Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)
Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.
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Kapitel 58
1945 - Durchs Inferno
Aus dem Zimmer meiner Sekretärin kommt ganz leise Musik. Sie läßt ihren Empfänger jetzt immer laufen. Ist es eine Angewohnheit aus der Zeit, da das Oberkommando der Wehrmacht noch täglich seine mit Fanfaren angekündigten deutschen Siege melden konnte? Oder ist es die Angst vor den ständig zunehmenden Luftangriffen der Amerikaner und Engländer?
Goebbels verbreitet: Deutschland siegt an allen Fronten
»Deutschland siegt an allen Fronten«, hat die Goebbelsche Lügenmaschine erst kürzlich verkündet. Man flüstert von neuen Wunderwaffen, denn Wunder sind der Dummheit liebstes Kind. Kann sie das alles noch glauben? Sie hat Angst, ganz einfach Angst und lauscht in den Äther. Es ist wie das Lauschen eines Kindes in die Finsternis. Glauben und Wissen, das sind zwei feindliche Brüder. Und Goebbels weiß das nur zu gut.
Der Film als Propagandainstrument
Ihm untersteht als Propagandainstrument auch der Film. Als Angst und Verzweiflung am Wunderglauben unseres Volkes nagen, läßt er Zarah Leander singen:
Und als Hamburg unter den Folgen eines schweren Bombardements verzweifeln will, singen Heinz Rühmann, Josef Sieber und Hans Brausewetter:
Durchhaltelieder.
Wenn unsere schnellsten Jäger zu spät kamen
Doch immer wieder werden feindliche Bomberverbände im Anflug auf deutsche Städte gemeldet. Anfangs waren sie nur nachts über den Kanal gekommen, doch dann hatten unsere neuen Radargeräte sie schon über England erfaßt und ihren Weg verfolgen können. Bis es den Engländern mit einem tollkühnen Handstreich gelungen war, die Länge unserer Radarwellen durch den kühnen Raub einer kleinen Radarantenne zu ermitteln.
Das war das Maß, das sie brauchten, um mit Millionen Stanniolstreifen den Himmel für unsere Radargeräte zu verdunkeln, und so konnten ihre Bomberverbände immer wieder überraschend einfallen. Sie wurden meist erst entdeckt, wenn sie sich schon im Anflug auf eines ihrer Ziele befanden und auch unsere schnellsten Jäger zu spät kamen.
Die Angriffe auf Köln und Hamburg
Außerdem verstanden sie es von Mal zu Mal besser, unsere Abwehr durch Umwege und Zickzackflüge zu täuschen. Köln und Hamburg hatten sie auf diese Weise schlagartig angreifen können. Nicht nur die Industrieanlagen, sondern auch die Stadtgebiete mit ihren Millionen Einwohnern.
Berlin am 21. Juni 1944
Am 21. Juni 1944, fast auf den Tag genau nach dem verheerenden Angriff auf Hamburg im Jahr zuvor, meldete das Radio am hellen Tag den Anflug stärkster amerikanischer Verbände auf Berlin.
Das an einem strahlendhellen Sommertag? - Das konnte doch nur ein Scheinmanöver sein, denn nach der Schlappe, die sie sich im Winter zuvor bei ihren Nachtangriffen auf die Reichshauptstadt geholt hatten, würden sie das nicht ein zweites Mal wagen.
Doch sie wagten es.
Um zehn Uhr vormittags gab es keinen Zweifel mehr: Riesige Bomberverbände mit 114 >Fliegenden Festungen<, 2000 Bombern und 500 Jägern näherten sich Berlin. Ein fliegender Todesteppich von 100 Kilometer Länge.
Fliegeralarm!
Ich rief zu Hause Mutter und Schwester an, die seit einiger Zeit bei mir wohnten: Alle Fenster und Türen öffnen und in den Heizungskeller gehen! Er ist als Luftschutzraum zwar nur spärlich hergerichtet und bietet wenig Schutz, aber in den großen öffentlichen Luftschutzkeller am Breitenbachplatz mögen sie nicht.
Wir hatten im Verlag einen Luftschutzkeller
Die Redaktion geht geschlossen und gefaßt in den ihr zugewiesenen Luftschutzkeller. Wir alle wissen, nun wird es bitterernst!
Und wir denken mit Schrecken an die nur spärlich durchgesickerten Nachrichten über die grausamen Angriffe auf Köln, die Goebbels soweit wie möglich verschwiegen oder mit Halbwahrheiten verbrämt hat: Dreißigtausend Menschen haben damals teils in den Kellern und Straßenschluchten, teils als brennende Fackeln den Tod gefunden.
Amerikaner und Engländer hatten alles auf eine Karte gesetzt
Wir wissen also, was dieser tollkühne Tagesangriff für jeden von uns bedeuten kann, denn eines scheint sicher: Diesmal haben die Amerikaner und Engländer alles auf eine Karte gesetzt: Die Hauptstadt des Deutschen Reiches muß dem Erdboden gleichgemacht werden.
Schweigend sitzen wir auf unseren Bänken. Drückende Stille. Dann ein fernes Brausen, das sich zu einem tiefen Brummen steigert.
Kurz darauf der erste Bombeneinschlag - irgendwo in der Nähe, so scheint es. Ein zweiter, ein dritter. Dann das dumpfe, polternde Geräusch zusammenstürzender Mauern.
Der Boden bebt und die Wände zittern
Ist unser Verlagshaus getroffen, auf dessen riesigen Maschinen gerade der Ersteinsatz unserer > kriegsentscheidenden Wunderwaffe Vl< gemeldet wird, jener fliegenden Bombe, die sich selber ihr Ziel sucht und darauf niederstürzt?
Wieder ein Bombeneinschlag. Diesmal in solcher Nähe, daß der Boden bebt und die Wände zittern. Frauen schreien auf. Dann ducken wir uns alle tief auf unsere Knie ... Bleiche Gesichter. Jeder glaubt, das ist das Ende. Manche jammern, manche beten, manche sitzen still ergeben in ein Schicksal, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Und auch ich sitze in der Falle.
Ich denke an die grauenerregenden Berichte, die aus Hamburg durchgesickert sind: Hunderte in einem einzigen Luftschutzkeller erstickt, verbrannt, vergast - hinterher mit Flammenwerfern vernichtet, dann zugemauert, um Seuchen zu verhindern. Eines von vielen Massengräbern mitten in der Stadt...
Ich muß hier raus!
Aber der Luftschutzwart steht an der stählernen Bunkertür und läßt keinen hinaus. Er öffnet sie nur, wenn einer von draußen gegen die Tür klopft, um eingelassen zu werden.
Ein solcher Augenblick könnte meine Rettung sein. Ich stelle mich neben die Tür...
Nach einer Ewigkeit voller Angst klopft endlich einer. Die Tür wird umständlich entriegelt, ich stehe sprungbereit, dann drängle ich mich mit Gewalt hinaus.
»Hierbleiben! Mann, sind Sie verrückt? Draußen, das ist der sichere Tod!« Das Wort erstirbt im Brummen der Bomber. Ich stürze die Treppen hinauf und starre einen Augenblick in eine verwandelte Welt.
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Aus der strahlenden Sonne ist ein schwarzer Schleier geworden
Als wir in den Keller gingen, lag strahlende Sonne über der Stadt; jetzt hängt ein schwarzer Schleier darüber. Qualm und Rauch und Fetzen Papier, die wie trunkene Schmetterlinge durch die Luft flattern, hochgewirbelt von einer aufsteigenden Hitze.
Die beiden gegenüberliegenden alten Häuser starren mich aus nackten Fensterhöhlen an. Die Front und die übrigen Mauern sind geblieben, doch alle Decken und Böden sind auf seltsame Weise nach innen zusammengestürzt, als seien sie längst morsch gewesen. Das Werk einer einzigen Bombe.
Und die Menschen? Hocken sie noch unten in ihrem sogenannten Luftschutzkeller, ohne zu ahnen, was in wenigen Sekunden über sie gekommen ist... Sofern sie überhaupt noch leben ...?
Keine Menschenseele weit und breit.
Ich stehe für Sekunden wie erstarrt. Dann renne ich los. An der Kreuzung Charlottenstraße-Kochstraße liegen ein Mann und ein Junge, blutüberströmt. Durch die Kochstraße fegt ein heißer Wind und reißt mich fast um. Über mir dröhnen die Bomber. Wohin nur, wohin? Ringsum, das ist der Tod.
Zurück in den Keller?
Es gibt kein Zurück. Ich renne weiter, immer mitten auf der Straße. Ich will nach Hause, wie ein Tier auf der Flucht in seine Höhle. Vor mir bricht ein Haus zusammen. Lautlos, wie es scheint, unter dem Gedröhn der Motoren.
Flammen. Steinquader fliegen bis auf die andere Straßenseite.
Staub. Undurchdringlicher Staub. Ich kann nicht weiter, kann kaum atmen, suche eine Weile Schutz in einem Hauseingang, wohl wissend, daß auch er im nächsten Augenblick zusammenbrechen kann. Minuten, in denen der Aufwind den Staub empor in die Wolken reißt. Ich taste mich an der Hauswand entlang, bis ich wieder sehen kann.
Weiter bis zur Leipziger Straße.
Dann kommt ein schnurgerader, viele Kilometer langer Weg, der in jedem Ortsteil seinen Namen wechselt... Ich sehe ihn vor mir und weiß: Es wird ein schwerer Weg über Trümmer, ein Weg durch brennende Häuserzeilen sein. Und nirgendwo ein Mensch. Nur das Jammern einer Frau aus einem der brennenden Häuser.
Vor mir, neben mir, hinter mir der Tod. Was ich auch tue, ob ich mich verkrieche, ob ich weiterhaste - werde ich diesem Schicksal entrinnen? Auf jeden Fall weiter, in die schützende Höhle - wenn nicht auch sie ... Ich mag den fürchterlichen Gedanken nicht zu Ende denken.
Der schnurgerade kilometerlange Weg
Angst würgt mir die trockene Kehle. Mir bleibt nur der schnurgerade kilometerlange Weg; ich muß ihn gehen. Für einige Zeit ist Ruhe, bis der nächste Pulk das Inferno noch steigern wird. Die Luft ist zum Ersticken schwer. Es riecht nach Teer. Zu beiden Seiten der Straße stehen brennende Autos, ein Lastwagen ... Ein Fahrrad liegt quer über einem Toten.
Der Potsdamer Platz
Der Potsdamer Platz ist ein einziges Chaos. Autos, Straßenbahnen, schwere Lastwagen. Aus dem Eingang zur U-Bahn kommen vorsichtig spähend ein paar Männer, sehen sich um und gehen gleich wieder zurück.
Die Potsdamer Straße.
Die Potsdamer Straße. Ganze Häuserreihen stehen in Flammen. Die Dächer brennen wie Zunder. Funken fliegen durch die Luft, ein feuriger Regen. Ich renne weiter. An der Brücke, die den Kanal überquert, stauen sich die Menschen.
Wasser! Nicht zum Löschen - der Versuch wäre sinnlos, aber um sich das Gesicht, die Hände, die schmerzenden Füße zu kühlen. Einige springen voll angezogen ins Wasser und versuchen so, dem Feuer zu entkommen ...
Ein neuer Pulk Bomber
Ein neuer Pulk, nachdem einige Optimisten schon die Entwarnung erwartet hatten. Es ist, als sollte dieses Furioso kein Ende nehmen. Ich verkrieche mich in einer Mauernische. Da berührt jemand mein rechtes Bein. Ich zucke erschreckt zusammen. Ein schwarzgefleckter Foxterrier sieht hilfeflehend zu mir auf, als suche er Schutz. Ein einsam herumirrendes Tier. Ich streichle ihm über den Kopf.
Dicke Klumpen Teer an den Schuhen
Der Weg durch Schöneberg bis zur Steglitzer Schildhornstraße ist ein Martyrium. Der Asphalt ist jetzt von der Hitze völlig aufgeweicht und wirft Blasen, einige platzen und verströmen ihren feurigen Inhalt. In eine dieser Blasen hineinzutreten würde den Fuß kosten. An meinen Schuhen hängen schon dicke Klumpen Teer.
Feuer, Feuer, wohin ich blicke Feuer. Steht die ganze Welt in Flammen?
Von Schöneberg in die Schildhornstraße
In Schöneberg liegen verstümmelte und verbrannte Tote auf der Straße. Die Keller vieler Häuser sind bereits Grabkammern, manche Krematorien geworden. Wenn es jetzt wenigstens regnete! Doch der verdüsterte, verschmutzte Hochsommerhimmel hat kein Mitleid. Endlich die rechts angehende Schildhornstraße. Sie ist nur auf einer Seite bebaut.
Männer mit Schutzbrillen und Stahlhelmen rennen köpf- und hilflos umher. Feurige Holzstückchen fliegen durch die Luft, Funken, herabstürzende Steine.
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Heilige Jungfrau Maria, steh mir bei!
Hinter mir höre ich das Flehen einer alten Frau, die mir auf den Fersen folgt. »Herrgott im Himmel, steh mir bei! Jesus, Maria und Josef, steht mir bei! Heilige Jungfrau Maria, steh mir bei!«
Als ob solches Gejammere jemals geholfen hätte! Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Welch ein Spott! Der Gott, der dir in solchen Situationen helfen könnte, bist du selbst!
Fast am Ende der Kraft
Ich bin am Ende meiner Kraft und möchte mich fallen lassen. Einfach fallen lassen und mich wie tausend andere in mein Schicksal ergeben, wenn das mein Schicksal sein sollte. Ich wanke nur noch, meine Füße kleben am Boden. Das Gejammere und Gestammel der Frau hinter mir macht mich taub. Endlich der Breitenbachplatz!
Der Breitenbachplatz!
Der Breitenbachplatz! Hier bin ich zu Hause. Ich reiße mich mit letzter Kraft zusammen und wanke vorwärts. Der Platz ist kaum getroffen. Und drüben - gleich dort, wo die Schorlemer Allee in den Breitenbachplatz mündet - meine beiden Häuser. Sie scheinen unversehrt.
Unser dünn besiedelte Villenviertel Dahlem
Hier beginnt das sehr dünn besiedelte Villenviertel Dahlem. Hier Bomben zu werfen hat sich bisher nicht gelohnt. Die Gartentür steht offen. Die rote, schwere Holztür mit den dicken Glasprismen steht offen. Alle Türen im Haus stehen offen.
Dann finde ich Mutter und Schwester zusammengekauert im Heizkeller. »Was ist das für ein Hund?« fragen sie mich. Ich drehe mich um: der Foxterrier.
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Ich sinke zusammen.
Eine halbe Stunde später heulen die wenigen intakt gebliebenen Sirenen Entwarnung. Gut versorgt liege ich im Bett. Zu meinen Füßen der Hund.
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Am nächsten Morgen
Am nächsten Morgen erwache ich erst gegen Mittag. Ich gehe zum Telefon. Die Leitung ist tot. Vielleicht noch von gestern, wie immer bei Fliegeralarm. Dann ist man von aller Welt abgeschaltet. Doch ich Strippenzieher kenne den Trick, um trotzdem sprechen zu können: Eine der beiden Adern auftrennen und eine 60-Volt-Batterie dazwischenschalten.
Es klappt. Der Verlag. »Wie sieht's aus?« - »Viel Schaden, aber nur drei Verletzte.«
Am Nachmittag fahre ich schon wieder in die Redaktion. Sie ist heil geblieben.
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Und in ganz Berlin?
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- 10 Quadratkilometer des dichtbesiedelten Stadtkerns sind vernichtet.
- 6.166 Tote.
- 18.431 Schwerverletzte.
- 1,5 Millionen Obdachlose.
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Werden sie wiederkommen?
Und die bange Frage: Werden sie wiederkommen? Sie kommen wieder: In den letzten Monaten des Krieges geben sie dieser Stadt in pausenlosen Nachtangriffen den Rest.