"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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SIE MUSSTEN STERBEN
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Goebbels weiß schon lange, daß seine Tage gezählt sind
....., auch wenn er das nicht zugibt. In einem seiner letzten Artikel hat er geschrieben: „Wer würde sich ein persönliches Weiterleben nach der Niederlage überhaupt auch nur vorstellen wollen? Das Ausschlaggebende im Krieg ist immer noch der Einsatz des eigenen Lebens!"
Goebbels ist sich klar darüber, daß es für ihn keine Rettung gibt. Er könnte seine Frau, er könnte die Kinder retten. Aber das will er nicht. Er will, daß sie bei ihm in Berlin bleiben, und daß sie sein Schicksal teilen.
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Am 22. April 1945 zieht Goebbels in den Bunker
Am 22. April 1945, zwei Tage nach Hitlers letztem Geburtstag, ist er mit seiner ganzen Familie in den Bunker der Reichskanzlei gezogen, nachdem er Berlin zur Frontstadt erklärt, nachdem er seine letzte Rede im Rundfunk gehalten, nachdem er sich von Dr. Winkler mit den Worten verabschiedet hat:
„Ich würde am liebsten irgendwohin gehen und Bücher schreiben und von Zeit zu Zeit einen guten UFA-Film sehen."
Ach, wer wollte das nicht! Aber Goebbels weiß, daß gerade er nicht hoffen darf, im Privatleben untertauchen zu können. Er weiß, daß er vermutlich der verhaßteste Mann in Deutschland ist, und daß seine von ihm betrogenen Landsleute nicht darauf warten würden, was die Gegner mit ihm vorhaben. Sie würden nicht erlauben, daß er weiterlebt...
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Hitler tobt unterbrechungslos, das Volk bestehe aus Verrätern
Goebbels weiß, warum er zu Hitler geht. Der tobt unterbrechungslos, er sei hintergangen und verraten worden, das Heer, ja, das ganze Volk bestehe aus Verrätern!
Er ist umgeben von einigen Großen des Dritten Reiches, die sich noch in Berlin befinden, die ihn anflehen, sich eilends aus der zum Tode verurteilten Hauptstadt nach Berchtesgaden zu retten, denn sie wollen ja sich selbst retten.
Der Traum von dem Hitler-Mythos, der Hitler-Legende
Auch Himmler, Dönitz und Ribbentrop, nicht mehr in Berlin, flehen ihn telefonisch an, zu fliehen. Nur Goebbels ist sich klar darüber, daß Hitler in Berlin bleiben muß. Hitler muß in Berlin sterben, wenn der Hitler-Mythos, die Hitler-Legende fortbestehen soll.
Und da er Hitler und seinem Mut nicht mehr trauen kann, muß er, Goebbels, bei ihm bleiben, muß ihn bewachen, muß dafür sorgen, daß ihm Hitler nicht in letzter Minute noch entwischt.
Ein Hitler, der den Heldentod stirbt, kann die Basis für den Wiederaufbau der Bewegung bilden. Ein feiger Hitler, der flieht, wäre der endgültige Todesstoß für den Nationalsozialismus. Und dann geht alles sehr schnell.
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Hitler schießt sich tot. Eva Braun nimmt Gift.
Alle diejenigen, die ihrem „Führer" geschworen haben, ihm in den Tod zu folgen, versuchen ihr Leben zu retten. Für Mitternacht ist ein Ausbruchsversuch aus der Reichskanzlei angesetzt.
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Alle hoffen. - Alle? Nein, Goebbels will sich nicht retten.
Goebbels folgt Hitler in den Tod, in den er ihn gejagt hat. Magda Goebbels läßt ihre Kinder umbringen und stirbt zusammen mit ihrem Mann. Die Russen finden die Leichen. Vorübergehend hängen sie den toten Goebbels sogar am Brandenburger Tor auf.
Trotzdem - und obwohl der Tod von Goebbels hundertmal bestätigt wurde, ja, obwohl seine Leiche in dem russischen Film „Die Eroberung Berlins" deutlich erkennbar ist, wird man noch lange an seinem Tode zweifeln.
Insbesondere die Filmleute werden lächeln, wenn man von dem Tode des gerissenen Goebbels redet. „Tot? Dazu war der viel zu schlau!" „Der ist mit einem Unterseeboot nach Argentinien durchgebrannt!" „Der sitzt in Italien oder in der Schweiz."
Die Filmleute können es sich einfach nicht vorstellen, daß der Mann, der sie seit Jahren drangsalierte, der Mann, der ihre Karrieren und Geschicke lenkte, nun nicht mehr leben soll; daß sie wieder aufatmen können, daß sie wiederum daran denken können, einen anständigen Film zu machen, ohne Rücksicht auf politische Gegebenheiten, auf Rassen-Theorien und auf die Wünsche des Reichsministers...
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Neue Filme machen ? Aber noch ist es nicht so weit.
Es ist noch lange nicht so weit, daß man wieder daran denken könnte, Filme zu machen. Und viele werden es nicht mehr erleben. Denn gerade in den letzten Tagen, ja, den letzten Stunden des Krieges, sterben noch viele, die bisher aus dem deutschen Film nicht wegzudenken waren ...
In Prag hat sich die Lage blitzartig verändert ......
Aber blenden wir noch einmal ein paar Tage zurück:
In Prag hat sich die Lage blitzartig verändert, kaum daß Hans Steinhoff nach Berlin geflohen ist. Es sieht aus, als hätten die Filmleute nur darauf gewartet, bis er sich außer Sehweite befindet.
Längst gepackte Koffer werden geschlossen. Ein Sturm beginnt auf den Bahnhof, auf die wenigen noch vorhandenen Autos, auf jede Art von Fuhrwerk. Niemand und nichts mehr kann die Filmleute zurückhalten.
Keiner hat noch Angst vor der Gestapo, denn die Gestapisten haben sich am schnellsten und sichersten abgesetzt. Allgemeine Panik.
Hans Albers bleibt völlig ruhig
Nur einer bleibt völlig ruhig. Das ist Hans Albers. Auf die Frage seiner Kollegen, wie er sich zu retten gedenke, zuckt er die Achseln: „Wird sich schon ein Weg finden!"
Und in der Tat fragt ihn ein Regisseur, der noch ein Auto hat, ob er ihn nach Bayern mitnehmen darf. Albers ist bereit, sich mitnehmen zu lassen.
Aber in letzter Minute ändert er noch einmal seine Reisepläne. „Ich bin nämlich heute zum Abendessen eingeladen. Ich werde wohl erst morgen abfahren ..."
Und er fährt dann auch wirklich „morgen" ab. Er findet eine Frau mit einem Auto - er findet ja immer eine - die ihn über die Grenze bringt.
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Hans Brausewetter spielte in der farbigen „Fledermaus"
Zu denen, die wie Willy Fritsch an der farbigen „Fledermaus" mitwirkten, gehört auch Hans Brausewetter. Fritsch spielte den Gefängnisdirektor Frank, eine Rolle, die zu ihm paßt wie die Faust aufs Auge, und Brausewetter den Notar Falke, ebenfalls keine ideale Besetzung. Als ob es darauf noch angekommen wäre!
Hans Brausewetter ... Erinnern wir uns noch? Er war jener bezaubernde, hübsche, blonde Junge, der bei Max Reinhardt seine ersten Erfolge hatte als Page Masham im „Glas Wasser", in den sich sämtliche Frauen des Stückes verlieben und als Karl-Heinz in „Alt-Heidelberg". Ludwig Berger holte ihn zur Verfilmung des „Glas Wasser" und seither hat er fast unterbrechungslos gefilmt.
Jahrein, jahraus ... „Brausi"
..... - so nannten ihn seine Freunde - war ungemein erfolgreich. Diejenigen, die ihn nicht persönlich kannten, glaubten auch, daß er sehr glücklich sei - er hatte ja ein sprichwörtlich sonniges Gemüt. Aber seine guten Freunde wußten es besser.
Hans Brausewetter war nicht glücklich. Er litt unter Depressionen. Das hatte viele Gründe. Ein Grund war, daß er in seinem Beruf keine Befriedigung fand.
Er wollte ein richtiger Schauspieler sein, wollte Charakterrollen spielen, wollte ernsthafte Männer darstellen, sogar Bösewichte - aber das Publikum, namentlich das Filmpublikum, wollte ihn immer nur jung, hübsch, charmant, liebenswürdig und liebenswert sehen.
Er war auf einen Typ festgenagelt. Der andere Grund für seine Depressionen: das Dritte Reich. Er, der Blonde, Blauäugige haßte den Nationalsozialismus, haßte die von Hitler dekretierte Schematisierung und Kontrolle des privaten Lebens, haßte es, daß er nicht sagen konnte, was er wollte, daß er nicht tun konnte, was ihm beliebte.
„Sie sind verhaftet!"
Dies war den Nazis nicht unbekannt; eines Abends wurde er verhaftet. Diese Verhaftung ging vor sich wie in einem schlechten Film. „Brausi" stand auf der Bühne der Kammerspiele.
Seine letzte Szene endete mit den Worten: „Ich muß mich beeilen, sonst werde ich verhaftet!" Dann hatte er abzustürzen. Er stürzte ab. Und dann sah sich der Schauspieler zwei Männern in Zivil gegenüber.
„Sie sind verhaftet!" erklärte der eine. Diesmal war es nicht Spiel, diesmal war es bittere Wirklichkeit.
Er kam in ein Konzentrationslager. Aber er hatte gute Freunde.
Die blonde Käthe Haack holte ihn wieder aus dem Lager heraus - sie ging einfach zu Goebbels und erklärte, daß sie nicht von der Stelle weichen würde, bevor der Minister ihr verspräche, die Freilassung von Hans Brausewetter anzuordnen.
Aber auch als er wieder frei war, stand er immer mit einem Bein im Konzentrationslager. Seine Depressionen wurden schlimmer. Oft sagte er: „Wie gerne hätte ich in einer Zeit gelebt, zu der ich ,ja' hätte sagen dürfen! Ich habe es so satt, immer dagegen sein zu müssen ... Alles ist so ekelhaft!"
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Brausewetter wurde von düsteren Vorahnungen geplagt.
„Ihr werdet sehen", sagte er zu den Freunden, „ich komme nicht davon ..." Es sieht so aus, als habe er sich geirrt. Nach Beendigung der „Fledermaus" ist Hans Brausewetter nach Berlin zurückgekehrt in das kleine Haus, das er in Westend besitzt, in dem er mit einer Tante und einer Haushälterin lebt.
Jetzt kann es sich ja nur noch um Tage handeln, bevor der Krieg zu Ende ist. Schon wird überall in Berlin geschossen. Brausewetter sitzt mit den beiden älteren Damen im Keller seines Hauses, ja, lebt dort nun schon seit einigen Tagen beim Schein einer einzigen Kerze. Er ist guten Mutes. Es kann ja nicht mehr lange dauern.
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Dann schlug eine Granate ein .....
Da - ein furchtbarer Stoß. Das ganze Haus wankt. Ein Teil der Kellerdecke bricht ein. Die Kerze verlischt. Was ist geschehen? Ist das Haus zerstört?
Brausewetter tastet sich ins Freie hinauf, hinaus. Er atmet auf. Es scheint noch einmal glimpflich abgelaufen zu sein. Nur das Dach ist hin. Eine Granate hat es bis zum Erdgeschoß durchschlagen. „Ich bin gleich wieder zurück!" ruft er den beiden Frauen zu.
Er kommt nicht wieder zurück. Die Frauen warten eine Viertelstunde, wagen sich dann ebenfalls durch den Kellerausgang in den Garten, finden Hans Brausewetter stöhnend am Boden ausgestreckt. Er liegt unter dem schweren Ast eines Kastanienbaums
Man begräbt ihn in seinem eigenen Garten während einer Feuerpause. Ein Nachbar murmelt das Vaterunser. Es kostet Mühe, den Besenschrank in die Erde zu senken. Es ist gerade noch Zeit, ein bißchen Erde darauf zu werfen, und das Grab schnell zuzuschaufeln.
Denn schon hagelt es wieder Geschosse. Die Nachbarn, die gekommen sind, Hans Brausewetter die letzte Ehre zu erweisen, stürzen angstvoll in ihre Keller zurück.
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Wer will denn jetzt noch sterben?
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Das Schicksal von Harry Liedtke
Einer, der in des Wortes wahrster Bedeutung seinen letzten Blutstropfen hergeben muß, und der vielleicht das furchtbarste Schicksal von allen erlebt, ist Harry Liedtke. Genau genommen ist er wohl um diese Zeit kein Star mehr. Es ist schon Jahre her, daß er das letzte Mal vor einer Kamera stand.
Die Schauspielerin Käthe Dorsch, die früher mit ihm verheiratet war, hat die Geschichte oft erzählt.
„Im Januar 1945 war ich in Berlin. Ich drehte draußen in Babelsberg noch einige Szenen. Es waren nur ein paar Tage, die ich in Berlin verbrachte. Ich fuhr so schnell wie möglich nach Österreich zurück, in mein Haus am Attersee, um wie so viele andere auf das Ende zu warten" ... „Bevor ich Berlin verließ, wollte ich mit Harry noch einmal sprechen und warnen."
Die Dorsch fährt während einer Drehpause nach Saarow-Pieskow am Scharmützelsee hinaus, dorthin, wo sie einmal mit Harry Liedtke gewohnt hat. Jetzt ist es bald zwanzig Jahre her seit der Scheidung.
Er hatte eine andere Frau geheiratet, aber man ist gut Freund geblieben. Die Dorsch ist lange nicht mehr in Saarow-Pieskow gewesen. Als sie eintrifft, ist es schon dunkel. Morgen muß sie in aller Herrgottsfrühe wieder nach Berlin zurück. Es bleiben also nur ein paar Stunden, in denen sie Harry Liedtke und seine Frau überzeugen muß, Saarow-Pieskow zu verlassen.
Saarow-Pieskow liegt nämlich auf dem Weg der Russen nach Berlin. Im Salzkammergut wird man nach menschlichem Ermessen sicher sein ...
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Käthe Dorsch - die Exfreundin von Hermann Göring - denkt zurück an das erste Zusammentreffen 1917
„Als ich ihn sah, eigentlich unverändert, denn sein Gesicht war jung geblieben trotz der weißen Haare, mußte ich wieder an alles zurückdenken ..." An alles.
An jenen Tag im Jahre 1917, an dem sie Harry Liedtke kennenlernte. Das geschah in einem Taxi, das sie und er zu gleicher Zeit von zwei Seiten bestiegen. Aber man einigte sich schnell, als es sich
herausstellte, daß sie beide das gleiche Ziel hatten: die UFA-Ateliers in Tempelhof.
Sie wußte natürlich genau, wer er war: der deutsche Filmstar, der UFA-Star. Er hatte keine Ahnung, wer sie war. Sie war nur eine Soubrette, der freilich einige wenige Kenner des Theaters eine große Zukunft vorhersagten.
Man sprach miteinander, man freundete sich an. Die junge Soubrette löste ihre Verlobung mit einem jungen Fliegerleutnant. Der junge Leutnant hieß Hermann Göring.
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Sehr lange dauerte das Glück nicht.
Denn aus der kleinen unbekannten Soubrette wurde eine der großen Schauspielerinnen Deutschlands, und aus dem UFA-Star Liedtke wurde ... eben ein Filmschauspieler von vielen. Ein Schauspieler mit Charme, mit Humor, einer, der großartig aussah und sich wie ein Herr zu benehmen wußte. Aber auf die Dauer konnte nicht verborgen bleiben: ein Schauspieler war Harry Liedtke nicht.
Er ertrug es nicht, nur der Mann seiner Frau zu sein, er wollte ihr, er wollte der Welt beweisen, daß er jemand war. Da er das auf der Bühne und auf der Leinwand nicht konnte, gab es nur eine Beweismöglichkeit für ihn: Frauen.
Harry Liedtke brauchte Frauen, um zu beweisen, daß er noch immer wirkte, daß er immer wieder wirken wunde. Die Scheidung war nur eine Frage der Zeit.
Harry Liedtke blieb allein in dem herrlichen Haus ....
....., das er und Käthe Dorsch hatten. Allein ist vielleicht übertrieben, denn es siedelten sich in der Nachbarschaft viele bekannte Künstler an:
Wilhelm Furtwängler, Anny Ondra mit ihrem Mann Max Schmeling, Victor de Kowa. Freilich, niemand besaß ein so schönes Haus wie Harry Liedtke, mit einem riesigen Park, mit einer herrlichen Terrasse, die zum See hinunterführte.
Aber trotz allem, ja, trotz der zweiten sehr glücklichen Ehe, wurde es dann doch einsam um ihn, denn immer seltener geschah es, daß der Film sich seiner erinnerte, daß man für ihn überhaupt noch eine Rolle hatte ...
Flieht er jetzt mit der Dorsch ins Salzkammergut?
Er schüttelt den Kopf. Nein, er will Saarow-Pieskow nicht verlassen. Er weiß, was die Leute über die Russen sagen. Aber er hält das für übertrieben. „Goebbels-Propaganda", ruft er verächtlich.
Am nächsten Morgen geht Käthe Dorsch schon zeitig zum Bahnhof. Sie sitzt bereits im Zug. „Es war ganz neblig... man konnte kaum drei Schritte weit sehen ... plötzlich tauchte aus dem Nebel Harry Liedtke auf. Er wollte mir nur eine gute Reise wünschen, sagte er. Sie hatten gerade noch Zeit, einander die Hand zu drücken. Ich fragte ihn noch einmal, warum er nicht mitkomme. Da fuhr der Zug auch schon los .. . So, wie er ganz plötzlich aufgetaucht war, verschwand er wieder im Nebel. Da wußte ich, daß ich ihn nie mehr wiedersehen würde!"
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Harry Liedtke bleibt in Saarow-Pieskow.
Wo sollte er auch hin? Er besitzt nichts mehr außer dem Haus, das allerdings einen großen Wert darstellt, das aufs prächtigste eingerichtet ist.
Er besitzt nichts außer dem Silber und Teppichen, den antiken Möbeln. Er will nicht fort, weil er weiß, fortgehen hieße alles verlieren. Als Anfang und Mitte April die letzten Nachbarn eiligst mit ihren Wertsachen verschwinden, lehnt er es kategorisch ab, sich ibnen anzuschließen. Es wird alles halb so schlimm sein. „Goebbels-Propaganda!"
Erst als die russischen Kanonen schon ganz nahe sind, packen ihn Zweifel. Vielleicht hätte er doch dem Rat Käthe Dorsch's folgen sollen. Vielleicht hätte er wenigstens ein paar Wertgegenstände vergraben sollen?
Dazu ist es noch nicht zu spät. Er eilt in den Garten, vergräbt hier und dort silberne und goldene Gegenstände. 27. April. Die ersten sowjetischen Panzer rollen durch Saarow-Pieskow, und ein paar Stunden später sieht man Russen das Haus Harry Liedtkes betreten.
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In der Nacht brennt das Haus ab. Was ist geschehen?
Niemand weiß es. Niemand wird es je genau wissen. Vieles ist später geflüstert und erzählt worden. Einige Nachbarn wollten wissen, daß Harry Liedtke und seine Frau Gift nahmen, und daß man sie in tiefem Schlaf in ihrem Garten fand. Der herbeigeholte Arzt machte Wiederbelebungsversuche. Beide konnten ins Leben zurückgerufen werden ...
Die Russen kamen, stürzten sich auf die Frau und ein junges Mädchen, das im Hause Schutz gesucht hatte. Noch halb benommen warf sich Harry Liedtke zwischen die Angreifer, die ihn mit einer abgebrochenen Weinflasche erschlugen und ihn auf das furchtbarste verstümmelten.
Weitere Gerüchte und Geschichten wurden erzählt
Andere Nachbarn wollten wissen, daß die Russen zuerst ganz friedlich waren, als sie zu Harry kamen. Dann explodierte irgendwo im Hause Jagdmunition. Die schon betrunkenen Soldaten glaubten an Widerstand, stürzten sich auf Liedtke, und inzwischen hatte das Haus Feuer gefangen. Die Nachbarn hörten furchtbare Schreie. Am nächsten Morgen fanden sie die Leichen, hüllten sie in Decken, begruben sie unter einem Apfelbaum.
Die Nachbarn: nicht die Freunde früherer Jahre, nicht die reichen Leute, die rechtzeitig ihre Villen in Saarow-Pieskow verlassen hatten, sondern die kleinen Leute aus dem Dorf, für die Harry Liedtke nichts war als der Gutsbesitzer, den sie gelegentlich auf seinen Ritten bewunderten, dessen Gemüse sie kauften, weil es gut, obwohl sündhaft teuer war.
Sie wußten wenig, ja nichts von seiner Vergangenheit. Sie wären erstaunt gewesen, zu vernehmen, daß er einmal so berühmt war wie Emil Jannings oder Marika Rökk oder Zarah Leander, vielleicht sogar berühmter.
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Wer will jetzt noch sterben?
Viele müssen es, die mit diesem Krieg nichts zu tun hatten, viele, die nichts taten, als ihre Rollen zu spielen und darauf hofften, daß alles bald vorbei sei.
Da ist der gute Karl Dannemann, der noch zuletzt in Babelsberg filmt. Als die Russen Berlin einnehmen, verliert er die Nerven und schießt sich eine Kugel in den Kopf. Der große alte Mann des deutschen Theaters und Films, Friedrich Kayßler, wird vor seinem Hause in Klein-Machow von russischen Soldaten erschossen.
Lizzy Waldmüller, die amüsante, charmante Soubrette, ereilt in Wien ein ähnliches Schicksal wie Brausewetter in Berlin, als sie bei einem Luftangriff in ihre Wohnung eilt, um Kaffee zu kochen.
Hans Adalbert von Schlettow fällt während der Kämpfe um Berlin. Andere bleiben am Leben, weil sie sich rechtzeitig von Berlin abgesetzt haben. Sie leben auf ihren Gütern oder in ihren eleganten Villen, im Salzkammergut oder in Oberbayern, oder als mittellose Flüchtlinge in Städten und Dörfern, von denen sie früher nie gehört haben.
Manchen geht es gut, den meisten geht es schlecht.
Manche dürfen aufatmen, wenn der Krieg erst zu Ende ist, für andere beginnt die Tragödie später. Lida Baarova wird in Prag wegen Spionageverdachts verhaftet werden. Thea von Harbou wird als Trümmerfrau ihr Leben fristen - übrigens freiwillig, denn sie will gutmachen, daß sie jahrelang an Hitler glaubte.
Heinrich George wird in einem sowjetischen Konzentrationslager verkümmern. Marika Rökk wird Arbeitsverbot von den Amerikanern erhalten, aber von einer anderen amerikanischen Stelle aufgefordert werden, für die USA-Soldaten zu tanzen und zu singen.
Die Geschhichte von Veit Harlan
Veit Harlan wird jahrelang mit den Gerichten zu tun haben, bis er schließlich von dem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit" freigesprochen wird.
In dieser Zeit wird es ihm nicht schlecht gehen, viel besser jedenfalls als den anderen, er wird nicht hungern und frieren wie sie, denn seine Frau hat als geborene Schwedin die Verteilung der vom Roten Kreuz ihrer Heimat gestifteten Lebensmittel unter sich.
Seine Tragödie wird erst später beginnen, als sich herausstellt, daß sein spezifisches Talent nur in einer Diktatur funktionieren konnte - und daß er ausgebrannt ist.
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch ist der Krieg nicht zu Ende, wenn er auch nur noch Stunden dauern kann.
Noch wird in Berlin geschossen. Aber wer dächte in diesen Tagen und Stunden ans Filmen, wer von den Glücklichen, die sich rechtzeitig abgesetzt haben, und die jetzt nur eine Sorge haben: nicht zu verhungern und ihre Familie lebend über die nächsten Stunden, Tage, Wochen, Jahre zu bringen.
Die Zukunft liegt wie ein unübersteigbares Gebirge vor allen Deutschen.
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Filmen? Wer wird denn noch filmen dürfen
Wie man schon jetzt weiß, droht vielen Verhaftung oder „Verbot" in nächster Zukunft.
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ÜBERBLENDEN
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Es sieht schlimm aus um Deutschland und den deutschen Film
Ach, es sieht schlimm aus um Deutschland, um die Deutschen und infolgedessen auch um den deutschen Film. Aber es geht weiter. Die Zukunft hat immer schon begonnen, auch wenn es so scheint, daß es keine mehr geben kann.
Da sitzen sie in ihren Bunkern und Kellern, die Großen des deutschen Films, während draußen nocn geschossen wird, da sterben sie sinnlose Tode oder werden verboten, also zu einem für sie sinnlosen Leben verurteilt.
Aber das ist eben nicht das Ende. Diejenigen, die in ihre Fußtapfen treten werden, sind schon da. Man weiß es nur noch nicht.
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Da ist Sonja Ziemann, knapp zwanzig, als der Krieg zu Ende geht.
In Eichwalde bei Berlin geboren, Tochter eines Steuerberaters, eines gutbürgerlichen Mannes mit einer großen Portion gesundem Menschenverstand. Sonja ging schon mit fünf Jahren auf die Ballettschule. Das war nur dadurch möglich, daß der Vater Überstunden machte.
Sie studierte klassisches und modernes Ballett, machte mit fünfzehn ihre Abschlußprüfung bei Tatjana Gsovsky, tanzte im Berliner Variete Plaza, ließ ihre Stimme ausbilden. Der Film war früh auf sie aufmerksam geworden.
Ja, sie spielte schon kleine und kleinste Rollen - wenn man von Rollen sprechen konnte - in den Jahren vor dem Kriege. Niemand dachte daran, daß Sonja Ziemann jemals eine wirkliche Schauspielerin werden könnte. Sie hatte andere Ideen.
Sie hatte im Staatlichen Schauspielhaus in einer Aufführung von „Des Meeres und der Liebe Wellen" statiert und Heidemarie Hatheyer als Hero gesehen.
Sonja war entschlossen, Schauspielerin zu werden.
Davon konnte vorläufig keine Rede sein. Daß sie im Film beschäftigt wurde, hatte weniger mit ihrem Können zu tun als mit ihrer Beliebtheit bei den Bühnenarbeitern, den Technikern, den Cuttern, den Männern der Aufnahmeleitung.
Sie war immer gut gelaunt, sie war immer bereit, alles zu tun, sie hatte ein Lächeln für jeden - allerdings nicht mehr als ein Lächeln. Und so wird sie eines Tages, knapp fünf Jahre nach Kriegsende, der erklärte Liebling des deutschen Publikums sein.
Warum? Sie kann zwar etwas; sie kann tanzen, sie kann singen, sie sieht bezaubernd aus, aber das alles ist keine Erklärung für den riesigen Erfolg, der vor ihr liegt.
Der hat, seltsam genug, mit der Privatperson Sonja Ziemann mehr zu tun als mit der Künstlerin.
Sie ist - ganz ähnlich wie die unvergessene Renate Müller - eine von vielen. Die kleine Verkäuferin, die kleine Sekretärin; das Mädchen, das nicht viel Chancen im Leben hat, und das sich doch schließlich erfolgreich durchsetzt.
Das Geheimnis der Sonja Ziemann ist, daß sie das nicht alles spielt, sondern ist.
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Oder da ist Dieter Borsche ...
Er wird noch im letzten Jahr des Krieges Soldat - wird sozusagen „requiriert", als er aus Breslau, dort wurde das Theater geschlossen, in ein neues Engagement fahren will; wird während der letzten Kriegstage in der Eifel verwundet und gefangen genommen ...
Er ist schon viele Jahre beim Theater, zuerst als Tänzer, dann als Schauspieler, aber gefilmt hat er kaum, nur einige kleine Rollen in komischen Filmen wie „Alles für den Hund" und „Die kluge Schwiegermutter".
Aber mit solchen Rollen erobert man kein Publikum. Und während der Krieg zu Ende geht, beschließt der Kriegsgefangene Dieter Borsche, daß er nun auch das Theater aufgeben wird. Er will eine Drechslerwerkstatt aufmachen, um Spielzeug herzustellen. Dies wird er auch tun.
Und dann spielt er doch wieder Theater - in Kiel - und dann wird ein Regisseur, Harald Braun, ihn rufen, damit er eine Rolle in dem Film „Nachtwache" übernimmt, und dann wird er, den der Film zehn lange Jahre übersah, der erste deutsche Filmstar sein.
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Oder da ist ein junges Mädchen Maria Schell
Da ist ein junges Mädchen, das in einem Dieter - Borsche - Film von einer Stunde zur anderen berühmt werden wird. Bei Kriegsende lebt sie noch in Zürich, denn sie entstammt einer Schweizer Familie, wenn sie auch freilich in Wien aufgewachsen ist und vom Wiener Theater sicher ihre ersten entscheidenden Anregungen empfing.
Während der Krieg in Deutschland zu Ende geht, hat sie gerade ihre Ausbildung als Schauspielerin beendet. Ihr Name ist Maria Schell. Schon hat sie in der Schweizer Provinz Theater gespielt.
Bald geht sie nach Wien, wird in einer winzigen Filmrolle neben Paula Wessely erscheinen und eine der steilsten Karrieren machen. Sie wird die stärkste Persönlichkeit des deutschen Nachkriegsfilms.
Sie hat nichts und hat alles. Sie ist nicht annähernd so schön wie die meisten Filmschauspielerinnen. Sie hat nicht einmal eine besonders gute Figur. Sie kann sprechen - aber auch darin sind ihr Dutzende ihrer Kolleginnen über. Sie ist eine Schauspielerin -, aber nicht die beste.
Maria Schell hat einen außerordentlichen Erfolg
Und trotzdem hat sie einen außerordentlichen Erfolg. Einen, der solche Ausmaße angenommen hat, daß man ihn nicht mehr mit Begriffen wie Zufall, günstige Konstellation, gescheite Manuskripte, großartige Rollen erklären kann.
Gewiß, die Konstellation war wie gemacht für sie. Gewiß, sie managte sich außerordentlich gescheit, und es gibt Presseleute, die sagen, daß keine Schauspielerin sich je so gut „verkauft" habe.
Gewiß, sie weiß die richtigen Rollen zu finden. Aber das alles kann von anderen Schauspielerinnen auch gesagt werden ... Vielleicht ist der letzte Grund des großen Erfolges der Schell identisch mit dem Grund des Erfolges von Henny Porten.
Was diese sehr gerade, sehr einfache Schauspielerin in einer viel geraderen, einfacheren Zeit war, ist die komplizierte und mit gebrochenen Wirkungen arbeitende Schell für die unsere: ein Trost, der einem über manches hinweghilft.
Und gleich die Überleitug zu Hildegard Knef
Maria Schell ist bei Kriegsende noch völlig unbekannt in Berlin. Hildegard Knef ebenfalls, obwohl sie ihren ersten Film bereits hinter sich hat. Sie durfte im letzten Helmut-Käutner-Film „Unter den Brücken" "einmal" (für 1 Minute) über die Leinwand gehen.
Ihr Gesicht hat man sich gemerkt. Es ist das Gesicht eines jungen Mädchens, fast eines Kindes noch, mit Sehnsucht nach dem Leben.
Vorher: Schauspielschule in Berlin, kleinere Rollen am Theater. Bei Kriegsende sitzt die Knef in einem Gefangenenlager. Sie trägt die Uniform eines Soldaten. Sie will ihren Freund in dieser schweren Zeit nicht verlassen. Aber ihre Verkleidung wird bald durchschaut.
Sie wird fortgeschickt, und sie wird innerhalb weniger Wochen am Schloßpark-Theater in Berlin eine große Bühnenkarriere machen. Sie wird in den ersten Nachkriegsfilmen entscheidende Rollen spielen, wird einen amerikanischen Offizier heiraten, mit ihm nach Hollywood gehen, dort vergessen werden - nach Deutschland zurückkehren und in einem Willi-Forst-Film „Die Sünderin" von einem zum anderen Tag Berühmtheit erlangen ...
Ja, die Knef ist schon da, als der Krieg zu Ende geht, aber das wissen nur ein paar Eingeweihte.
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O.W. Fischer, ein gut aussehender, begabter Schauspieler
Und das gleiche ist von O.W. Fischer zu sagen, einem ungewöhnlich gut aussehenden, ungewöhnlich begabten Schauspieler. Schon vor dem Kriege hatte er sich an den Münchner Kammerspielen durchgesetzt, und da er Österreicher ist, sieht man es ihm sogar nach, daß seine Ehe den Rasse-Paragraphen des Dritten Reiches "nicht ganz" entspricht.
Aber als Hitler den „Anschluß" Österreichs vollzieht, ist O. W. Fischer in München nicht mehr zu halten. Er geht nach Prag, wo man diese Dinge nicht so ernst nimmt. Er taucht unter ...
Nach dem Krieg holt man ihn zwar ans Wiener Burgtheater, aber es wird Jahre dauern, bis der Film ihn entdeckt. Nicht, daß man ihm keine Rollen bietet, aber er vermag sich nicht durchzusetzen. Er kommt von der Leinwand nicht herunter. Sein Fall scheint hoffnungslos, bis ihn der Regisseur Rolf Hansen in die Hand bekommt und mit ihm und Heidemarie Hatheyer „Das letzte Rezept" inszeniert.
Plötzlich ist O. W. Fischer wie verwandelt. Leise, einfach, klar. Das Publikum ist von seinem Charme gefangen.
Über Nacht wird er der meistgefragte jugendliche Liebhaber des deutschen Films. Sein Ruhm geht weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, es kommen Angebote aus Paris und Hollywood.
O. W. Fischers Erfolg ist nicht zuletzt das Resultat seines ungeheuren Arbeitswillens, seiner Entschlossenheit, nicht nachzulassen, bis alles genau so ist, wie er es sich vorgestellt hat. Er ist ein großer Schauspieler, vergleichbar mit dem unvergeßlichen Alexander Moissi, dessen jungenhaften, grazilen Charme er geerbt zu haben scheint.
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Eine fertige Schauspielerin - Ruth Leuwerik
Auch Ruth Leuwerik ist schon eine fertige Schauspielerin, als der Krieg seinem Ende entgegengeht. Aber der Film will nichts von ihr wissen, und so muß sie, wie die meisten ihrer Kollegen und Kolleginnen, nach Schließung der Theater ein Jahr vor Kriegsende in einer Rüstungsfabrik für die Wehrmacht arbeiten.
Auch nach dem Kriege wird es noch dauern, bis sie, die bald zu den ersten deutschen Schauspielerinnen gehört, sich im Film durchsetzt. Die Produzenten holen sie zwar immer wieder, aber nur für kleine und kleinste Rollen.
Und dann ist sie plötzlich da. Kein junges Mädchen mehr, eher schon eine junge Frau, geradezu eine junge Dame. Jeder sieht in ihr die Frau, von der er träumt.
Eine Schauspielerin, die einen sofort vergessen macht, daß sie eine ist.
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Die Schauspielerin Hannerl Matz
Hannerl Matz geht noch zur Schule, während der Krieg seinem Ende entgegenrast. Sie ist sehr klein, sehr zart und nicht einmal besonders hübsch, und niemand, auch nicht sie selbst, denkt daran, daß sie später einmal Schauspielerin werden könnte.
Dann lernt sie tanzen, und dann nimmt sie Schauspielunterricht, und dann wird sie in ein paar unbedeutenden Wiener Filmen spielen - und dann ist sie plötzlich da: eine herrliche Schauspielerin, die zu rühren vermag, zu erschüttern und fröhlich zu machen. Sie ist die moderne Nachfolgerin der Wessely.
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Die Tochter von Magda Schneider und Wolf Albach-Retty
Noch jünger, ein Mädchen, das gerade erst zur Schule kommen soll, als der Krieg zu Ende geht: die Tochter der gescheiten und begabten Schauspielerin Magda Schneider und des Schauspielers Wolf Albach-Retty, Romy Schneider.
Die Mutter hat noch in den vierziger Jahren beweisen können, daß sie weit mehr kann, als die Kritik ursprünglich in ihr vermutete. Aber nach dem Kriege scheint der Film sie abgeschrieben zu haben.
Und es wird lange dauern, bis sie wieder einmal eine Filmrolle bekommt, fast acht Jahre. Es handelt sich um den Berolina-Film „Wenn der weiße Flieder wieder blüht".
In diesem Film gibt es noch die Rolle eines jungen Mädchens, Tochter jener Frau, die Magda Schneider spielen soll. Der Chef der Firma, Kurt Ullrich, verspricht sich gute Propaganda davon, wenn Mutter und Tochter im Film von Mutter und Tochter im Leben dargestellt werden.
Er engagiert also nach einigen geglückten Probeaufnahmen die damals vierzehnjährige Romy Schneider, die zu dieser Zeit noch zur Schule geht.
Sie schlägt sofort ein. Sie schlägt auch in ihren nächsten Filmen ein, sie wird immer beliebter und ist bald der geschäftlich lukrativste Star des deutschen Films; das heißt, mit Romy-Schneider-Filmen wird mehr Geld verdient als mit allen anderen Filmen, nicht ausgenommen die Maria Schells, O. W. Fischers, der Leuwerik, der Ziemann oder Dieter Borsches.
Der Erfolg der Romy-Schneider-Filme
Der Erfolg Romy Schneiders kommt ohne Zweifel aus den gleichen Bezirken wie der Shirley Temples oder Jackie Coogans. Sie ist hübsch und, wie viele Kinder, ja, die meisten, zum Unterschied von dem, was später aus ihnen wird, nett, ehrlich, sauber. Die gute Mama erklärt auf die Frage, warum die Menschen Romy so gern mögen: „ ... weil sie spüren, daß hier endlich einmal ein Geschöpf vor ihnen steht, das mit dem Dreck der Welt noch nicht in Berührung gekommen ist!"
Das ist völlig richtig. Und das wiederum hat damit zu tun, daß Romy Schneider nicht nur wirkt wie ein Geschöpf, das mit dem „Dreck der Welt" noch nicht in Berührung gekommen ist, sondern wirklich auch so ein Geschöpf ist.
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Und da ist noch einer - Curd Jürgens
Ein anderer, an dessen große Filmkarriere niemand bei Kriegsende glauben würde, nicht weil er zu jung ist, sondern weil er schon im Film versagt hat: Curd Jürgens. Eigentlich der geborene Filmschauspieler, denn er sieht prächtig, fast ein wenig zu gut aus. Er ist - bei Kriegsende - hübsch, elegant, liebenswürdig, der geborene Liebhaber. Aber er ist zu hübsch, zu elegant, zu liebenswürdig - und zu nichtssagend.
Schließlich darf er froh sein, daß er mit Reklamefilmen für Herrenhüte und Schlipse sein Brot verdient. Nach dem Kriege wird er Theaterdirektor in Straubing, wechselt zum Münchner Staatstheater über, dann zum Burgtheater in Wien, wird dort wesentlich besser beschäftigt als O. W. Fischer und ist bald der erklärte Liebling des Publikums.
Curd Jürgens braucht immer Geld
Er macht auch Filme, schon deshalb, weil er immer Geld braucht. Er spielt meist - Parallele zu dem jungen Hans Albers - elegante Bösewichte, Männer, die zuletzt leer ausgehen, die zu jeder Schandtat bereit sind, Hochstapler, Ganoven. Er spielt immer weniger Theater, aber von einer Filmkarriere kann keine Rede sein.
Im Gegenteil: Er ist ausgesprochen unpopulär, nicht zuletzt, weil er es nicht versteht, sein Privatleben privat zu leben, weil immer wieder gewisse unerfreuliche Szenen sich in Restaurants, Hotels oder Büros abspielen und Berichte darüber ihren Weg in die Zeitungen finden.
Daß Curd Jürgens 1954/55 überhaupt noch Filme machen darf, hat damit zu tun, daß es so wenig junge oder einigermaßen junge Männer im Film gibt - sie sind Mangelware geworden.
Und dann kommt über Nacht der große Durchbruch. Jürgens spielt innerhalb von wenigen Monaten die Titelrolle in „Des Teufels General" nach dem Bühnenstück von Carl Zuckmayer; ist Bruno Mechelke in „Die Ratten" neben Maria Schell und Heidemarie Hatheyer, macht einen französischen Film „Die Helden sind müde", für den er auf der Biennale von Venedig den ersten Preis erhält, einen Preis, den er sich redlich verdient hat!
Dies alles in wenigen Monaten des Jahres 1955. Ein erstaunlicher Durchbruch fünf Minuten vor zwölf. Ein erstaunlicher Erfolg, der in den fast zwanzig Jahren vorher nicht zu erreichen war.
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Und noch einer, an den mehr geglaubt hätte - O. E. Hasse
Noch einer, an dessen Nachkriegs-Filmkarriere bei Kriegsende niemand mehr geglaubt hätte: O. E. Hasse. Ein guter Schauspieler, schon lange, fast zu lange. Ende der dreißiger Jahre gehörte er zu den Pfeilern der Münchner Kammerspiele.
Dann Prag, dann Berlin. Nach dem Kriege tritt er in die erste Reihe der deutschen Schauspieler. Er spielt in Thornton Wilders „Wir sind noch mal davongekommen", in „Der Trojanische Krieg findet nicht statt", in den „Fliegen", spielt die Hauptrolle in der Berliner Aufführung des „Teufels General". Bald ist er der beliebteste Schauspieler Berlins.
Freilich, jenseits von Berlin und München kennt man ihn nicht. Da er immer Geld braucht - welcher Schauspieler brauchte es nicht? - synchronisiert er viel. Wenn er nicht probt, steht er im Synchron-Atelier, spricht Charles Laughton, James Stewart, Spencer Tracy, um nur einige zu nennen.
Der Film interessiert sich wenig für ihn. Er bekommt ab und zu eine kleine Rolle. Meist sind es ziemlich dumme Filme, in denen er mitwirken muß, und seine Rollen sind nicht besser. So spielt er einen russischen Großfürsten, der Portier eines Pariser Nachtlokals wird, im „Letzten Walzer". Oder er mimt in einem Film, dessen Titel bereits alles sagt: „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt ..."
Nicht der deutsche, der amerikanische Film ist es, der ihn entdeckt. Anatol Litwak holt ihn für eine Episode in dem Spionage-Film „Entscheidung vor Morgengrauen". Hasse ist unvergeßlich als ein deutscher General, der unter Herzattacken leidet und weiter kämpft, obwohl er weiß, daß der Krieg längst verloren ist.
Hollywood holt ihn, um einen Bösewicht in einem Hitchcock-Kriminalreißer zu spielen.
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Von vielen anderen wäre noch zu reden .....
...., von denen man bei Kriegsende nichts wissen kann, weil sie viel zu jung sind, weil sie überhaupt keine Schauspieler sind und nicht einmal ahnen, daß sie diesen Beruf später ergreifen werden.
Da ist die junge und erregende Ingrid Andree, der elegante und angenehme Karlheinz Böhm, der vor Begabung strotzende Horst Buchholz, die ernste Schauspielerin Annemarie Düringer, Eva Bartok, die kühle Schönheit, Ivan Desny, der Mann mit dem ausländischen Charme, Adrian Hoven und Walter Giller, zwei junge Burschen voll Humor, der blonde herbe Hardy Krüger, die begabte Gertrud Kückelmann, die nicht minder begabte Schweizerin Liselotte Pulver.
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Noch einmal zurück zu jenen schrecklichen letzten Kriegstagen
Noch einmal, noch ein letztes Mal zurück zu jenen schrecklichen letzten Kriegstagen, in denen noch so viele sterben mußten, in denen alles so hoffnungslos aussah für den deutschen Film -- und nicht nur für ihn.
Nein, es hat wirklich nicht den Anschein, als ob die Filmleute Grund hätten zum Aufatmen, als sie von dem Tode des Propagandaministers erfahren, weil sie nun wieder daran denken dürfen, anständige Filme zu machen, Filme ohne Tendenz.
Können sie wieder an die Arbeit gehen? Sind nicht die Filmateliere zerstört? Wird nicht überall demontiert? Werden nicht die Aufnahmeapparate nach Moskau abtransportiert und der noch vorhandene Rohfilm wer weiß wohin? Ist Deutschland nicht besetzt, und geben die Sieger nicht eindeutig ihren Entschluß bekannt, daß der deutsche Film nie wieder das werden soll, was er einmal gewesen ist?
Warum eigentlich diese Wut gegen alles, was mit dem deutschen Film zu tun hat? Später wird es heißen, die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, hätten Angst
gehabt vor der deutschen Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das ist eine billige, allzu billige Erklärung.
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Es begann mit der Gleichschaltung im Jahre 1933.
Dieser Prozeß begann mit der Gleichschaltung im Jahre 1933.Und als Goebbels seine Propagandafilme zu machen begann, gab es kaum noch ein Land, das sich für den deutschen Film interessierte. Nein, die negative Einstellung der Alliierten zum deutschenFilm ist, zumindest 1945, nicht von geschäftlichen Interessen diktiert.
Die Sieger denken vielmehr an das, was der deutsche Film in den letzten zehn bis zwölf Jahren produzierte. Daher der Wunsch der Alliierten, daß der deutsche Film nie wieder werden soll, was er einmal gewesen ist.
1955 - Es wieder einen entscheidenden Schritt vorwärts
......, einen entscheidenden Schritt: Ende 1955 kehrt die Bavaria zum Leben zurück. Sie ist aus der Liquidationsmasse der UFA herausgelöst worden.
Die Bavaria Filmkunst AG entsteht und wird in Geiselgasteig als große Filmgesellschaft wieder produzieren.
Wenige Wochen später erlebt auch die UFA ihr comeback.
Am 24. April 1956 hat der UFI-Abwicklungsausschuß mit dem Verkauf der UFA-Theater AG Düsseldorf und der Universum-Film AG Berlin seine Aufgabe erfüllt, das heißt, den Hauptteil des ehemaligen reichseigenen Filmvermögens verkauft. Eine Bankengruppe ist der Käufer.
Mitbeteiligt ist der Herzog-Filmverleih und die Berolina sowie die AEG, AGFA, ZEISS-IKON. Vierzig Millionen sollen investiert werden, um die neue UFA zum Blühen zu bringen. 12,5 Millionen beträgt die eigentliche Kaufsumme, siebzehn Millionen werden als Betriebskapital nötig sein, und um die Verschuldungen abzutragen, zehn Millionen werden für die neuen Ateliers gebraucht werden.
Sechzehn bis achtzehn Filme pro Jahr sollen vorläufig hergestellt werden.
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Die UFA ist also wieder da.
Noch fehlt die eigentliche Basis, noch gibt es kein wiedervereinigtes Deutschland (dies Buch von Curt Riess ist aus 1956 !!), noch werden die neuen Filme der UFA und Bavaria und die Filme der CCC, der Real-Film und die Filme der unabhängigen Produzenten nicht vor rund siebenundsechzig Millionen Deutschen gespielt werden, sondern nur in Westdeutschland mit seinen rund fünfzig Millionen Einwohnern.
Immerhin: die Statistiken sind ermutigend.
Im Jahre 1925 gingen zum Beispiel 275 Millionen ins Kino, das macht 5,6 Kinobesuche auf den Kopf der Bevölkerung.
Im Jahre 1932 - zur Zeit der größten Arbeitslosigkeit und der furchtbaren Krise - war die letztere Zahl auf 4,6 gesunken.
In den dreißiger Jahren schwoll sie an. Im Jahre 1936, zum Beispiel, gingen 361 Millionen Menschen ins Kino, das heißt, es kamen auf den Kopf der Bevölkerung 6,9 Kinobesuche.
Während des Krieges, als nichts mehr zu kaufen war, erhöhten sich diese Ziffern auf 14,4 Kinobesuche auf den Kopf der Bevölkerung.
Im Jahre 1945 gab es nur 150 Millionen Kinobesucher oder 3,4 Besuche pro Mann und Nase in Westdeutschland und Westberlin. Dies war ja das Jahr, in dem die meisten Bomben fielen und wochenlang, in manchen Teilen des Landes monatelang, die Kinos geschlossen waren oder die frühe Polizeistunde die Bevölkerung daran hinderte, sich Filme anzusehen.
Aber von da an ging es steil nach oben, und 1953 gingen in Westdeutschland und Westberlin 675 Millionen Menschen ins Kino; das bedeutete 13,1 Kinobesuche pro Kopf, das heißt, in dieser Zeit, in der es alles gab, wurde fast der höchste Prozentsatz des Dritten Reiches erreicht, jener Prozentsatz, der ein künstlicher war und nur dadurch zustande kam, daß die Menschen nichts anderes mehr kaufen konnten als die Karten in ihrem Stammkino.
In der Zwischenzeit (wie gesagt, wir sind jetzt im Jahr 1956) sind alle Kinorekorde aus der Hitlerzeit längst überholt.
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Wer darf denn nach 1945 überhaupt noch filmen?
Wer fotografieren, beleuchten, eine Dekoration entwerfen, sie bauen, schminken, frisieren, ja auch nur die Ateliers auskehren? Wer ist unbelastet genug dazu?
Gibt es noch jemanden, der seinen Fragebogen mit gutem Gewissen ausfüllen kann? Eines ist von Anfang an offensichtlich: der Film wird schlechter, zumindest strenger behandelt als die anderen Industrien.
Die Sieger haben vergessen, daß es einen deutschen Film vor Hitler gegeben hat, ja, daß er von denen geschaffen worden ist, die Hitler am meisten haßten.
Für sie ist er nichts als die Propagandawaffe von Goebbels gewesen, ein Monopol des Staates. Den Nationalsozialismus zu zerschlagen, bedeutet für viele der Sieger, auch die Filmindustrie zu zerschlagen.
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Die Lex UFI wird geschaffen - ein Gesetz
Die Lex UFI wird geschaffen - das Gesetz, das die Entflechtung der UFA, der zuletzt einzigen deutschen Filmfirma, verlangt. Entflechtung, nicht etwa mit dem Ziel, den Stand von vor 1933, dem Jahr der Machtergreifung Hitlers, wiederherzustellen.
Entflechtung vielmehr bis zur völligen Auflösung ... Und trotzdem: bald wird wieder gefilmt. Es fehlt zwar an allem: an Rohfilm und Strom, an Lampen und Aufnahmeapparaten, an Kostümen. Es gibt keine Latten, keine Nägel, keine Tapeten.
Die Schauspieler brechen entkräftet während der Aufnahmen zusammen. Sie haben seit Tagen nichts Warmes mehr im Leibe. Und trotzdem wird gefilmt. In halb zerbombten Ateliers, in Wirtschaften, in Schulzimmern.
Niemand weiß, wo Nähgarn für Kostüme aufgetrieben werden kann, von Stoffen, Futter, Stühlen, Geschirr ganz zu schweigen. Und trotzdem wird weitergefilmt...
Und dann ist das Schlimmste vorüber, dann gibt es wieder Strom und Kohlen, Benzin und Rohf ihn, Nägel und Holz. Und es entstehen die ersten großen Nachkriegsfilme.
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Erich Pommer kehrte zurück aus Hollywood
Das ist nicht zuletzt das Verdienst eines Mannes, der plötzlich wieder da ist: Erich Pommer kehrte zurück aus Hollywood, wohin er einst emigriert war.
Zuerst als amerikanischer Offizier, später wieder als Produzent. Er ist es, der die erste Initiative ergreift, er ist es, der den großen Könnern wieder in den Sattel hilft.
Viele fürchten ihn: wird er die nicht hassen, die ihn vertrieben haben? Wird er nicht die vernichten, die ihn vernichten wollten? Er denkt nicht daran. Die große Liebe seines Lebens ist immer der deutsche Film gewesen. Auch jetzt bleibt sie es - mehr vielleicht, als er zugeben will.
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Aber Zahlen sind nicht alles.
Vorläufig bleibt die Erinnerung an das „Es war einmal vor langer, langer Zeit" das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Ja, es gibt heute größere und schönere Film-Theater oder Lichtspiel-Paläste denn je, die Leute gehen mehr ins Kino als früher ..., aber werden sie in zwanzig, in dreißig und vierzig Jahren noch zurückdenken, wie wir heute diese zwanzig und dreißig und vierzig Jahre zurückdenken ......
- an die Großtaten des deutschen Films zwischen 1915 und 1933 ...
- an die UFA, wie sie einmal war ...
- an Ernst Lubitsch und Fritz Lang ...
- an den kleinen Davidson und an Erich Pommers große Filme ...
- an die blonde Henny Porten und die schwarze Asta Nielsen ...
- an Pola Negri und an Renate Müller ...
- an „Madame Dubarry" und die „Nibelungen" ... und
- an den größten aller UFA-Erfolge „Der Kongreß tanzt"?
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Das Lied der Lilian Harvey - "Das gibt's nur einmal!"
Da gab es doch ein hübsches junges Wiener Waschermadl in diesem Film, dargestellt von der bezaubernden Lilian Harvey, die sang - und wenige Tage, nachdem der Film herausgekommen war, sang es ganz Deutschland:
- Das gibt's nur einmal!
- Das kommt nicht wieder.
- Das ist zu schön, um wahr zu sein ...
Alte Filme sind wie alte Melodien, sind wie Lieder, die wir einmal irgendwo gehört und wieder vergessen haben. Aber wir dachten nur, daß wir sie vergessen hätten. Und plötzlich wissen wir wieder alles. Wir sehen sie wieder, die Filme, wie sie damals waren, vielleicht sogar ein wenig schöner als sie damals waren, denn alles ist ja schöner in der Erinnerung ...
ENDE
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Das zweite Buch aus 1957 "Das gibt's nur einmal" kommt auch
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