"Das gab's nur einmal" - Der deutsche Film von 1912 bis 1945
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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ELFTER TEIL • DER GROSSE AUFTRIEB
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Ende 1929 gibt es erst 223 Tonfilmtheater
Der Tonfilm setzt sich langsam aber sicher in Deutschland durch. Ende 1929 gibt es erst 223 Tonfilmtheater, ein Jahr später schon rund 1900, wieder ein Jahr später rund 2500.
Die Skeptiker müssen sich geschlagen geben. Denn es stellt sich heraus, was die meisten für unmöglich gehalten haben, daß nämlich Tonfilme ebenso ernstzunehmende Kunstwerke sein können wie Stummfilme.
Ja, man darf wohl sagen, daß das neue Medium als Stimulans wirkt, daß es die Phantasie der Drehbuchautoren und der Regisseure beflügelt.
RICHARD OSWALD WARNT
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„Wien, die Stadt der Lieder" von Richard Oswald
Natürlich hat sich auch Richard Oswald ziemlich schnell auf den Tonfilm umgestellt, aber es dauert eine Weile, bis er sich selbst gefunden hat. Er dreht ein Singspiel „Wien, die Stadt der Lieder" - ein Lustspiel „Die zärtlichen Verwandten". Aber das sind Nebenwerke. Und dann weiß er, was er zu tun hat.
Er wird im Tonfilm genau das tun, was er im Stummfilm versucht hat, er wird den Alltag zeigen, den Menschen ohne Schminke, ohne Pathos. Er wird es ablehnen, zu unterhalten, zu amüsieren, er wird seine Finger auf die schlimmsten Geschwüre am Körper der Menschheit legen. Oswald wird warnen.
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Wir schreiben das Jahr 1930.
Schon steht Hitler vor den Toren. Schon ist Antisemitismus Mode geworden. Die Wirtschaftskrise wird immer schlimmer. Die Zahl der Arbeitslosen wächst täglich. Was ist einfacher, als zu behaupten, die Juden seien an dem ganzen Elend schuld?
Es gibt zwar keinerlei Beweise für solche unsinnigen Behauptungen - aber braucht Hitler Beweise? Er hat sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben. (Anmerkung : Ob Donald Trump in seiner 4-jährigen Amtszeit als US-Präsident hieraus gelernt hatte, daß man nie etwas beweisen müsse ?)
Oswald berät sich mit seinen Mitarbeitern. Gab es nicht schon einmal eine Zeit, in der die Juden „an allem schuld" waren?
Natürlich gab es eine solche Zeit! Sie ist noch gar nicht so her, daß Capitän Dreyfus mit Hilfe Zolas rehabilitiert wurde.
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Die Affäre Dreyfus.
Sie spielte sich zwischen 1890 und 1900 in Frankreich ab. Altere Menschen können sich noch daran erinnern. Gebildete haben darüber nachgelesen. Aber das Volk? Was weiß das Volk heute noch davon. Man vergißt ja so schnell.
Der Fall Dreyfus, die größte Spionagegeschichte aller Zeiten:
In einem Papierkorb in der Deutschen Botschaft in Paris wird ein zerrissener Brief gefunden - von einer Putzfrau, die in den Diensten der französischen Gegenspionage steht. Aus dem Brief geht hervor, daß der deutsche Militärattache einen Vertrauensmann innerhalb des französischen Generalstabes haben muß.
Geheime Untersuchung. Ein Schreibsachverständiger glaubt, Ähnlichkeiten zwischen dem Brief und der Schrift des Hauptmanns Dreyfus zu finden. Der Generalstabschef ist entzückt. Wenn schon ein Verräter im Generalstab sitzt, dann könnte er sich gar keinen besseren wünschen als Dreyfus.
Denn Dreyfus ist der einzige Jude im französischen Generalstab. Verhaftung. Verurteilung zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel, obgleich Dreyfus seine Unschuld beteuert.
Später sickert durch, daß die Verurteilung nur dadurch zustande kam, daß der Chef des Generalstabes belastendes Material gegen Dreyfus, das in der Verhandlung nicht vorgebracht wurde und von dem weder Dreyfus noch sein Anwalt wissen konnten, den als Geschworenen figurierenden Offizieren ins Beratungszimmer sandte. Ein äußerst ungewöhnliches Vorgehen. Übrigens wird sich herausstellen, daß dieses belastende Material gefälscht war.
Und es wird sich noch etwas anderes herausstellen. Nämlich, daß der deutsche Militärattache weiterhin vertrauliches Material von seinem Spion im französischen Generalstab erhält. Es handelt sich um den gleichen Mann wie das erste Mal. Die Schrift ist identisch. Oberst Picquard, der die erste Untersuchung gegen Dreyfus führte und fest von dessen Schuld überzeugt war, begreift jetzt, daß Dreyfus, der bereits auf der Teufelsinsel schmachtet, nicht der Schuldige gewesen sein kann.
Er eilt zu seinem Vorgesetzten. Und wird sofort ins Innere Afrikas versetzt auf einen Posten, von dem er nach menschlichem Ermessen nicht zurückkehren dürfte.
Er kehrt aber doch zurück und benachrichtigt die Familie Dreyfus.
Aber es ist unmöglich, eine Wiederaufnahme des Prozesses zu erreichen. Die Clique im Generalstab hält wie Pech und Schwefel zusammen. Madame Dreyfus wendet sich schließlich an Emile Zola, den großen Romanschriftsteller, der zuerst nicht die geringste Lust verspürt, sich mit der Affäre Dreyfus zu befassen. Er hat ein riesiges Arbeitsprogramm vor sich.
Aber nachdem er die Akten studiert hat, die man ihm vorlegt, weiß er: Ein Unschuldiger verkommt auf der Teufelsinsel! Er wird nicht mehr ruhig schlafen können, bis dieser Unschuldige befreit ist ... Und er schreibt seinen bekannten Offenen Brief an den Präsidenten der Republik, in dem er ihn, den Präsidenten, den Kriegsminister, den Generalstab, in dem er sie alle anklagt, an einem Unrecht mitgewirkt, es zumindest vertuscht zu haben.
Der Brief beginnt mit den Worten: „J'accuse - Ich klage an!"
Was Zola erwartet hat, geschieht. Er wird wegen Beleidigung des Präsidenten vor Gericht zitiert. Die Gerichtsverhandlung, die öffentlich geführt werden muß, gibt Gelegenheit, den Fall Dreyfus wieder aufzurollen. Zwar wird Zola verurteilt - und muß ein Jahr lang, bis das Urteil wieder kassiert wird, in England leben.
Aber nun ist die Lawine im Rollen. Nun ist es gar nicht mehr möglich, zu erklären, die Akten des Falles Dreyfus seien geschlossen. Nun muß alles noch einmal untersucht werden. Prozeß folgt auf Prozeß.
Langsam zeigt es sich, daß die antisemitische Clique im Generalstab schon lange wußte, daß sie einen Landesverräter, einen gewissen Grafen Esterhazy - der noch rechtzeitig entkommen kann - geschützt hat. Der Hauptschuldige richtet sich selbst, andere werden mit Schimpf und Schande davongejagt. Dreyfus wird zuerst begnadigt, schließlich wird er rehabilitiert.
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Oswald bekommt eine große Besetzung zusammen.
Den Dreyfus spielt Fritz Kortner, den Obersten Picquard Albert Bassermann. Heinrich George ist Emile Zola, Oskar Homolka der Verräter Esterhazy.
Oswald dreht den Film mit einem Minimum an Ausstattung. Wie in seinen stummen Filmen, begnügt er sich mit wenig Räumen und beschränkt sich auf die nötigsten Außenaufnahmen.
Die Kulisse, auf die es ihm ankommt, ist das menschliche Gesicht. Unvergeßlich die große Rede Zolas vor Gericht. Unvergeßlich die Unschuldsbeteuerungen des Hauptmanns Dreyfus!
Unvergeßlich, wie es Oberst Picquard langsam dämmert, was gespielt wird, wie die Welt dieses Obersten zusammenbricht, als er begreift, daß Generale Meineide geschworen haben.
Einmalig, wie Oswald mit ein paar Großaufnahmen zeigt, wie das Volk mit ein paar Schlagworten verhetzt werden kann; wie plötzlich Menschen, durch ein paar Schlagzeilen zur Weißglut gebracht, mit dem Ruf „Nieder mit Dreyfus!" durch die Straßen jagen.
Die aufkomenden NAZIs begreifen sofort die Gefahr
Ein Film, der viel zu eindrucksvoll ist, um nicht überall einen durchschlagenden Erfolg zu haben.
Im nationalsozialistischen Lager begreift man sofort: Dieser Film ist eine Gefahr. Und es geschieht, daß sämtliche Zeitungen Hitlers gegen den Film Sturm laufen. Der „Völkische Beobachter" bringt am 30. Januar 1930 auf der ersten Seite die Riesenüberschrift: „Der jüdische Dreyfus-Skandal".
Und darunter ist zu lesen: „Der Dreyfus-Film - ein jüdisches Wahlmanöver gegen den Nationalsozialismus". Und dann versucht der „Völkische Beobachter" allen Ernstes zu beweisen, daß Dreyfus gar nicht unschuldig war und daß nur „das Weltjudentum" für seine Rehabilitierung gesorgt habe.
Nachdem dreißig Jahre vorher alles geklärt wurde, nachdem sich die Schuldigen teils selbst gerichtet, teils Geständnisse abgelegt haben, resümiert trotz alledem der „Völkische Beobachter":
„Die Affaire Dreyfus stellt eine Kraftprobe des Judentums ohnegleichen dar, das sonst immer als das wehrlose, von gehässigen Feinden umringte Opferlamm beurteilt werden möchte. Es hat, um einen der Seinigen freizubekommen, gegen die Regierung einer Großmacht Sturm gelaufen, diese gestürzt und die Verhältnisse eines ganzen Landes von oben nach unten gekehrt .....
Zur Rehabilitierung eines gewöhnlichen Offiziers, der wegen Landesverrats zweimal verurteilt wurde, gleichviel, ob zu Recht oder Unrecht, wäre nicht die ganze Welt alarmiert worden. Ein solcher säße heute noch auf der Teufelsinsel oder lebte entehrt als ein nach langen Jahren Begnadigter verborgen in irgendeinem Winkel der Erde."
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Richard Oswald ist sich dieser Feinde bewußt
Richard Oswald kann nach diesem Artikel im „Völkischen Beobachter" keinen Zweifel darüber hegen, was ihm geschehen wird, wenn Hitler an die Macht kommen sollte. Wenn er sich nicht rechtzeitig „in irgendeinem Winkel der Erde" verbergen wird, dürfte er zumindest auf die Teufelsinsel verbannt werden.
Aber das macht ihn in seiner Haltung nicht irre. Er sucht und findet einen neuen Stoff, der ihn in den Nazikreisen noch unpopulärer machen wird.
Er will zeigen, wie der Weltkrieg 1914/18 entstanden ist. Er besorgt sich die Akten des „Reichstagsausschusses zur Erforschung der Kriegsschuld", dessen Schriftführer Dr. Eugen Fischer er als Mitarbeiter engagiert. Alle, die damals Geschichte gemacht haben, treten auf.
Zar Nikolaus II., den Reinhold Schünzel spielt, die schwache Zarin, von Lucie Höflich dargestellt, der deutsche Kanzler von Bethmann-Hollweg, den Albert Bassermann verkörpert, während Heinrich George den französischen Sozialisten Jean Jaures darstellt und Oskar Homolka den Kriegskommissar Sassanow.
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Handlung? Eigentlich gibt es keine.
Es wird nur dargetan, was geschah. Es treten die historischen Persönlichkeiten auf und sagen, was sie damals gesagt haben, schreiben, was sie damals geschrieben haben, handeln, wie sie damals gehandelt haben.
Kurz, es wird in Oswalds Film gezeigt, wie die Lawine ins Rollen kam. Es gibt nicht eine Szene, in der Oswald den Zeigefinger erhebt. Er klagt nicht an. Er spricht nicht frei.
Keiner von denen, die damals in den Regierungen der verschiedenen Länder saßen, war ganz unschuldig; niemand war ganz schuldig. Keiner hatte eine ganz weiße "Weste. Der Film nimmt keine Partei. Er zeigt nur, wie alles kam, und warum alles so kommen mußte.
Er ist also nicht dramatisch. Er ist geradezu betont undramatisch. Er besteht aus Dokumenten und ist daher selbst ein Dokument. Und wirkt gerade dadurch so ungeheuer erregend, läßt einen auch ohne Liebeshandlung, auch ohne daß faszinierende „Helden" oder schöne und leidenschaftliche Frauen auftreten, zwei Stunden lang nicht los.
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Der Film wird von der Zensur verboten
Und gerade deshalb wird er verboten, denn es gibt ja eine Zensur. Vergebens ruft Oswald: „Schließlich war es doch so!"
Aber es ist nicht vergebens, daß die liberale Presse sich für Oswald einsetzt. Lange Verhandlungen. Oswald wird geladen und man sagt ihm, daß sein Film freigegeben wird. Bedingung: Er muß ihn umarbeiten. „Umarbeiten?"
„Nun ja, es gibt in Ihrem Film Stellen, aus denen hervorgeht, daß der Kaiser nicht ohne Schuld war ...
Und es gibt fernerhin Stellen, aus denen hervorgeht, daß Männer, die dem Kaiser sehr nahe standen, sozusagen zu den Hauptschuldigen des Krieges zu rechnen sind."
„Waren sie es nicht? Vergessen Sie nicht, meine Herren, daß jedes Wort, das in meinem Film gesprochen wird, belegt werden kann. Durch Akten belegt werden kann, die im Deutschen Reichstag ... verstehen Sie, meine Herren, im Deutschen Reichstag ausgefertigt worden sind."
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Die Argumente waren vergebens
„Wir haben uns mit Ihnen nicht darüber zu unterhalten, Herr Oswald. Wenn Sie diese Umarbeitungen nicht vornehmen, wird es Zwischenfälle geben, Demonstrationen ... Die Leute werden sich diesen Film nicht gefallen lassen. Die Polizei müßte einschreiten. Es ist schon besser, daß Sie einige Schnitte machen."
Oswald macht einige Konzessionen. Trotzdem wird der Film aufs schärfste von der beginnenden Rechtspresse angegriffen.
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Der „Hauptmann von Köpenick" von Richard Oswald
Noch einmal darf Richard Oswald seinen Mut beweisen, als er im gleichen Jahr den „Hauptmann von Köpenick" verfilmt. Er hält sich im wesentlichen an die Szenenfolge von Carl Zuckmayer.
Er holt sich zum großen Teil die Schauspieler, die das Stück bei seiner Erstaufführung gespielt haben, aus dem Deutschen Theater. Die Titelrolle allerdings verkörpert jener Komiker, der sie im Deutschen Theater erst in zweiter Besetzung Werner Krauß nachgespielt hat, Max Adalbert.
Das ist ein unendlich leiser Schauspieler, der wie kein zweiter die Tragik des Schusters Voigt vermitteln kann, jenes Mannes, der nichts will als einen Paß, um das Land zu verlassen, in dem man ihn nicht haben will, und den Paß nicht bekommt, weil er keinen Wohnsitz nachweisen kann, den er eben nicht hat, weil er keine Papiere besitzt ... Ein circulus vitiosus.
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Der „Hauptmann von Köpenick" wird ein herrlicher Film.
Wieder gelingt es Oswald, mit einigen wenigen Strichen eine Figur zu zeichnen, die Blut hat und lebt, uns mit vier, fünf Sätzen einen Menschen nahezubringen. Wieder erweist er sich als der Meister des realistischen Films.
Die begeisterte Kritik spricht von einem klassischen „Filmlustspiel". Aber kann man diesen Film ein Lustspiel nennen? Ist dieser Schuster Voigt, der immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommt, der immer wieder ausgewiesen wird, der in Deutschland keine Heimat findet und doch nicht über die Grenze kann, weil man ihm keinen Paß gibt, wirklich eine komische Figur? Schon 1932, als man den Film sieht, kann man darüber nicht mehr richtig lachen.
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DIE SÜSSESTEN MÄDEL DER WELT
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Pommer möchte den „Liebeswalzer", jetzt als Tonfilm
Erich Pommer hat schon seit langem ein Auge auf Lilian Harvey geworfen. Sie kann tanzen, sie kann auch singen. Und als er seine erste Tonfilmoperette plant, den „Liebeswalzer", holt er sie als Partnerin Fritschs zur UFA.
Der „Liebeswalzer" ist vermutlich die hundertste Verfilmung einer Operette. Aber zum Unterschied von allen seinen Vorgängern hat der „Liebeswalzer" den Vorzug - oder zumindest glaubten die Leute damals, es sei ein Vorzug - daß man die Musik jetzt hören kann.
Der „Liebeswalzer" ist nach wie vor keine Sensation
Das mit dem Ton allein ist die Sensation. Der „Liebeswalzer" ist keine. Er ist eine typische Operette, und alles, woran man sich ein paar Jahre später erinnern wird, ist, daß Willy Fritsch abwechselnd einen Prinzen und seinen Sekretär spielt, in Wirklichkeit aber der Sohn eines amerikanischen Automobilkönigs ist - nicht mehr und nicht weniger.
Wie fast alle Filmschauspieler muß Lilian Harvey erleben, daß man ihr zuerst mitteilt, daß sie im Tonfilm nicht „kommt". Aber Lilian Harvey ist nicht so leicht zu entmutigen, nicht einmal, als man ihr zu verstehen gibt, die Sache sei hoffnungslos, falls sie sich nicht einer Stimmbandoperation unterziehe. „Dann lasse ich mich eben operieren", sagt sie. Aber dazu kommt es nicht, denn schließlich „kommt" sie doch.
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„Du bist das süßeste Mädel der Welt ..."
Und am Tage nach der Premiere (7. Februar 1930) des „Liebeswalzer" singt Berlin: „Du bist das süßeste Mädel der Welt ..."
Eine Woche später singt es halb Deutschland, einen Monat später halb Europa, oder sagen wir, es wird sehr viel in jenen Städten gesungen, geträllert oder gepfiffen, in denen die großen Kinos bereits Tonfilmapparaturen eingebaut haben.
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Eine Kopie des Films geht nach Japan
Die UFA schickt sogar eine Kopie des Films nach Japan, und die dortigen Korrespondenten berichten alsbald, das Publikum ströme in Massen in den Nagasaki-Palast, um den Film zu sehen, und die Japanerinnen summten: „Du bist die süßeste... Geisha der Welt!"
Das süßeste Mädel der Welt ... Ja, Lilian Harvey ist wirklich ein süßes Mädel. Sie ist zierlich, fast zerbrechlich, sie hat viel Grazie, sie wirkt mit ihren großen blauen Augen und ihren langen blonden Locken wie die Unschuld selbst.
Wenn das ewige Happyend zum Bumerang wird
Die Produzenten erklären, sie habe eine „saubere Ausstrahlung", eine abscheuliche Formulierung, die besagen soll, daß das Publikum Lilian Harvey nichts Schlechtes zutraut und infolgedessen auch will, daß ihre Filme immer gut ausgehen - was sich für die UFA und für die Harvey in späteren Jahren zu einem Problem entwickeln wird.
Jedenfalls ist eines sicher: die Harvey ist ein ganz neuer Typ. Verglichen mit ihr wirkt Henny Porten robust, Lotte Neumann wie eine Kitschpostkarte, die Negri wie eine Operndiva, ja selbst Gerda Maurus wie eine Brünhilde.
Lilian Harvey ist überhaupt keine Frau, sie ist auch kein junges Mädchen, sie ist vielleicht am besten mit dem Begriff „Girl" charakterisiert.
Ein Girl hat ja auch, um mit den Produzenten zu reden, eine „saubere Ausstrahlung" und Girls wirken selbst im entkleideten Zustand merkwürdigerweise unerotisch ...
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Der zweite Tonfilm „Die Drei von der Tankstelle."
Der zweite Tonfilm des Filmliebespaares Willy Fritsch und Lilian Harvey heißt: „Die Drei von der Tankstelle."
Handelt es sich wieder um eine Tonfilm-Operette? Ja und nein. Es handelt sich eigentlich mehr um eine Parodie auf Operetten, also um keine Operette.
In „Die Drei von der Tankstelle" wird unter Führung von Erich Pommer und des Regisseurs Wilhelm Thiele, der auch schon den ersten Fritsch - Harvey - Tonfilm gemacht hat, etwas ganz Neues versucht.
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Der Versuch, die Wirklichkeit zu "vertonfilmen"
Anstatt einen gegebenen Operettenstoff zu verfilmen, der naturgemäß in den Sphären spielt, in denen nun einmal alle Operetten spielen, und der mit der Wirklichkeit weder gewollt noch ungewollt das geringste zu tun hat, wird versucht, die Wirklichkeit zu "vertonfilmen".
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Auch das ist wieder eine unrealistisch triviale Story
Es geht nicht mehr darum, eine Prinzessin oder einen Multimillionär in einem Schloß oder romantischen Park ihre Gefühle besingen zu lassen, es geht um den Alltag. Oder doch zumindest um eine Art Alltag.
Drei Freunde, die plötzlich ihr Geld verloren haben, verkaufen ihr Auto und erwerben dafür eine Tankstelle. Schon das stimmt natürlich nicht ganz. Mit dem Geld, das man für ein Auto bekommt, kann man - selbst 1930 - keine Tankstelle erwerben.
Aber nehmen wir es nicht so genau. Jedenfalls floriert die Tankstelle, nicht zuletzt dank der wichtigsten Kundin, der Tochter eines Konsuls, die - braucht es gesagt zu werden? - zu einem der drei Tankwarte in Liebe entbrennt.
Da ist noch ein Anwalt, der seine Post mit einem Chanson diktiert. Da sind Einbrecher, die tanzend ein Haus ausräumen; ein Gerichtsvollzieher, der Pfändungen im Takt der Musik vornimmt, junge Menschen, die im Takt zu einem Foxtrott oder Walzer boxen oder flirten.
Charmant, lustig, modern und flott
Das alles ist etwas ganz Neues, sehr Charmantes, sehr Lustiges, sehr Flottes und sehr Modernes. Es hat mit Operette nichts mehr zu tun. Da wird nicht mehr geschmachtet, nicht mehr geseufzt, nicht mehr romantisch geliebt, verlassen, entsagt.
Also ein Wagnis? Aber ein Riesenerfolg, nicht zuletzt zuzuschreiben der schmissigen Musik Werner Richard Heymanns, dem Liebespaar Fritsch-Harvey und den beiden anderen jungen Männern der Tankstelle: Oskar Karlweis und Heinz Rühmann.
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Neu dabei (beim Film) ist der junge Heinz Rühmann
Karlweis aus Wien hat bereits einige Filme hinter sich. Heinz Rühmann steht zum ersten Male vor der Kamera. Der kleine, schmale, komische Rühmann ist um diese Zeit bereits ein recht bekannter Schauspieler. Er hat in den Münchner Kammerspielen wichtige Rollen gespielt, worauf ihn Max Reinhardt nach Berlin holte.
Was eigentlich ist das Geheimnis dieses Schauspielers, der bald der erste Filmkomiker Deutschlands sein wird?
Vielleicht, daß er nicht, wie andere Komiker, um jeden Preis komisch wirken will, daß er alle auf der Hand liegenden Wirkungen verschmäht, daß er es nicht komisch findet, sich neben einen Stuhl zu setzen anstatt auf ihn, eine Cremetorte ins Gesicht zu bekommen oder vor seiner Schwiegermutter zu flüchten.
Rühmann versucht, Menschen zu spielen.
Sein Humor ist von einer seltenen Trockenheit. Es ist ein gütiger Humor, der Humor eines Menschen, der weiß, daß er und die anderen voll von Schwächen sind, es ist der Humor der ewigen Verlegenheit, der Unfähigkeit, sich selbst und die anderen allzu ernst zu nehmen, der Humor eines Mannes, der weiß, daß er immer ein kleiner Junge sein wird ...
Es ist der Humor des im Leben ein wenig zu kurz Gekommenen - im Gegensatz etwa zu denen, die das Leben mit der linken Hand meistern, wie Hans Albers. Und es ist durchaus kein Zufall, daß Rühmann später in einigen Filmen neben Albers auftreten wird.
Willy Fritsch ist der Held des Tonfilms leichteren Genres.
Er ist nicht nur der Partner Lilian Harveys. Er spielt mit der hübschen dunkelhaarigen Dorothea Wieck und mit der blonden Camilla Hörn, die als Gretchen im „Faust" herauskam. Er spielt mit der schönen Käthe von Nagy als Partnerin in dem Film „Ihre Hoheit befiehlt".
Käthe von Nagy ist Ungarin
Käthe von Nagy ist Ungarin, Tochter eines Bankdirektors, der sie aufs Gymnasium schickte und sie dann zu sich ins Büro nahm. Da langweilte sie sich. Sie versuchte es mit Schreiben von Novellen.
Das langweilte sie ebenfalls. Sie brannte, knapp sechzehnjährig, aus Maria-Theresiopel nach Berlin durch, wurde auf Veranlassung ihres Vaters von der Polizei zurückgeholt, hatte eine ernsthafte Aussprache mit dem Vater und ging wieder nach Berlin, dort gab ihr der Regisseur David Konstantin eine kleine Rolle in einem Film „Männer vor der Ehe".
Das dunkelhaarige, unwahrscheinlich schöne, dabei pikante Geschöpf gefällt dem Publikum. Aber erst der Tonfilm bringt sie ganz nach vorn.
Mehr Erfolg haben Willy Fritsch und Lilian Harvey
So erfolgreich indessen Nagy's Filme mit Willy Fritsch auch sind, der Erfolg der Filme, in denen Fritsch und die Harvey zusammen auftreten, sich ineinander verlieben, sich zanken und sich schließlich doch finden, ist bei weitem der größte.
Sie werden das offizielle Filmliebespaar. Erich Pommer dekretiert: „Es ist völlig gleichgültig, wer sonst in dem Film mitspielt. Willy Fritsch muß am Ende Lilian Harvey kriegen!"
Das waren diese Pommerschen Tagesbefehle
Pommer könnte mit einem solchen Tagesbefehl nie durchdringen, wenn das Publikum es nicht so wollte.
Das Publikum will das Kino verlassen mit der Gewißheit, daß Lilian Harvey und Willy Fritsch nun für immer (bis ans Ende ihrer Tage) vereint und glücklich sind.
Erich Pommer und seine Mitarbeiter begreifen sehr wohl, daß es besser wäre, zwei oder drei Auswegmöglichkeiten zu haben, das heißt andere Liebhaber und andere junge Damen, mit denen man Willy Fritsch und Lilian Harvey ersetzen könnte.
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Die UFA heuert Detektive und Spürhunde an
Unaufhörlich versucht die UFA, solche jungen Männer und jungen Damen zu entdecken. Ein ganzes Heer von Spürhunden grast die Provinztheater ab.
Probeaufnahmen werden am laufenden Band gemacht. Jede Fritsch - Harvey - Szene wird von vielen Dutzend jungen Nachwuchsschauspielern und Nachwuchsschauspielerinnen nachgespielt. Umsonst! Niemand kann die Unersetzlichen ersetzen.
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Was ist der Grund dieses gemeinsamen Erfolges?
Warum will das Publikum immer wieder von Fritsch hören, daß er zur Harvey sagt: „Ich liebe dich!" und die Harvey in seinen Armen hinschmelzen sehen, während sie ihm ihren Mund zum Kusse bietet?
Warum muß er immer wieder vor der Kamera stehen und die drei Worte sagen, laut oder leise, lächelnd oder traurig, warum muß er sie flüstern oder brüllen?
Dabei handelt es sich immer wieder nur um ein paar Meter Film. Liebesszenen im Tonfilm sind nicht mehr halb so lang, wie sie im Stummfilm waren.
Damals hatte man sie ausgespielt, damals hatten die Regisseure darauf Wert gelegt zu zeigen, wie ein Gefühl entstand. Man denke nur an die Liebesszenen im „Walzertraum", die Ludwig Berger mit Xenia Desni und Willy Fritsch drehte.
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Die "Erotik einer Liebesszene" im Stummfilm
Damals hatte man den Wunsch, die Erotik einer Liebesszene zu zeigen. Man denke nur an die Kußszenen der Garbo mit John Gilbert, die oft mehr als eine halbe Minute dauerten und die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen!
Nein, so lange Liebesszenen gibt es im Tonfilm nicht mehr. Es scheint, daß jede Zeit ihren besonderen Liebesszenenstil besitzt.
Früher wollte man die Liebesszenen „ausgespielt" sehen, und ein junger Mann mußte mit seinem Mädchen mindestens tausend Meter vertrödeln, bevor er sie küssen durfte.
Jetzt will man möglichst schnell einen Kuß sehen - nicht viel mehr, aber auch nicht weniger. Und die Küssenden müssen - da gibt es keine Diskussion - Willy Fritsch und Lilian Harvey sein.
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Immer nur Willy Fritsch und Lilian Harvey ?
Der tiefere Grund dafür? Vielleicht ist Lilian Harvey wirklich „das süßeste Mädel der Welt". Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß Willy Fritsch seine Szenen mit einer gewissen Zurückhaltung und Dezenz spielt - Ludwig Berger hat ihn das gelehrt - und Lilian Harvey gewissermaßen behutsam in die Arme nimmt, wie viele junge Mädchen von einem Mann wie Willy in die Arme genommen zu werden wünschen ...
Jedenfalls werden die Lilian Harvey-Willy Fritsch-Filme gewissermaßen Ausdruck der Lebensfreude und als solche repräsentative UFA-Filme.
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Denn die UFA-Filme sind Filme der Lebensfreude.
Während Deutschland um diese Zeit bereits mitten in einer wirtschaftlichen Krise steckt, will die UFA zeigen, wie schön und wie lustig das Leben sein kann.
Das ist - über Willy Fritsch und Lilian Harvey hinaus - das Rezept und der Erfolg der UFA in dieser Zeit.
Lilian Harvey hat enormen Ehrgeiz und lernt Sprachen
Trotzdem würde der Erfolg des offiziellen UFA-Liebespaares nicht so lange anhalten, wenn Lilian nicht beschlossen hätte, diesen Erfolg mit Nägeln und Klauen festzuhalten. Sie ist ehrgeizig wie kein anderer Filmstar vor ihr, und sie ist bereit, diesem Ehrgeiz alles zu opfern, vor allem ihr Privatleben.
Sie ist von einem Arbeitsfanatismus, den man dem schmalen, zerbrechlichen Wesen kaum zutrauen würde, ja, man darf wohl sagen, sie ist von einer einmaligen Arbeitswut gepackt.
Sie spricht deutsch und englisch. Da auch französische Versionen gedreht werden, lernt sie in den Abendstunden französisch. Während Willy Fritsch sich damit begnügt, die deutsche Version der Filme zu spielen und sich von französischen und englischen Kollegen in den anderen Versionen ablösen läßt, besteht die Harvey darauf, in allen drei Versionen persönlich aufzutreten.
Sie will kein Double, lieber arbeitet sie zwölf bis vierzehn Stunden im Atelier. Keines ihrer Fotos darf veröffentlicht werden, bevor sie es nicht begutachtet hat.
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Während Willy Fritsch nur noch an sein Bett denkt .....
Während andere Filmschauspieler nach Beendigung der Dreharbeiten müde nach Hause fahren, geht sie den Text der Szenen durch, die sie am nächsten Tag spielen soll - und Willy Fritsch muß mit dabei sein.
Schließlich ist er so fertig, daß er nur noch an sein Bett denkt. Sie aber nimmt noch Tanzstunden, lernt steppen, macht französische Konversation, wozu sie sich eine französische Zofe engagiert hat.
Nach dem Erfolg der „Drei von der Tankstelle" will Erich Pommer mit ihr und Willy Fritsch einen Film machen, der „Der blonde Traum" heißen soll.
Noch steht die Story nicht fest. Pommer hat nur eine ungefähre Idee und erkundigt sich, wie sich Lilian Harvey den Film vorstelle.
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Lilian Harvey :
„Es muß eine Szene vorkommen, in der ich nach Hollywood fahre. Ein Traum, verstehen Sie ... Ich sitze in einem Zug, der einfach unter dem Ozean durchfährt, bis nach New York. Die Freiheitsstatue winkt mir zu. Der Portier des amerikanischen Konsulats in Deutschland, der mich immer herausgeekelt hat, steht zur Begrüßung da."
Pommer sagt: „Gut. Und was möchten Sie noch in dem Film tun?" „Singen und tanzen natürlich!" „Und was noch?"
Lilian Harvey weiß nicht recht, was sie Pommer antworten soll. Sie spürt ganz deutlich die eisige Ironie hinter seinen Worten, und gleichsam aus Trotz sagt sie: „Vielleicht Seil tanzen?" Pommer verzieht keine Miene: „So was muß man können, meine Liebe!"
Drei Wochen später findet wieder eine Sitzung statt, in der über den neuen Film beraten werden soll. Pommer, Fritsch und einige andere Herren der UFA erscheinen in der Villa Lilian Harveys in Babelsberg.
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Meine Tochter ist auf dem Dachboden .......
Die Mutter empfängt sie. „Meine Tochter ist auf dem Dachboden und bittet Sie, sich doch heraufzubemühen."
Pommer ist einigermaßen erstaunt, erklimmt aber die beiden Stockwerke bis zum Dachboden und sieht Lilian Harvey lächelnd auf einem Drathseil auf und ab spazieren. Was ist geschehen?
Nach der ersten Sitzung mit Pommer rief Lilian Harvey im Zirkus Busch an und bestellte sich einen Lehrer nebst seiner Assistentin, die ihr das Laufen auf dem Drahtseil beibringen sollten.
Auf dem Dachboden des Hauses wurde ein Seil gespannt, und sie begann zu üben - was streng geheimgehalten wurde. Es dauerte acht Tage, bis sie auf dem Seil stehen, es dauerte vierzehn Tage, bis sie auf dem Seil laufen konnte, und nach drei Wochen konnte sie auf dem Seil bereits ein wenig tanzen.
Und so tanzt sie nun auch in dem „Blonden Traum", was aber niemand außer den Eingeweihten anerkennt, denn alle Welt ist davon überzeugt, daß es sich um einen Trick handelt, daß der Drahtseilakt von einem Double ausgeführt wird.
Man muß die Harvey eben wirklich kennen, ganz genau kennen, um zu wissen, wieviel Energie und Entschlossenheit in diesem schmalen und zerbrechlichen Körper steckt, der ja gar nicht zerbrechlich ist.
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Lilian Harvey geht von einem Film in den anderen.
Trotzdem, alle Filme, die für sie erworben werden, kann sie nicht spielen. Und das ist das Glück einer jungen Schauspielerin namens Renate Müller.
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