe zu locken, konnte man vor Störungen sicher sein.

Obligatorisch war, daß man der Gastgeberin vor oder nach dem Ball Blumen schickte. Oft genug mußte ich auf meinen Lunch verzichten, um bei diesen Gewohnheiten mithalten zu können.

Viele besondere Regeln waren zu beachten

Fand man Gnade vor den Augen einer Debütantin, so erwartete sie, daß man sie nach Hause brachte. Das Aufsuchen von Nachtlokalen in Begleitung von Backfischen war damals noch nicht üblich.

Dieser Brauch blieb jungen Ehepaaren vorbehalten, die wiederum auf Debütantenfesten nicht eingeladen zu werden pflegten. Im Taxi erwartete die junge Dame eine Steigerung der im Ballsaal ausgetauschten Sympathiebeweise. Entzog man sich dieser Pflicht, so ergriffen auch scheue Mädchen die Initiative.

Traf man sich anderentags wieder, so gab die Maid durch nichts zu erkennen, daß sie sich der Freuden auf der Heimfahrt erinnerte.
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Geldheiraten arrangieren zu unterschiedlichen "Kursen"

Verlöbnisse wurden am Ende der Saison bekanntgegeben. Geldheiraten gehörten zu den Seltenheiten, es sei denn, daß ehrgeizige Mütter es darauf anlegten, ihre Töchter titulierten Europäern zu vermählen. Diese wurden zu unterschiedlichen Kursen gehandelt.
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Ein englischer Herzog beanspruchte eine doppelt so hohe Mitgift wie ein französischer Marquis oder ein deutscher Graf. Am billigsten waren italienische Nobili zu haben. Im übrigen legten gerade die Töchter reicher Leute Wert auf Liebesheiraten. Da sie anders als in Europa mit keinem Zuschuß rechnen konnten, sondern allenfalls erbten, gelang ihnen dies auch.

Die Rangordnung der höheren Gesellschaften

In der New Yorker Gesellschaft nahmen die Abkömmlinge niederländischer Familien wie der Vanderbilt und van Rensselaer den höchsten Rang ein. In der Metropolitan-Oper stellte die Oligarchie ihren Reichtum zur Schau.

Der hufeisenförmige Ring der Parkettlogen, der den großen Sippen reserviert blieb, hieß im Volksmund »diamond horse shoe«. Die Logen füllten sich während der zweiten Hälfte des ersten Aktes und leerten sich, sobald der letzte Akt begonnen hatte.

Glanzpunkt des Abends war die große Pause. Soweit sie nicht in ihren Logen das Souper einnahmen, paradierten die Milliardäre mit ihren Damen im Foyer. Für Parkett und untere Ränge war Frack vorgeschrieben, nur einmal in der Woche wurde Smoking geduldet.

Die An- und Abfahrt der Oligarchen sicherte ein riesiges Polizeiaufgebot, obschon niemand damals auf den Gedanken gekommen wäre, einen Millionär zu entführen. Die Kriminellen der späten zwanziger Jahre hätten sich nicht so weit vergessen. Auch sie beobachteten Konventionen, die selten verletzt wurden.

Nach dem Krieg wurde die "Met" wieder normal

Nach dem Kriege hat die »Met« ihre gesellschaftsprägende Kraft nicht mehr zurückgewonnen. Als ich sie wieder aufsuchte, geriet ich unter ein Publikum, das sich von dem eines Kinos wenig unterschied. Im Trenchcoat, den Hut auf dem Kopf, Gummi kauend und Eis lutschend, verfolgte das Auditorium eine Aufführung der »Meistersinger«.

Dies besserte sich erst, als die »Met« in ein neues Gehäuse im oberen Manhattan übersiedelte. Der alte Glanz blieb freilich auch dort aus. Verschämte Armut und zur Schau gestellter Reichtum haben ihre Rollen vertauscht.

Blue Jeans haben den Abendanzug, Hirtenpelze den Nerz verdrängt. Das Ideal ist nicht mehr der tadellos gekleidete Gentleman, sondern der verlauste Muschik. Wer Geld hat, fürchtet sich, es zu zeigen, wer keines hat, protzt mit seiner Schäbigkeit.

Die Auswüchse der Prohibition in den oberen Kreisen

Die Prohibition brachte die Cocktailparties erst recht in Schwung. Geschmuggelter oder selbstgebrauter Alkohol wurde überall kredenzt, mitunter in Tee- und Kaffeetassen. Was einem vorgesetzt wurde, ließ sich nicht immer ausmachen.

Wer »moonshine liquor« kostete, konnte von Glück sagen, wenn er mit Kopfweh davonkam. Andere bekamen Magenkrämpfe, fielen in Ohnmacht oder erblindeten. Trotzdem galt die Ablehnung eines »drink« als schwere Beleidigung. Der Gastgeber wertete sie als Mißtrauensvotum in die Ehrlichkeit seines Bemühens, den Gästen das Beste anzubieten.

Ein Freund Namens Leo Fürstenberg

Unter den Freunden, die ich in New York gewann, war Leo Fürstenberg die eindrucksvollste Erscheinung. Aus einer in Oberschlesien angesessenen Familie, war er nach New York gekommen, um sein Glück in der Neuen Welt zu machen.

Unvermeidliche Rückschläge ertrug er mit stoischer Gelassenheit. Eine Woche bewohnte er ein Appartement in der Park Avenue, in der nächsten schlief er auf einer Bank im Central Park. Der Kampf um einen guten Job ließ ihn nicht aus den Klauen. Ein unbequemer Untergebener, stand ihm übermäßige Intelligenz so im Wege wie Mangel an Ehrgeiz.

Schließlich wurde er als Investment-Broker in der Maklerfirma H. Bouvier & Co. tätig, die dem Vater der späteren Jacqueline Kennedy gehörte. Mehrmals in der Woche holte Jackie ihren Daddy ab und verkürzte sich die Wartezeit bei einem »drink« in Leo Fürstenbergs Zimmer.

Als Kennedy Präsident wurde

Als Kennedy Präsident wurde, beeilte sich die britische Regierung, Sir David Ormsby-Gore zum Botschafter in Washington zu ernennen. Seine Qualifikation bestand darin, mit dem Präsidenten in Oxford studiert zu haben.

Die Spekulation ging auf, Sir David, der spätere Lord Harlech, wurde vom Kennedy-Clan mit offenen Armen aufgenommen und gehörte bald zum inneren Kreise des Weißen Hauses. An Leo Fürstenberg dachte in Bonn niemand. Er wurde als Botschafter in Manila verbraucht, wo er sich eine große Stellung machte. Ich habe selten einen Menschen getroffen, der sich durch größere Unabhängigkeit auszeichnete.

Eines Tages erreichte ihn in New York der Brief einer immens wohlhabenden Tante, die ihn adoptieren und zum Erben ihrer Güter in Polen und Schlesien einsetzen wollte. Obschon Fürstenberg verschuldet war und an manchen Tagen sein Essen nicht zahlen konnte, lehnte er das verlockende Angebot ab. Seine Freiheit stand ihm höher.

Dann doch eine späte Karriere

1945 treckte er mit seiner Familie aus der Mark nach Holstein, wo er in Nehmten beim Grafen Plessen in einem Backofen unterkam. Er bewohnte dieses am Ufer des Plöner Sees gelegene Bauwerk, bis ihn die Engländer in die Zweizonenverwaltung beriefen. Später übernahm ihn das Auswärtige Amt als Leiter der Wirtschaftsabteilung beim Generalkonsulat in Chicago.

Verborgenes Spießertum und provinzielle Enge in USA

In Chicago, Philadelphia und Boston setzte ich meine Ausbildung fort. Hinter der weltstädtischen Aufmachung dieser Zentren verbargen sich Spießertum und provinzielle Enge.

Ich lernte, daß New York nicht für Amerika genommen werden darf. Dabei hatte sich Boston viel vom Charme der frühen englischen Kolonisierung bewahrt. Philadelphia umgaben Landsitze von ungewöhnlicher Schönheit, Chicago war am Lake Michigan prachtvoll gelegen.

Dort wohnte ich im Allerton-House in einem winzigen Raum, in dem das Bett aus der Wand sprang und die Waschräume mit Farbigen aus aller Welt geteilt wurden. Im Goldenen Westen kam ich mit einer phäakischen Zivilisation in Berührung, wie ich sie nur noch an den australischen Küsten um Sydney, Brisbane und Melbourne wiederfinden sollte.

Los Angeles, eine Stadt, in der man nicht mehr zu Fuß gehen konnte, nahm das 21. Jahrhundert vorweg. In San Francisco milderten Spanier und Chinesen den brutalen Stil der Erwerbsgesellschaft. In Kalifornien hatten weder Liebe noch Tod ihren Platz.

Spätherbst 1929 - auf dem Weg zurück nach Deutschland

Auf der Rückkehr von den Staaten verließ ich in Cherbourg das Schiff, hielt mich einige Tage in Paris auf und fuhr in die Champagne, um bei Busancy das Grab meines 1918 gefallenen Vaters aufzusuchen. Es war im Spätherbst 1929.

Der Krieg lag erst zehn Jahre zurück, und die Stimmung in der französischen Provinz war nicht gerade deutschfreundlich. Als ich in den frühen Abendstunden im Hotel Thierard, einem Gasthof in Vouziers, abstieg, schlug mir eine frostige Atmosphäre entgegen.

Der Ort war im Kriege vernichtet und unansehnlich wiederaufgebaut worden. Wie die Deutschen nach 1945, hatten die Franzosen nach 1918 die säkulare Chance versäumt, die Architektur zerstörter Siedlungen von den Scheußlichkeiten des 19. Jahrhunderts zu säubern. Sie hatten sie entweder restauriert oder, wie in Deutschland, durch funktionale Bauten ersetzt, deren Häßlichkeit selbst die Stilbrüche der Jahrzehnte vor dem Kriege adelte.

Kein Glück in Hamburg

Das Glück ließ mich auch fürderhin im Stich. In Hamburg wußte die Hapag wenig mit mir anzufangen. Man scheute sich, einem Protektionskind des Aufsichtsratsvorsitzenden Einblick in das Management zu geben. So wurde ich nach Berlin abgeschoben und Kapitän Henning von Meibom zugeteilt, der die Behördenvertretung der Hapag in der Reichshauptstadt führte.

Sie domizilierte in den hinteren Räumen des Reisebüros, das die
Hapag Unter den Linden, unmittelbar neben der Russischen Botschaft unterhielt. Alle paar Wochen besuchte uns dort der frühere Reichskanzler Dr. Wilhelm Cuno, der als Generaldirektor der Hapag auf dem Stuhl Albert Ballins saß, welcher sich am Tage nach dem Sturz des Kaiserreiches das Leben genommen hatte. Ein eleganter, durch tadellose Manieren und ein ansprechendes Äußeres bestechender Mann, war Cuno von bestem Willen beseelt.

Die Eigenschaften seines genialen Vorgängers hatte er jedoch nicht, und so war es kein Wunder, daß die Hamburger Großreederei gegenüber dem von Glässel energisch geleiteten Norddeutschen Lloyd in Bremen mehr und mehr an Terrain verlor.

Meinen kritischer Geist für deutsche Unzulänglichkeiten war geweckt

Ich hatte nun fast sechs Jahre im Ausland zugebracht. Der Aufenthalt in den Vereinigten Staaten hatte meinen kritischen Geist geweckt und mir die Augen für deutsche Unzulänglichkeiten geöffnet. Was ich noch nicht gelernt hatte, war, mit meiner Meinung hinter dem Berge zu halten.

Ich erlebte, wie wenig dazugehörte, ein großes Unternehmen zu leiten. Ich erfuhr, daß Intelligenz im Berufsleben ein Handikap sein kann, linkisches Auftreten und Mangel an Selbstbewußtsein der Karriere oft nützlicher sind als eine zu ausgeprägte Persönlichkeit.

Mein Griff in ein Wespennest

Mit der mir zugewiesenen Arbeit in keiner Weise ausgelastet, beging ich den größten Fehler, den ein junger Mann in meiner Lage tun konnte. Ich verfaßte eine an den Vorstand gerichtete Denkschrift, in der ich die Mißstände bei der Hapag beim Namen nannte und Vorschläge zu ihrer Abstellung machte.

Nicht ahnend, daß Wirtschaftsbosse auf Kritik noch heftiger reagieren als gemaßregelte Beamte, griff ich in ein Wespennest. Der Schuß ging nach hinten und erledigte seinen Kanonier.

Ich wurde gekündigt. Mein am 29. Oktober 1931 ausgestelltes Zeugnis bescheinigte mir zwar, daß ich meiner Aufgabe zur Zufriedenheit genügt hätte, eine Floskel, auf die jedes faule und diebische Hausmädchen Anspruch hat.

Selbst diese Phrase wurde ihres Inhaltes durch den Zusatz entleert, daß ich für die eigentlichen Aufgaben der Berliner Behördenvertretung gar nicht eingesetzt gewesen sei, was der Wahrheit nur halb entsprach. Es half mir nichts, daß die Hapag nur wenige Monate nach meiner Entlassung in die Schwierigkeiten geriet, die ich vorausgesagt hatte. Meine Lust an Denkschriften ließ seitdem nach.

Meine Versuche, doch etwas zu bewegen - Ende eines Traums

Mit einer Nordlandreise nahm ich von meinem Traum, es zu einem königlichen Kaufmann zu bringen, Abschied. An Bord der »Resolute« erkannte ich, daß es mir wohl versagt bleiben würde, an das Steuer einer großen Reederei zu gelangen. Meiner Liebe zur Schiffahrt tat dies keinen Abbruch.

Nach dem Kriege habe ich als Chefredakteur erst der »Hamburger Allgemeinen Zeitung«, dann des »Hamburger Anzeigers« nichts unversucht gelassen, um für den Wiederaufbau einer deutschen Passagierschiffahrt zu werben. Das Flugzeug erwies sich als stärker.

Als Düsenmotoren seine Geschwindigkeit verdoppelten, schlug die letzte Stunde der großen Musikdampfer, die heute nur noch in der Seetouristik ein Gnadenbrot verdienen.

Das Ende der goldenen zwanziger Jahre näherte sich.

In Berlin näherten sich die goldenen zwanziger Jahre ihrem Ende, ohne daß Untergangsstimmung aufkam. Streiks und Arbeitslosigkeit konnten der Geschäftigkeit der Millionenstadt wenig anhaben. Das künstlerische Leben blühte.

In Oper und Schauspielhaus, im Deutschen Theater, den kleineren Häusern am Kurfürstendamm und Nollendorfplatz spendete ein gebildetes Publikum glanzvollen Premieren Beifall.

Die Kunstkritik florierte, als Musikstadt genoß Berlin Weltruf. Gesellschaftlich gaben die großen jüdischen Häuser den Ton an.
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Kostümfeste und Subskriptionsbälle lösten sich ab.

Die Schwabach und die Goldschmidt-Rothschild, die Friedländer-Fuld und die Mendelsohn, die Guggenheim und die Röhren-Hahn, die Wertheim und die Ullstein, die Salomonsohn und die Warschauer entfalteten eine freigiebige Geselligkeit.

Herbert Gutmann, Berliner Direktor der Dresdner Bank, und seine Frau Daisy, geb. v. Frankenberg und Ludwigsdorff, empfingen während des Winters jeden Freitagabend im Blücherpalais neben dem Brandenburger Tor. Im Sommer öffneten sie ihr Potsdamer Haus.

Herr v. Klemperer zeigte in seiner Tiergartenvilla eine herrliche Sammlung ostasiatischer Porzellane. Der mit einer Schwester Walter Rathenaus verheiratete Bankier Andre gab in seiner Grunewald-Residenz elegante Soireen. Der Gesandte Horstmann, seine Schwester Gräfin Fabian zu Dohna, Bankiers wie Urbig und Schlitter veranstalteten Tanzfeste, auf denen die Schwesternpaare Elfes und Stumm sowenig fehlten wie die schöne Annemarie Boner.

Bis herüber ins Dritte Reich hatte es angedauert

Auf den beiden Reimann-Bällen in der Kunstakademie war alles erlaubt, was gefiel. Auf dem Geldernball wurde höfisches Protokoll beobachtet. Sein Initiator, Herr v. Geldern-Crispendorf, ein früherer sächsischer Offizier, hielt an der Seite seiner Schwester ein strenges Regiment. Für die Herren schrieb er roten Frack, schwarze Bundhosen und Escarpins vor, für die Damen großes Abendkleid und Diadem.

Auf den Wartelisten zum Geldernball drängte sich alles, was Rang und Namen hatte. Sein Schauplatz war der große Festsaal im Hotel Esplanade, wo auch die am Rande des Grunewalds gelegenen Tennisclubs Rot-Weiß und Blau-Weiß ihre Feste abhielten, die Baltenbälle stattfanden, Frau von Pannwitz und Frau Thyssen ihre millionenschweren Töchter auf Diner dansants präsentierten.

In den Sälen am Zoo übten Reichswehroffiziere und Landkomtessen auf dem Adelsball Foxtrott und Walzer. Auch der Presseball, der eigentlich ein Filmball war und dem der französische Botschafter Francois-Poncet und der Reichspropagandaminister Dr. Goebbels ihre Anwesenheit liehen, hatte dort seinen Standort. Das Dritte Reich war so tanzwütig wie die Weimarer Republik.

Berlin lebte, liebte und lachte . . . . .

. . . . .daß sich die Balken bogen. Seine prickelnde Luft ließ keine Müdigkeit aufkommen. Das Berliner Nachtleben dehnte sich bis in die frühen Morgenstunden aus. Die »Königin« am Kurfürstendamm, »Cascade«, »Ciro«, »Ambassadeurs« und wie die Lokale im Berliner Westen alle hießen, waren Abend für Abend besetzt. Rheinische Industrielle, schlesische Grafen, Berliner Anwälte und die vielen Diplomaten hatten ihre Stammlokale, in denen reservierte Tische auf sie warteten.

Für Provinzonkel sorgte das »Resi«, das die ersten Tischtelefone installierte, für Witwen »Walterchen der Seelentröster« in der Hasenheide. Das »Palais de Danse« in der Friedrichstraße, das vor dem Kriege die Offiziere berlinferner Kavallerie-Regimenter mit kalten Büffets und heißem Sex versorgte, hatte an Beliebtheit nichts eingebüßt. Nur beförderte es keine Sortimente von Hummern und Tänzerinnen mehr in entlegene Garnisonen, sowenig wie Borchardt, dessen »party Service« sich vor dem Kriege bis St. Petersburg erstreckte.

Wer abseitige Neigungen pflegte, kam im »Eldorado«, wo jeder Mann eine Frau und jede Frau ein Mann war, auf seine Kosten. Am »Kadewe« auf der Tauentzienstraße empfahlen sich promenierende Damen durch die Farbe ihrer Stulpenstiefel Liebhabern erotischer Spezialitäten.

Die große Welt traf sich Unter den Linden

Mittags traf sich die große Welt Unter den Linden in den Speisesälen des »Bristol« und »Adlon«. Oder man frühstückte bei Horcher, Hiller und Peltzer. Den besten Rotspon schenkten Luther & Wegner aus.

Huth's Weinstuben hielten während der heißen Sommerwochen einen Ansatz mit Früchten bereit, auf die kühler Mosel gegossen wurde. Kempinski am Kurfürstendamm kultivierte den »Berliner Geschmack«. An Wochenenden lockten »Klosterkeller« und »Einsiedler« in Potsdam und das von Kempinski gepachtete Raveneschloß Marquardt, das »Haus am Wannsee« und Brüningslinden.

Das Handwerk stand hoch im Kurs.

Breitsprecher in der Neuen Wilhelmstraße belieferte die vornehme Welt mit Schuhen, die Londoner und Prager Maßarbeiten nichts nachgaben. Sie sahen aus wie poliertes Holz und kosteten ein Vermögen. Herrenausstatter wie der Tscheche Knize, der Grieche Stravopoulos und der Berliner Dietel kümmerten sich um die Kleidung des Gentleman.

Die Reichswehr equipierte sich im Armee-Marine-Haus, in welchem die besten Reithosen gebaut wurden. Der Friseur Becker in der Neuen Wilhelmstraße schnitt Legationsräten und Bankiers die Haare. Wie viele Meister seiner Zunft betrieb er seinen Salon auch als Nachrichtenbörse.

Mein Freund und Partner Ernst Ludwig Grolman

In dieser glitzernden Strömung zu schwimmen, war für junge Leute ohne größere Einkünfte nicht leicht. Allein die Wäsche der Frackhemden kostete einen Haufen Geld. In meinem Schulfreund und weitläufigen Verwandten Ernst Ludwig Grolman fand ich einen idealen Partner. Grolmans unverwüstliches Temperament überwand alle Schwierigkeiten. Sein Lachen steckte jedermann an. Den Musen zugetan, mit profunder Bildung ausgestattet, ein glänzender Tänzer und Schauspieler, ließ er keine Gelegenheit aus, um Amor zu huldigen.

Durch den Bruder seiner Mutter, Eckart v. Naso, der als Dramaturg an den Staatstheatern wirkte, verschaffte er uns Freikarten für die Intendantenloge, aus der wir Generalproben und Inszenierungen von Gründgens, Kortner und anderen Berühmtheiten folgten.

Aus engen Potsdamer Verhältnissen kommend, wäre Grolman am liebsten zum Theater gegangen. Er vereinte Freude an sprachlicher Zucht mit einer hohen mimischen Begabung. Seine Lust an der Gestaltung von Rollen war kaum zu bezähmen. Aßen wir irgendwo zu Mittag, so faszinierte ihn das an den Nebentischen speisende Publikum so stark, daß er darüber das Essen vergaß und anfing, Ausdruck und Bewegungen der Umsitzenden nachzuahmen.

Er sollte Jurist werden

Seine Familie hatte ihn jedoch zum Juristen bestimmt und ihm ein jahrelanges Studium aufgenötigt. Als er endlich den Assessor schaffte und bei einem Anwalt zu arbeiten begann, brach der Krieg aus. Grolman ging als Leutnant an die Front.

Wie vordem den Frieden, genoß er jetzt den Krieg. Das Rußlanderlebnis schlug ihn vollends in seinen Bann. Auf Urlaub in Berlin behielt er auch während der schwersten Luftangriffe seinen Humor. Einmal hatte er im Hotel Continental Logis belegt, als Vollalarm gegeben und kurz darauf das Hotel durch Brandbomben getroffen wurde. Aus Hotelgästen bildete Grolman ein Löschkommando, das den Brandherd auf dem Dachboden so lange in Schach hielt, bis - aus Dresden - Berufsfeuerwehr eintraf.

Während andere die tragischen Auswirkungen dieser Nacht beklagten, schüttete er sich vor Lachen über die Tücke, der er zum Opfer gefallen war. Im Juni 1944 verschluckte die Ostfront Grolman für immer. Ob er von Partisanen ermordet oder gefangengenommen wurde, ließ sich nicht klären. Mit ihm verschwand der Divisionsstab, dem er angehörte. Jahrelang habe ich geglaubt, Grolman würde eines Tages wieder auftauchen, vielleicht unter anderem Namen oder als Russe wie so viele Preußen in der Napoleonischen Zeit. Er schien für vieles bestimmt, nur nicht für einen frühen dunklen Tod.

Ein Blick auf das Land und den Land-Adel

Mit seiner ländlichen Umgebung war Berlin damals noch eng verbunden. In der Mark ging es freilich einfacher zu als in der glanzvollen Metropole. Der preußische Adel saß auf seinen Gütern und harrte der Dinge, die auf ihn zukamen.

Die Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch Hindenburg belebte seine politischen Hoffnungen. In der Reichswehr, im Auswärtigen Dienst und in den hohen Verwaltungsstellen hatte der Adel einen gewissen Einfluß bewahren können. Seine materielle Lage war voller Risiken.

Zwar blieb die landgebundene Vermögenssubstanz über die Inflation erhalten, aber viele Güter waren verschuldet, ihre Bewirtschaftung den Besitzern entzogen und Treuhändern übertragen worden. Der Rückhalt, den die Fideikommisse Generationen hindurch auch den jüngeren Söhnen des Adels gewährt hatten, zerbröckelte. Wer studierte, Offizier oder Beamter wurde, mußte ohne oder mit sehr bescheidenen Zuschüssen von zu Hause auskommen.

Herrenhäuser mit Plumpsklos und Petroleumlampen

Gleichwohl wurde auf den Landsitzen eine östlich großzügige Gastfreundschaft gepflegt. Die Trinkkultur stand in hoher Blüte.

Mit der Wohnkultur war es nicht so gut bestellt. Viele Herrenhäuser glichen Rumpelkammern, in denen seit den Zeiten Theodor Fontanes für die Auffrischung von Salons, Gästezimmern und Bädern wenig getan worden war. Vielfach wusch man sich noch in kupfernen Sitzbadewannen und ließ sich heißes Wasser kannenweise über den Rücken gießen. Plumpsklos waren keine Seltenheit.

Bis in die zwanziger Jahre begnügten sich große Schlösser mit Petroleumlampen. Geheizt wurde in Öfen, die vom Korridor aus bedient werden konnten. Kunstschätze hatten in diesem Lebensstil keinen Platz. Trophäen ersetzten Tapisserien, Ahnenbilder Gemälde von Landschaften. Die Porträts der Herrscherfamilie dominierten die Salons.

Die Entdeckung von Kohle hatte schlesischen Adelsfamilien großen Reichtum geschenkt, der benutzt wurde, um herrliche Barockbauten zu neogotisieren. Spätere Generationen taten wenig, um diese Greuel zu beseitigen. Gleichwohl bewegte sich die Konversation in vielen Häusern auf einem hohen Niveau. Anders als in Böhmen, Mähren und Ungarn, wo viel getratscht wurde, sprach man auch über Literatur und Theater, über Kunst und Politik.

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