"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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ERSTER TEIL • SO BEGANN ES
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KINTOPP
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Oktober 1912 - Die „Berliner Morgenpost" berichtet:
In Konstantinopel sind viertausend Fiaker-Kutscher in den Streik getreten. Die Prinzessin Isabella Marie von Bayern hat den Papst ersucht, ihre Ehe mit Prinz Georg für ungültig zu erklären. Es bestehe unüberwindliche Abneigung, die sich freilich erst nach der Hochzeitsreise eingestellt habe ...
In Neustrelitz ermordet der Gutsinspektor Lemke Frau und Kind. Er will sich darauf selbst aufhängen, aber dazu fehlt ihm der Mut. Ein Versuch, sich die Pulsadern aufzuschneiden, mißlingt ...
Im Amtsgebäude von Reichenbach ersticht Herr Grimm einen Deutschen, der in seiner Ehescheidungssache ungünstig für ihn ausgesagt hat ...
Der Ballon „Reichsflugverein" explodiert. Beide Insassen, Oberleutnant Stieler und Ingenieur Gericke, sind sofort tot... Zusammenstoß zwischen Straßenbahn und Leichenwagen in Leipzig. Der Leichenwagen kippte um. Die Leiche wurde auf die Straße geschleudert ...
Einbruchdiebstahl im Schloß der Exkönigin Natalie von Serbien. Das Schloß liegt in der Nähe von Bayonne. Man vermißt wertvolles Silbergerät, Schmuck und Juwelen der Königin sowie der untröstlichen Ehrendamen.
Oktober 1912 - in einem Berliner Kino „Gebrochener Stolz"
Und in einem kleinen Berliner Kino spielt man die dritte Woche:
„Gebrochener Stolz" Großartig! Spannende Handlung! Das ist keineswegs alles. Im Programm sind weiterhin zu sehen: „Die dreifache Waise", ergreifender Kunstfilm der Gegenwart, sowie „Hurra! Der Erbonkel!" Hierzu bemerkt die stolze Direktion ausdrücklich: „Länge vierhundert Meter".
In Schlange treten Besucher an die Kasse, erwerben ein Billett und stehen eine Minute später im verdunkelten Zuschauerraum.
Das Theater ist schmal - eine Sitzreihe hat zehn bis fünfzehn Plätze - dafür aber recht lang. Es macht den Eindruck eines Schlauchs. Es ist wohl seit Tagen nicht gelüftet worden. Das Publikum ist gemischt. Vorderhaus und Hinterhaus, die Herrschaft und die Dienstboten, Taxichauffeure und Portiers.
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Kein Eintritt für Schuljungen unter 17 Jahren - aber nicht immer
Und sehr viel Schuljungen, obwohl das Betreten Jugendlichen unter siebzehn Jahren verboten ist. Aber der Kontrolleur nimmt es nicht so genau. Alle Augen folgen den heftigen Gebärden des europäischen Rasseweibes, deren Rasse sich dadurch bemerkbar macht, daß sie nicht einen Augenblick lang die Arme oder Hände ruhig lassen kann.
Dazu hört man das Surren des ablaufenden Films sowie die Klänge eines Klaviers. Manchmal, an ergreifenden Stellen, verläßt der Klavierspieler sein Instrument, um sich dem Harmonium zuzuwenden. Dies geschieht meist dann, wenn eine der Hauptpersonen im Sterben liegt.
Das europäische Rasseweib bringt Tränen in aller Augen. Wut erfüllt die Zuschauer über den bösen Mann mit dem Schnurrbart, der ihren Stolz, wie der Titel es verheißt, zerbricht. Und sie beruhigen sich erst, als auch er sein verdientes Schicksal findet, nämlich mit seinem Auto einen Bergabhang herunterkullert und in Flammen aufgeht.
Es geht zwar nur ein winziges Modell in Flammen auf, aber das Publikum von 1912 weiß das noch nicht. Es ist aufs tiefste ergriffen, teils von den Fügungen des Schicksals, teils von den Wundern der Kinematographie und der Fähigkeit der Filmfritzen, „wie die das nun wieder machen!"
Zum Stummfilm gab es ganz vorne den "Filmerklärer"
Sollte noch irgend etwas unklar sein, dann greift der Filmerklärer ein. Das ist der Mann, der plötzlich und ein wenig unmotiviert vor der Filmleinwand erscheint, allerdings so, daß er nichts Wesentliches verdeckt. Man merkt ihm an, daß ihn die Sache zu langweilen beginnt.
Er hat ja nun das europäische Rasseweib bereits vierzehn Tage lang gesehen, täglich sechs- bis achtmal. So berichtet er manchmal über Szenen, die noch gar nicht abgelaufen sind.
Während der Bösewicht noch mit geballten Fäusten und fletschenden Zähnen die Leinwand unsicher macht, ist er bereits bei dem Liebespaar angekommen, das sich an der Quelle im Walde kosend umfängt. Macht nichts. Es ist ja noch die Musik da.
Der Klavierspieler geht sofort in Sindings „Frühlingsrauschen" über, und die Situation ist gerettet.
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Und den Klavierspieler oder den Mann am Harmonium
Der Klavierspieler hat ein kleines Repertoire, das er aber hartnäckig ausnutzt. Wenn man in seinem Kino zwei oder drei Programme gesehen hat, hat man alles gehört, was er zu spielen entschlossen ist.
Warum sollte er auch mehr können, wo doch die gleichen Situationen sich immer wiederholen? Für Verfolgungsszenen oder dahinrasende Expreßzüge sind „Zampa oder die Marmorbraut" oder das Gewitter aus der Ouvertüre zu „Wilhelm Teil" am besten geeignet.
Bei tragischen Szenen, wenn etwa eine Mutter ihre verlorene Tochter oder eine Tochter ihre verlorene Mutter wiederfindet, der zweite Satz der 5.Symphonie von Tschaikowsky. Zwei, drei Ouvertüren von Mendelssohn sind immer zu verwenden. Bei Mondscheinspaziergängen einsamer Dichter oder Fabrikdirektoren kann die „Unvollendete" wärmstens empfohlen werden.
Der Wichtigste ist nach wie vor der "Filmvorführer"
Hinter und über allem thront der Vorführer. Es wird ewig eines der ungelösten Mysterien dieser Epoche bleiben, daß nicht sämtliche Filmvorführer in Flammen aufgegangen sind.
Denn obwohl man weiß, daß und wie sehr Zelluloid entzündbar ist, und obwohl die Baupolizei ausführliche Vorschriften erlassen hat - kein Mensch kümmert sich um sie. Am allerwenigsten der Vorführer selbst.
Da er selten durch sein Fensterchen auf die Leinwand blickt, kommt es oft vor, daß man anstatt eines ganzen Bildes zwei halbe sieht; auf der oberen Hälfte erscheint der Unterkörper der agierenden Schauspieler, die wie geköpft wirken; auf der unteren Hälfte erscheinen die Köpfe. Das wird erst berichtigt, wenn das Publikum zu protestieren beginnt.
Dann wiederum wird es plötzlich dunkel. Und aus dem Vorführraum hört man: „Ich muß neue Kohlen einlegen! Es ist kein Licht mehr drauf!" Im übrigen wird jeder Film mindestens zwei- oder dreimal unterbrochen. „Er hackt."
Die Filme - aufregend und herzzerbrechend komisch und blöd
Nun läuft der „Erbonkel". Das Publikum will sich vor Lachen ausschütten über die vielen Teller und Tassen, die herunterfallen; über den Polizisten, der in Verfolgung eines Missetäters ausgleitet und in eine Pfütze fällt. Es ist irrsinnig komisch!
Zwar gibt es auch ältere Besucher, die nicht so recht zu überzeugen sind. Sie finden die Sache „unnatürlich". Sie verstehen eben nichts von Kunst, und vor allem, sie gehen mit ihrer Zeit nicht mit. Wirklich moderne Menschen schwärmen fürs Kino.
Sie sehen „Herr Puppel hat das Spiel verloren!" und „Lottchen bewacht das Haus!", „Moritz und die Erbtante" und „Aufopferung einer Schwester". Und „Die zerbrochene Vase". Es ist alles aufregend und herzzerbrechend komisch und blöd.
Der Kinobesitzer "macht Platz" für die nächsten Besucher
Und dazwischen wird es hell, und die Stimme des Kinobesitzers erschallt, um darauf hinzuweisen, daß die Nummern 231 bis 261 jetzt ungültig geworden sind, was bedeutet, daß eine Reihe von Besuchern das Kino verlassen muß, weil sie bereits das ganze Programm gesehen haben. Sie tun es ungern, denn sie könnten das gleiche noch einmal und immer wieder sehen.
Vorab - ein paar Statistiken aus dem Jahre 1910
Lesen wir eine Statistik aus dem Jahre 1910. In 250 Abenteuer-Filmen kommen vor: 97 Morde, 45 Selbstmorde, 51 Ehebrüche, 12 Verführungen, 22 Entführungen, 25 Betrunkene, 45 Dirnen. Jetzt ist die Wochenschau dran.
Da gibt es Bilder von der trauernden Bevölkerung eines fernen Landes, das von einem Erdbeben heimgesucht wurde ...
Plymouth: die feierliche Beisetzung des Schiffskommandanten Hamilton Gordon ... Moskau: Salutschüsse im Kreml ... Kairo: ein Flugzeug überfliegt die Pyramiden ... München: Großalarm der Feuerwehr ... Venedig: die Tauben auf dem Markusplatz werden von Hochzeitsreisenden gefüttert ... Eine ganze Generation von Kinobesuchern sieht die dicken, fetten Tauben, die wieder und immer wieder auf dem Markusplatz gefüttert werden ...
Und dann beginnt von neuem ... „Gebrochener Stolz", die Tragödie eines europäischen Rasseweibes ...
1912 schon einige hundert Lichtspieltheater in Deutschland
Wie die Pilze sind die Lichtspieltheater aus der Erde geschossen. 1910 gibt es in jeder größeren Stadt nur ein paar, 1912 schon einige hundert in Deutschland. Ja, man baut schon richtige Filmtheater, verdunkelte und improvisierte bestuhlte Läden.
So viele Kinos gibt es, daß ein ständiger Mangel an (Film-) „Ware" sich bemerkbar macht. Die Filmverleiher, die ebenfalls über Nacht entstanden sind, begnügen sich bald nicht mehr mit einem kleinen Prozentsatz, sie kaufen das Aufführungsrecht eines Filmes für ganze Städte, ja, für ganze Provinzen.
Was ihnen gefällt, ist gut; was ihnen nicht gefällt, ist schlecht. Sie treiben die Hersteller der Filme zum Wahnsinn.
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Die Probleme der Filmemacher
Ein Film, der das Vermögen von fünfunddreißigtausend Mark gekostet hat, findet unter Umständen vor ihren Augen keine Gnade. Sie meinen, es wäre nichts für ihre Kundschaft.
Bestellungen sehen ungefähr so aus: „Bitte, schicken Sie mir für die nächste Woche zwei- bis dreihundert Meter Liebesidylle. Falls Sie einen Unglücksfall am Lager haben sollten, so möchte ich ihn ebenfalls für nächste Woche haben.
Wenn „Der deutsche Kaiser in Rom" nicht mehr als ein Kilo wiegt, können Sie ihn ebenfalls beipacken. Viel Wert hat diese Sache jedoch nicht. Die „Krönung des Königs von Montenegro" wünsche ich erst im nächsten Monat."
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Neue Firmen entstehen wie Mutoskop, Bioskop, Vitaskop usw.
Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, Filme herzustellen. Aber offenbar sind die Männer, die Filmfirmen gründen, nur von idealen Motiven beflügelt.
Denn es entstehen Dutzende dieser Firmen, wie die Mutoskop, Bioskop, Vitaskop und andere Firmen, die sich Apollofilmgesellschaft, Lunafilmgesellschaft und Heliosfilmgesellschaft nennen. Sie florieren, oder sie gehen pleite, vor allem aber fusionieren sie.
Dies ist ein Charakteristikum der noch jungen Filmbranche, das sie auch nicht in späteren Jahren ablegt. Man gründet zwei, drei Gesellschaften, um gleich darauf zu verkünden, daß aus diesen zwei, drei Gesellschaften eine geworden sei.
Wie man um 1912 "Gewinne" macht ...
Dahinter, selbst dem Eingeweihten unsichtbar, stehen die Finanziers, diese abenteuerlichen Herren, die wirklich 10.000 oder gar 15.000 Mark zur Herstellung eines Filmes ausgeben.
Ist das Geld, wie ihre Bankiers und Anwälte ihnen versichern, verloren? Es ist nicht verloren. Aus den 10.000 und 15.000 Mark werden 30.000 und 60.000. Eine GmbH, wird gegründet. Wenn alles gut geht, wird eine Aktiengesellschaft daraus. Es geht gut. 1912 gibt es in Deutschland mehr als zehn Millionen Kinobesucher.
Die Polizei und die Zensur - wegen der guten "Sitten"
Eine neue Macht ist entstanden. Die Presse nimmt den Film zwar lange nicht ernst, um so ernster nimmt ihn die Polizei. Sie fürchtet, er würde die Sitten verderben.
Verschiedentlich wird die Einführung einer Zensur gefordert, die - in der ersten Zeit - besonders darauf sehen soll, daß die Polizei nicht lächerlich gemacht wird. Außerdem wird beklagt, daß die Polizeibehörden keinerlei Handhabe besitzen, um gegen „sexuelle Schundfilme, Animierfilme und Verbrecherfilme" vorzugehen.
1911 wird das grundlegend geändert. Jeder Film ist vierundzwanzig Stunden vor seiner Auffüllung beim Bezirksamt zur Begutachtung vorzulegen. Das hat in jeder Stadt, in der er vorgeführt wird, zu geschehen. So kommt es vor, daß ein Film, in Berlin erlaubt, in München verboten wird; das Umgekehrte kommt allerdings nicht vor.
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Wenn das Menschenkind "seelisch zerstört" wird ...
Ein anonymer Artikel in der Zeitschrift „Deutsches Volkstum" erklärt: „Die tiefste und ernsteste Gefahr des Kinos wird erst von ganz wenigen gesehen. Wenn ein Menschenkind wöchentlich ein-, zwei-, dreimal ins Kino geht, so wird es schon allein durch die Theatervorführung, abgesehen vom Inhalt, seelisch zerstört ...
Man gewöhnt sich, dem zufälligen Aneinander der Bilder willenlos zu folgen ... Es bleiben also nur die groben, überraschenden, sensationellen Eindrücke haften ... Man ist Schlagwortmensch geworden ..."
Die Schauspieler und die künstlerische Würde
Die Schauspieler wollen vorerst mit dem Film nichts zu tun haben, der jeder künstlerischen Würde entbehrt. Später, als der würdelose Film gewisse finanzielle Chancen bietet, werden sie anders über den Fall denken ...
Nur die Komiker Otto Reuter und Fritz Steidl sind interessiert. Endlich können sie, die in den Berliner Revuen Triumphe feierten und über deren Witze und Couplets sich das Publikum vor Lachen ausschütten will, ihren Jugendtraum wahr machen: sie stehen als Friedrich der Große und Napoleon I. vor der Kamera.
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Als die Theaterdirektoren das "Lächeln" verlernten
Die Theaterdirektoren lächeln anfangs bei dem Gedanken, daß die Kinos sich zur Konkurrenz entwickeln könnten. Aber sie lächeln nicht lange.
1912 müssen sie feststellen, daß zweiundzwanzig deutsche Bühnen (und neunundzwanzig österreichische) ihre Pforten geschlossen haben. Nun holen sie zum Gegenschlag aus.
Den engagierten Schauspielern wird bei Konventionalstrafe verboten, bei Filmaufnahmen mitzuwirken, „weil nur das Theater künstlerische Leistungen hervorzubringen imstande ist..."
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Schriftsteller werden gesucht
Um künstlerische Leistungen hervorzubringen, ist vor allen Dingen ein vernünftiger Text notwendig. Wer könnte ihn schreiben?
Die meisten Schriftsteller nehmen den Film nicht ernster als die Theaterdirektoren. Maurice Maeterlinck spricht von ihm als „einem nebensächlichen Möbel des täglichen Lebens, ebenso harmlos wie eine Wanduhr, ein Phonograph oder ein Kandelaber."
Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal äußern zwar, daß das Lichtspiel eine neue Kunstform sei, schreiben aber nur für das Theater. Die Filmdichter schreiben überhaupt nicht. Sie erzählen.
Sie schlängeln sich in die Nähe des Regisseurs und flüstern aufgeregt, sie hätten „eine großartige Idee". Wenn der Regisseur zuhört, kommt ein Film zustande. Die Regisseure dieser Zeit verfügen über ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis.
Gelegentlich machen sie sich wohl ein paar Notizen auf der Manschette. Wenn sie dann nicht weiter wissen, suchen sie den Gang der Handlung zu entziffern.
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Die ersten Manuskripte bzw. Drehbücher entstehen
Um 1912 herum gibt es dann eine Revolution. Man beginnt, Filmhandlungen aufzuschreiben. Regelrechte Manuskripte entstehen, die Länge eines Manuskriptes beträgt zwei, manchmal drei Seiten.
Und nun dichten sie. Es wird geliebt und gehaßt, es wird betrogen und gerächt, man verkleidet sich und entlarvt einander, Menschen sterben, freilich nie, ohne vorher entsetzliche Geständnisse gemacht zu haben. Menschen bringen sich gegenseitig um.
Es geht hoch her auf der Leinwand. Trotzdem werden die Filmautoren nicht reich. Filme kann jeder schreiben. Die Filmgesellschaften werden mit Einsendungen überschwemmt.
Lehrer und Studenten, Köchinnen und kaufmännische Angestellte, Söhne aus guter Familie - sie alle haben „Einfälle". Sie sitzen in den Vorzimmern, sie warten geduldig, bis irgendjemand sie anhört, sie ziehen dicke Manuskripte aus den Taschen, sie verzichten von vornherein auf alle Tantiemen.
Sie sind von der Befürchtung gepeinigt, daß man sie bestehlen will, und sie erwähnen immer wieder, wie beiläufig, daß eine Kopie ihres Meisterwerkes bei ihrem Rechtsanwalt deponiert worden sei.
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Wenn in einem Atelier zu gleicher Zeit 3 Filme gemacht werden
Noch gibt es wenig Ateliers. So passiert es, daß zwei, drei verschiedene Gesellschaften zu gleicher Zeit in einem Atelier arbeiten, hier wird ein Lustspiel gedreht, in dem es viel Scherben gibt, gleich nebenan ein historisches Trauerspiel - die Darsteller in langen Bärten - und wieder einen Schritt weiter kriecht der berühmte Verbrecher auf dem Fußboden herum, auf dem die Kulisse, eine Häuserwand, liegt, so daß die Sache nachher ungemein halsbrecherisch aussieht ... Die Regisseure brüllen durcheinander.
Die Regisseure dürfen noch brüllen, denn der Tonfilm ist ja noch lange nicht erfunden. Sie brüllen, weil sie der Überzeugung sind, daß sie dadurch die Schauspieler zu größeren Leistungen anspornen.
Zuschauer träumen die ganze Nacht von den Filmen
Aber davon wissen die Zuschauer nichts, die in unserm kleinen Kino, atemlos spannend, den Film „Gebrochener Stolz" erleben. Es ist ja nicht nur dieser Film, es sind die vielen Dutzend Filme, die sie in den letzten Monaten gesehen haben und die sie in den nächsten Monaten sehen werden, die ihr Leben, die sie selbst verändern.
Seht, nun ist die letzte Vorstellung zu Ende, es ist schon zehn Uhr abends, sie treten heraus aus dem Kino, sie gehen zur U-Bahn oder zum Pferdeomnibus oder zur elektrischen Straßenbahn, und wenig später sind sie zu Hause und im Bett ...
Aber sie sind ja beileibe nicht in ihren kümmerlichen Zimmern oder in ihren kalten, prächtigen Wohnungen, sie gehören nicht ganz dem Leben, das sie so viele Jahre schon führen, nicht den Büros oder Fabriken, von denen sie morgen wieder geschluckt werden, nicht den Restaurants, in denen sie bedienen, den Friseurläden, in denen sie rasieren und Haare schneiden.
Sie füttern die Tauben auf dem Markusplatz. Sie schreiten zusammen mit dem Zaren eine Ehrenwache vor dem Kreml ab. Sie überfliegen die Pyramiden bei Kairo, halten dem Schiffskommandanten Hamilton Gordon die Grabrede in Ply-mouth ...
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Vor allem die Männer haben ihre Träume
Die Männer halten das europäische Rasseweib umschlungen. Die Frauen liegen in den Armen des kühnen Helden. Wer möchte nicht mit dabei sein? Wenn auch nur ein paar Stunden lang in dem schlauchartigen Kintopp, in dem man kaum atmen kann und wo einem das Herz bis zum Halse schlägt, sei es, weil Hedda Vernon im Begriffe ist, vom Orientexpreß überfahren zu werden, der auf der Vorortstrecke nach Luckenwalde aufgenommen wurde; sei es, weil das Billet 238 schon längst abgelaufen ist und man den suchenden Augen des Direktors, der an den Reihen entlangstreicht, zu entgehen hofft.
Morgen: das Büro, die Fabrik, das Restaurant, der Friseurladen. So ist es ein ganzes Leben lang gewesen, und so wird es auch bleiben. Aber einmal, zweimal jede Woche kann man dem allen entfliehen - mit einer schönen Frau im Arm, während der böse Graf vor Wut knirscht, von dem unsympathischen Hund ganz zu schweigen. Und: Nächste Woche - neues Programm!
DIE NIELSEN
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Eigentlich hat der Film in Frankreich begonnen .....
Eigentlich hat der Film in Frankreich begonnen, es sind dort die ersten wirklich guten Filme gemacht worden, die Brüder Pathé haben lange Zeit den Markt beherrscht, nicht nur den französischen, sondern auch den europäischen.
Es gibt einen großen Komiker in Frankreich, einen Max Linder, mit todernstem Gesicht, dem alle möglichen Dinge passieren, und zuletzt läuft er davon, und alle laufen ihm nach: Polizisten, Marktfrauen, Verkäuferinnen eines Warenhauses. Das Ganze ist ungemein komisch.
Immerhin zahlt Deutschland bis zum Beginn des ersten Weltkrieges mehr Geld für Filme an Frankreich, als Frankreich nach dem Krieg 1871 an Reparationen nach Deutschland abgeführt hat.
Etwa zeitgleich entstehen die ersten amerikanischen Filme
Etwa um die gleiche Zeit, da man in Frankreich zu filmen beginnt, entstehen auch die ersten amerikanischen Filme. Im Nu erobert die neue Kunst das riesige Land.
Schon vor Beginn des Weltkrieges gibt es rund fünftausend amerikanische Kinos; die Produktion - die zuerst in New York, später in einem kleinen und selbst in Amerika unbekannten kalifornischen Ort namens Hollywood vor sich geht - kommt nicht mehr nach. Die Produktion: das sind vor allem Wildwest-Filme.
Die italienischen Monumentalfilme - aber noch stumm
In Italien werden große historische Filme mit Tausenden von Menschen und Hunderten von Tieren gedreht, ein bißchen sehr opernhaft. Die Schauspieler lassen ihre Augen fürchterlich rollen und reden heftig mit Armen und Händen.
Es entstehen: „Quo vadis", „Die letzten Tage von Pompeji" (in acht Fortsetzungen), „Julius Cäsar", „Nero" und „Cleopatra".
Die Nordisk Filmgesellschaft aus Dänemark
Viel wichtiger als Italien ist das kleine Dänemark, das seit 1906 zu den führenden Filmländern der Welt gehört, seit dem Tag, da Ole Olson, ein berühmter Kunstsammler, die Nordisk Filmgesellschaft gegründet hat.
Es sind in dem kleinen Lande im Jahre 1915 - nur um dieses eine Jahr zu nennen - nicht weniger als dreihundert Filme hergestellt worden. Natürlich sind die meisten dieser Filme Einakter oder höchstens Zweiakter.
Trotzdem bleibt die Zahl erstaunlich, auch die Zahl der Filmschauspieler, die Dänemark bereits hervorgebracht hat. Da ist Waldemar Psylander. Die Frauen weinen herzzerbrechend, wenn er spielt. Er trägt auch besonders schöne Krawatten.
Aber Waldemar Psylander hat bereits Nachfolger: Olaf Fönss und Gunnar Tolnaes und Viggo Larsen, der 1910 nach Deutschland gekommen ist.
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Asta Nielsen
Und da ist Asta Nielsen. Ihr Name ist in Berlin ebenso bekannt wie in Peking. Sie ist in Kapstadt beliebt wie in Wladiwostok, sie wird in Paris so vergöttert wie in Hongkong.
Es gibt Asta-Nielsen-Zigaretten und Asta-Nielsen-Hüte, Asta-Nielsen-Federboas und Asta-Nielsen-Korsette - und natürlich Asta-Nielsen-Theater.
Wie kam sie zum Film ?
Die Eltern sind arm. Der Vater verdient sich als Arbeiter mühselig sein Brot. Die Mutter näht und wäscht. Asta wird mit sechzehn Jahren Verkäuferin in einem Milchladen. Sie verliert beide Eltern.
Abends, wenn der Milchladen schließt, nimmt sie bei einem halbverhungerten ehemaligen Schauspieler Stunden. Und eines Tages stellt sie sich beim "Neuen Theater" vor. „Ich will spielen", erklärt sie. „Da könnte ja jeder kommen!" lacht die Sekretärin des Direktors.
Der Direktor lacht nicht. „Sie sind viel zu mager, hübsch sind Sie auch nicht, meine Liebe, aber irgendetwas sagt mir, daß Sie es vielleicht schaffen werden. Ich wage es!" Die Nielsen spielt moderne Tragödien und Komödien.
Die altehrwürdigen Besucher des "Neuen Theaters" schütteln die Köpfe. „Dieses Mädchen hat ja gar keinen Busen!« äußern sie betreten. Und die Stücke, die sie spielt, Strindberg und Wedekind und Hauptmann, gefallen ihnen auch nicht. Das Neue Theater würde bald seine Pforten schließen müssen, wenn es nur moderne Literatur spielte.
Glücklicherweise gehen die Operetten besser. 1910 schlägt Leo Falls „Dollarprinzessin" besonders gut ein. Das Theater ist auf Monate hinaus ausverkauft. Das bedeutet, daß Asta Nielsen auf Monate hinaus arbeitslos wird. Ihre Gage bekommt sie zwar - aber was bedeutet Geld?
Asta Nielsen will spielen!
Sie will spielen! Sie muß spielen! Sie ist unglücklich, wenn sie nicht auf der Bühne stehen darf. In den Literaten-Cafès von Kopenhagen ist sie keine Unbekannte mehr. Die Journalisten, Schriftsteller, Maler halten etwas von ihr.
Ein junger Mann, der schon einen Roman veröffentlicht hat, fragt sie: „Warum machen Sie nicht einmal einen Film?" „Einen Film? Das ist doch keine Kunst."
Aber die „Dollarprinzessin" will und will nicht vom Spielplan weichen. Asta ist der Verzweiflung nahe. Manchmal denkt sie daran, daß es vielleicht doch nicht das Schlechteste wäre, zu filmen. Der gleichen Ansicht ist der ebenfalls beschäftigungslose Regisseur des Neuen Theaters, Urban Gad.
Asta geht ins Kino.
Er erklärt ihr, wie das mit dem Filmen ist. „Sie stehen vor der Kamera, Sie spielen, und das Ganze wird fotografiert ..."
Asta geht ins Kino. Es ist ein schrecklicher Film, den sie zu sehen bekommt, aber er fasziniert sie. Allein vor der Kamera stehen ... Nur fühlen müssen ... Nur denken müssen ... Sie würde nicht, wie die Hauptdarstellerin jenes Films, Theater spielen. Sie würde nur die Situation, in der sie ist, fühlen. Und die Leute im Kino würden spüren, was in ihr vorgeht.
Ein Kinobesitzer gibt das nötige Geld, das ganze Geld, das er besitzt. Der Film „Abgründe" wird im Hof eines Gefängnisses gedreht - wegen der Beleuchtung und wegen der billigen Miete.
Vom ruinierten Mann zum reichen Mann
Als der Film fertig ist, stehen dem Kinobesitzer die Haare zu Berge. Er erklärt jedem, der es wissen will, daß er ein ruinierter Mann sei.
Ein paar Monate später weiß er, daß er ein reicher Mann ist, denn der Film wird durch die Nielsen ein Welterfolg. Was kann sie denn, was die andern nicht können? Das ist schwer zu sagen ...
Bei den anderen Schauspielerinnen hat man immer das Gefühl, daß sie spielen ... bei der Nielsen spürt man, daß sie ganz einfach da ist. Die anderen reden während der Aufnahme, als ob sie auf der Bühne stünden - und natürlich versteht kein Mensch, was sie sagen, der Film ist ja stumm, Gott sei Dank!
Die Nielsen redet nicht, sie sieht einen nur an mit ihren großen dunklen Augen, und es geht einem durch und durch. Man vermeint sogar, ihre Stimme zu hören.
DIE NAPOLEONE DES DEUTSCHEN FILMS
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Generaldirektors Paul Davidson vom Union-Film
Asta Nielsen ist schon vor dem ersten Weltkrieg nach Deutschland gekommen. Das ist das Werk des Generaldirektors Paul Davidson vom Union-Film, der ihr das Fünfzigfache von dem bot, was sie in Dänemark verdiente. Jawohl, das Fünfzigfache.
Davidson pflegt seine Geschäfte in großem Stil zu tätigen. Dabei wirkt er gar nicht so, wie man sich einen Generaldirektor vorstellt. Er hat nie versucht, zu verheimlichen, daß er von unten heraufkam. Er ist niemals ,Herr' geworden.
Sohn eines Kaufmanns aus Lötzen in Ostpreußen, arbeitete er in der Textilbranche, reiste in Gardinen und verdiente viel Geld.
Die "Allgemeine Kinematograph GmbH" in Frankfurt
Er hatte in Paris seinen ersten Film gesehen und sofort begriffen: hier war die Zukunft. Er ließ Gardinen Gardinen sein und gründete im Jahre 1905 mit zwanzigtausend Mark Kapital die Allgemeine Kinematograph GmbH, in Frankfurt am Main, um überall in Deutschland Filmtheater zu errichten.
Er nannte sie Union-Theater, abgekürzt UT. Bald gab es in allen größeren Städten zumindest ein UT. Er gründete auch die Union-Projektions-AG. - schon mit fünfhunderttausend Mark - und begann Filme zu produzieren. Er holte die Nielsen nach Deutschland. Er baute die Filmateliers in Tempelhof, die heute noch stehen.
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Der Diktator Davidson mit dem Napoleonkomplex
Winzig, stämmig, immer eine dicke Zigarre im Mund - Davidson war im gewissen Sinn Diktator und hatte einen ausgesprochenen Napoleonkomplex. Keine wichtige Entscheidung durfte ohne ihn gefällt werden. Oberall redete er mit und dazwischen.
Kein Film durfte in seinen Theatern aufgeführt werden, den er nicht vorher gesehen hatte. Da er ständig überarbeitet war, kam es oft vor, daß er während der Vorführung schlief.
Erst wenn die Lichter wieder angingen, wurde er wach. Und trotzdem entschied er mit untrüglichem Instinkt, ob der verschlafene Film gut war oder schlecht. Er irrte nie.
Wenn er, wie es seine Gewohnheit war, ins Atelier kam, interessierte er sich nicht so sehr für die Künste der Schauspieler, als vielmehr für die Gardinen an den Fenstern der Dekoration.
Er war nicht gebildet und schämte sich dessen nicht. Fremdwörter waren bei ihm Glückssache. Wenn er in geschäftlichen Verhandlungen unterstreichen wollte, daß er einen festen Standpunkt bezogen hatte, sagte er abschließend: „Das ist für mich eine conditio sine Kanone."
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Und dann ist da noch David Oliver
Neben Davidson ist David Oliver der wichtigste Mann des deutschen Films, einer der immer mit dabei ist, bei jeder Gründung, bei jeder Fusionierung. Er ist an zahlreichen Gesellschaften beteiligt. Er kontrolliert fünfundzwanzig Prozent der deutschen Filmindustrie.
Er ist der Chef der Nordischen Filmgesellschaft in Berlin, einer Filiale der Nordisk in Kopenhagen. Dieser David Oliver ist ein gerissener Bursche - er stammt aus Polen, er spricht kein fehlerloses Deutsch - dafür aber auch ein fehlerhaftes Dänisch, Schwedisch, Französisch und Russisch. Er hat seine Finger in vielen Töpfen.
Einer der Filmregisseure war Max Mack
Bei den Filmregisseuren - die meisten verdienen kaum diesen Namen - steht Max Mack an erster Stelle. Der mittelgroße, etwas rundliche Mann, der auch im Atelier einen steifen, schwarzen Hut trägt, heißt natürlich gar nicht Mack. Das ist nur sein Künstlername. Wie er wirklich heißt, weiß niemand, und die es einmal wußten, haben es längst vergessen.
Mack war Schauspieler, aber er begriff frühzeitig, daß der Film eine Zukunft hatte, und schon vor 1910 sattelte er um.
Meist machte er für die Vitaskop-Gesellschaft Lustspiele ziemlich derber Natur, die das Publikum zu Lachstürmen hinrissen.
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„Die Blaue Maus" im Berliner Marmorhaus
Sein größter Erfolg war „Die Blaue Maus" mit dem Operettenstar Magde Lessing. Der Film lief mehr als hundertmal im Berliner Marmorhaus.
Zur hundertsten Aufführung erschienen folgende Anzeigen in den großen Berliner Blättern: „Fünfzig Mark Belohnung erhält der Wiederbringer des uns entflogenen Papageis. Besondere Kennzeichen: roter Schwanz. Er spricht deutlich die Worte: ,Kanone Mack - wo bist du?' Und ,Theater ausverkauft'." Die Annoncen waren von der Direktion des Marmorhauses unterschrieben.
Der Schauspieler Albert Bassermann
Es war Macks Verdienst, den größten deutschen Schauspieler, Albert Bassermann, davon zu überzeugen, daß er Filme machen müsse. Das Doppelgängerdrama des bekannten Schriftstellers Paul Lindau, „Der Andere", wurde zum Drehbuch umgearbeitet. Fast alle Berliner Theaterkritiker besuchten den Film und machten Bassermann den Vorwurf, seine Kunst und sich selbst degradiert zu haben.
Der Schauspieler Paul Wegener
Der andere große deutsche Filmregisseur der Zeit vor dem ersten Weltkrieg - und nicht nur ein großer Regisseur, sondern, zum Unterschied von allen seinen Kollegen, ein großer Künstler und zu dieser Zeit bereits ein berühmter Schauspieler - ist Paul Wegener.
Er sieht nicht gerade typisch deutsch aus. Das breite, wie aus Stein gehauene Gesicht, die schmalen Augen, auch die seltsam brüchige Stimme - das alles weist nach Asien.
Und Paul Wegener interessiert sich auch vor allem für die Kunst des Fernen Ostens. Seine Wohnung, in einer ruhigen Privatstraße, unweit der Potsdamer Brücke, ist angefüllt mit Holzschnitzereien, mit Pagoden, mit Ikonen, mit Buddhas und Kwannon-Statuen.
Wegener ist ein vielbelesener Mann. Zum Unterschied von den meisten anderen Schauspielern seiner Generation kennt er sich in der Weltliteratur aus. Seine Lieblingsautoren neben Shakespeare und Goethe sind Balzac, E. T. A. Hoffmann, Edgar Allan Poe.
Er hat viel übrig für das Unheimliche in der Literatur. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, daß er so früh zum Film kommt und daß er ihn - wiederum zum Unterschied von allen anderen Schauspielern - von allem Anfang an für eine zukunftsträchtige Sache hält.
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Seine Erkenntnis : Die Bühne kann nicht zaubern.
Die Kamera kann zaubern. Wegener hatte schon oft daran gedacht, eine Geschichte von E. T. A. Hoffmann auf der Bühne zu spielen. Eine Geschichte mit einem Doppelgänger. Aber auf der Bühne konnte ein Schauspieler nur einmal erscheinen.
Er konnte abgehen und die Maske wechseln und in einer neuen Maske wieder auftreten. Aber er war immer nur einmal da.
Wegener erinnerte sich an Trickfotografien aus seiner Jugendzeit. Da war er zweimal auf dem gleichen Bild, stand gewissermaßen sich selbst gegenüber. Einmal mit einem Bart, den er sich angeklebt hatte, einmal glatt rasiert.
Jetzt ging er zu einer Filmgesellschaft und fragte, ob der gleiche Trick nicht auch im Film anwendbar sei. Der Direktor nickte: „Warum nicht?"
Paul Wegener unterhielt sich mit dem Schriftsteller Hanns Heinz Ewers darüber. „Ich brauche einen Doppelgängerstoff. Ich will einen Film machen, in dem ein Mensch sich selbst gegenübersteht." Ewers, den damals viele für den Nachfolger von Edgar Allan Poe hielten - er spezialisierte sich auf unheimliche Geschichten - hatte eine Idee.
Wegener zog den Kopenhagener Regisseur Stellan Rye und den Filmoperateur Guido Seeber hinzu.
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„Der Student von Prag"
So entstand „Der Student von Prag". Der Inhalt in Kurzform :
Balduin, Student und bester Fechter der Stadt, ist in eine schöne Gräfin verliebt. Die weiß kaum, daß er existiert, denn er ist arm und kann infolgedessen nicht in Gesellschaft erscheinen. Da erkauft er sich durch einen Pakt von dem alten Wucherer Scapinelli, einer Verkörperung des Satans, Reichtum und Liebesglück gegen das, was dieser aus der armseligen Studentenbude mitzunehmen wünscht.
Der Zauberer läßt Balduin vor den Spiegel treten, lockt sein Spiegelbild an sich, das, wie ein Phantom aus dem Spiegel tretend, mit automatischen Bewegungen Scapinelli folgt.
Dieser Teil von ihm, das „zweite Ich", tritt ihm als böser Dämon immer wieder entgegen, bemächtigt sich seines Lebens, zerstört sein Glück, tötet für ihn, treibt ihn in den Wahnsinn ...
Nachdem er die Gräfin und überhaupt alles verloren hat, was das Leben lebenswert für ihn macht, tötet Balduin in höchster Verzweiflung sein Spiegelbild mit einem Schuß. Aber der Schuß trifft ... ihn selbst. Zu Tode getroffen bricht er zusammen. Scapinelli aber zerreißt grinsend den Vertrag, der nun sinnlos geworden ist.
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Wegener treibt das Geld auf - mit Einschränkungen
Wegener treibt zwanzigtausend Mark auf. Damit soll der Film gemacht werden. Damit wird er auch gemacht. Das ist natürlich nur dadurch möglich, daß keiner der vier Hauptbeteiligten mehr verlangt oder bekommt als den Ersatz seiner Kosten.
Am 22. August 1913 wird der Film im Mozartsaal Berlins am Nollendorfplatz uraufgeführt. (Der Mozartsaal ist das spätere Metropol Theater.) Die Reklame sagt: „Filmdebut des genialen Menschengestalters Paul Wegener als Darsteller der Titelrolle. Dieses hochinteressante Spiel wurde an historischer Stätte in Prag im Film aufgenommen und enthält ganz neuartige Erscheinungen der modernen Kinotechnik."
Es ist die Geburtsstunde des künstlerischen Films
Dies ist die Geburtsstunde des künstlerischen Films in Deutschland. Übrigens wird dieser Film 1932 noch einmal aufgeführt - als Kuriosum natürlich. Wegener will die Aufführung verhindern. Er fürchtet, die Leute würden sich über die primitiven Bilder von damals totlachen. Sie lachen nicht. Sie fragen sich beklommen, ob der Film es während all der Jahre danach weiter gebracht habe ...
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