Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)
Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.
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Kapitel 17
Studienjahre
Die nächsten Jahre waren Jahre der Reife und nicht mehr. Ich habe gelernt, leicht gelernt und nicht gebüffelt. Ich hatte schnell einen interessanten Freundeskreis - gebildete junge Leute aus gutem Hause - und fand sogar einen Semesterkollegen, der hervorragend Klavier spielte. Er war ein netter Junge, hieß Klaus Semmler, stammte aus einer Kleinstadt in Schlesien und war im Gegensatz zu mir furchtbar schüchtern.
In der Musik waren wir sofort ein Herz und eine Seele. Wir suchten uns in Chemnitz ein besonders schönes möbliertes Zimmer mit Klavier und zogen zusammen.
Klaus Semmler und meine Schwester
Ich schleppte ihn ins Kino, in die Oper, ins Theater, wir sahen zusammen Kaimans >Bajadere< und Jessels >Postmeisterin<. Das alles war für ihn eine Offenbarung. Sein Vater besaß eine gutgehende Farbenfabrik, aber die Familie war so zerrüttet, daß er während der Semesterferien nicht nach Hause fahren mochte. Ich nahm ihn mit nach Königswinter.
Dort verliebte er sich prompt in meine Schwester, und schon wenige Tage nach unserer Ankunft spielten sie vierhändig Klavier. Gottlob nicht das >Gebet einer Jungfrau<.
Oh weh - anfänglich die Geige brillant gekratzt
Als mein Vater uns zum erstenmal zusammen hörte, fragte er in allem Ernst: »Du studierst doch nicht etwa heimlich Musik statt Physik?«
Ich hatte mich schon im ersten Semester durch das tägliche Zusammenspiel mit Klaus enorm verbessert. Dadurch, daß ich nicht immer wieder durch Sonaten vor neue technische Schwierigkeiten gestellt war und mich ganz auf das Musikalische konzentrieren konnte - Klaus war in dieser Hinsicht mein Lehrmeister -, machte mir das Geigenspiel zum erstenmal wirklich Freude. Klaus sagte später einmal, ich hätte anfangs technisch brillant... gekratzt.
Wir spielten die Zigeunerweisen mit Erfolg
Wir musizierten manchmal sonntags stundenlang und vergaßen darüber das Essen. Klaus kaufte alle berühmten Geigensoli, und es gab kein Bravourstück, das wir in diesen Jahren nicht bis zur Vollendung übten.
Keines, bis auf eines: die >Zigeunerweisen< von Sarasate.
Er legte mir die Noten vor - und wir legten los. Ich hatte daran verdammt zu knabbern und übte einzelne Sätze oft stundenlang allein, aber als das Zusammenspiel dann endlich klappte, sagte Klaus, was auch ich empfand: »Das war gekonnt, damit würden wir überall gut ankommen - aber es war nicht ungarisch, das war viel zu notengebunden, nicht wild genug. Und die berühmte Melodie des Mittelsatzes muß die Geige nicht singen, sondern... sprechen. Ungarisch sprechen - rubato.«
Wir spielten die Zigeunerweisen mit Erfolg, obwohl wir beide wußten, daß es deutsche Zigeunerweisen waren.
Ich habe dieses Bravourstück erst viele Jahre später wirklich vortragen können, nachdem ich hervorragende Zigeunerkapellen und Ungarn kennengelernt hatte: Vierzig Jahre später wurden sie dann mit dem großen Orchester des Hamburger Senders unter Harry Herrmann (Spitz) für Privatzwecke auf Band genommen. Ich habe noch eine Bandaufnahme davon und spielte sie mir - sehr selten zwar - ein wenig wehmütig vor.
Tempi passati!
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»Und du willst Ingenieur werden?«
Klaus war musikalisch bis in die Fingerspitzen. »Und du willst Ingenieur werden?« fragte ich ihn eines Tages.
»Ich muß - wohl oder übel als einziger Erbe. Die Fabrik geht gut, und der Alte will sie noch erheblich vergrößern.« Wohl oder übel...
Auch ich hatte ja ganz andere Zukunftspläne. Ob sie sich wohl realisieren ließen, da ich erkennen mußte, daß die neuen technischen Entwicklungen und die theoretischen und praktischen Fortschritte mich immer stärker interessierten? Deutsche Techniker hatten mit ihrer 1906 in Nauen errichteten Großfunkstelle schon 1918 den Erdball umspannt und versuchsweise sogar Musik abgestrahlt. Hans Bredow hatte in Berlin drahtlos übertragene Sprache und Musik mit einem Lautsprecher hörbar gemacht.
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Die Lehrbücher von Fritz Schröter
Im Berliner Julius (!) Springer Verlag erschienen Lehrbücher über drahtlose Telegrafie und Telefonie von Fritz Schröter. Die schon 1903 von AEG und Siemens gegründete Firma Telefunken gab sogar Fortschrittsberichte in einer Hauszeitschrift heraus; Amateure machten auf bisher nicht benutzten Kurzwellen Versuche und überbrückten damit Entfernungen, die von den Fachleuten als Jägerlatein belächelt wurden.
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Der Drahtton hatte funktioniert
Curt Stille gelang es, aufgrund des von Valdemar Poulsen entdeckten Effektes Sprache und Musik auf Stahldraht, Stahlstäbe und Stahlband magnetisch zu speichern und damit den Anstoß zur Entwicklung des Magnetbandes einzuleiten. Der Schallplatte erwuchs ein gefährlicher Konkurrent...
Die Studienjahre waren aufregend und anregend.
Eine neue, schwierige und aufregende Technik begann die Menschen in aller Welt zu erregen. Ich stieg begeistert ein, obwohl ich zuweilen Schwierigkeiten hatte mitzukommen.
Selbst heute noch muß ich mitunter neue wissenschaftliche Veröffentlichungen zweimal lesen, ja regelrecht studieren, um sie zu verstehen.
Die Studienjahre waren aufregend und anregend. Heute weiß ich nicht einmal mehr, was mich damals stärker gefesselt hat: die Musik oder die Technik. Ich war mir nur über eines klar: Ich wollte nach Berlin.
Ich wollte nach Berlin.
Schon während des letzten Semesters beschaffte ich mir Pläne und Literatur über Berlin. Statt vor dem großen Reißbrett am Entwurf eines Gleichstrommotors weiterzuarbeiten, studierte ich manchmal lieber den Stadtplan von Berlin. Er hieß >Berlin in der Tasche<, doch das genügte mir nicht. Bevor ich die Stadt meiner Sehnsucht betrat, wollte ich sie nicht in der Tasche, sondern im Kopf haben. Ich wollte in Berlin schon am Tag meiner Ankunft zu Hause sein ...
Mein Examen bestand ich trotz einiger Schwächen auf Gebieten, die mich weniger interessiert hatten, ohne Nachprüfung. Der Weg nach Berlin war frei.
Nach Berlin mit dem Nachtschnellzug
Ich ging leichten Herzens. Schwer fiel mir nur der Abschied von Klaus, schwerer, als ich erst geglaubt hatte. Daß er in seine schlesische Kleinstadt und in ein ungeliebtes Elternhaus zurückmußte ...
Ich nahm den Nachtschnellzug. Abfahrt sieben Uhr. Den monströsen Koffer hatte ich meiner Wirtin überlassen - als Wäschetruhe. Der neue Koffer war nicht halb so groß, aber .. . die vielen Noten und Bücher! Einen Teil der Romane gab ich Klaus, aber der Rest wog trotzdem über einen Zentner. Eine Speditionsfirma übernahm die Verpackung und lagerte die Kiste, bis ich ihr meine Berliner Adresse mitteilen konnte.
Wenn ich kann, komme nach . . .
Klaus brachte mich zum Zug. Er hatte seine Abreise wegen einer Nachprüfung in Differential- und Integralrechnung um vier Wochen verschieben müssen. Offensichtlich eine willkommene Gelegenheit, seine Heimkehr aufzuschieben.
Ich versuchte durch belangloses, oberflächliches Geschwätz über die letzten Stunden hinwegzukommen, doch er blieb schweigsam.
»In diesem schlesischen Nest und unter diesen Verhältnissen gehe ich ein. Beschaff mir eine Möglichkeit, und ich komme nach!«
Ich sah die Verzweiflung in seinen Augen und machte mir Sorgen um ihn.
»Sobald ich ein Zimmer habe, schreibe ich dir, und wenn ich in Berlin eine Chance für dich entdecke...«
»Das wird sehr schwer sein. Hoffentlich kommst du selber erst einmal unter.«
Der Abschied von Klaus
Ich kletterte in mein Abteil, öffnete das Fenster und unterhielt mich mit ihm, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Ein letzter Händedruck, und dann sah ich, wie er winkend kleiner und kleiner wurde, bis ihn der Zug an einer Kurve meinen Blicken entzog...
Ungalublich neugierig auf Berlin
In meinem Abteil war ich allein. Ich nahm den Platz am Fenster und schloß die Augen. Die Fahrt würde zwar lange dauern, aber dann ...? Die Abendzeitung hatte auf der ersten Seite von Arbeiterunruhen im Stadtteil Wedding berichtet, auf Seite zwei von großartigen Plänen zum weiteren Ausbau des U-Bahnnetzes, das schon jetzt mit einer sieben Kilometer langen Strecke von der Seestraße, hoch im Norden, bis zum Halleschen Tor führte und bald alle Berliner Fernbahnhöfe verbinden sollte. Seite drei gab Auskunft über den Lustmord an einer neunundsechzigjährigen Witwe und die Uraufführung einer offenbar reichlich frechen, aber geistreichen Komödie.
Ich träumte von Berlin
Mein Gott, das alles und noch viel mehr an einem einzigen Tag? Das alles gestern? Und was würde morgen geschehen und übermorgen und ... Ich träumte von Berlin, aber ich fand in dieser längsten Nacht meines Lebens keinen Schlaf.
Berlin - ein einziges Abenteuer? Ja! Ich hatte es nicht anders gewollt. Wie jetzt wohl Klaus zumute sein würde? Ich wischte den Gedanken beiseite.
Morgen vormittag würde ich gleich bei der >Ziegenberg AG für elektrische Kleinbeleuchtung< anrufen. Bei ihr hatte ich mich schon vier Wochen vorher um eine ausgeschriebene Stellung als - man sollte es nicht glauben - Ingenieur zur Bearbeitung von Werbeprospekten beworben. Und zwar ein bißchen frech - aber originell. Wenn die Leute Sinn für Propaganda hatten, mußten sie mich zu einem Gespräch empfangen.
Und das wollten sie. Ich sollte mich melden, sobald ich in Berlin sei.
Und wenn die mich nicht mochten oder wenn mir die ausgeschriebene Stellung nicht gefiel?
100 echte amerikanische Dollar, ein Vermögen
Nun, dann brauchte ich in Berlin nicht zu hungern, selbst wenn die Mark auch weiterhin an Kaufkraft verlieren sollte. Ich hatte noch hundert Dollar von Rudi in der Tasche, echte amerikanische Dollar von dem Geld, das er mir während der Studienjahre in >Liebesbriefen< geschickt hatte. Und wieviel Geld das damals war? Unvorstellbar viel!
Irgendwo unterwegs stieg ein älterer Herr mit viel Gepäck ein.. Er nahm mir gegenüber am Fenster Platz und fragte mich, ob ich auch bis Berlin führe. Als ich das bejahte, war er offensichtlich beruhigt. Er machte sich's bequem, schloß die Augen und schlief sofort ein. Ich hörte es an seinem Schnarchen.
In den Zügen gab es damals Gaslampen, Halbschalen an der Decke, die sich durch Blenden verdunkeln ließen. Es war ein schönes weißes Licht, bei dem man gut lesen konnte. Ich zog sie zu und starrte hinaus in den langsam dämmernden Tag.
Kapitel 18
Berliner Luft - Wurzeln schlagen
Als der Zug in der Früh am Anhalter Bahnhof einlief, goß es in Strömen. Ich schüttelte mich verstört. Empfing mich so die Stadt meiner Traume? Grau in Grau? Bei dem Sauwetter sollte man keinen Hund vor die Tür jagen!
Wenn schon; ich bin in Berlin. Hier bin ich und hier bleibe ich! Rasch ins nächste Hotel. Ein Einbettzimmer, zunächst für eine Nacht, und erst mal verschnaufen.
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Bei der Ziegenberg AG
Um elf rief ich bei der Ziegenberg AG an. - Ergebnis, Herr Ziegenberg würde sich freuen, mich um zwei Uhr zu empfangen. - Schöneberg, Eisenacher Straße 16.
Um zwei Uhr regnete es nicht mehr. Ich war pünktlich und wurde gleich von beiden Firmeninhabern begrüßt: Herr Ziegenberg war etwa fünfzig, groß, blonde Locken, Herr Rosenthal etwa fünfundfünfzig, mittelgroß, dunkelbraun, unscheinbarer, nüchterner Typ.
Meine Bewerbung war provozierend
Herr Ziegenberg musterte mich eine Weile wohlwollend und sagte dann - mit dem Handrücken über meine Bewerbung wischend:
»Sie schreiben uns da - >Ihr Firmenzeichen taugt nichts. Ein Oval mit zwei verschnörkelten Buchstaben, das ist allenfalls ein antiquiertes privates Monogramm, aber nicht das Symbol einer modernen Batteriefabrik. Dabei läßt sich aus den Buchstaben ein sehr markantes Symbol in der Form einer Taschenlampe bilden. Siehe Anlage. Sie wissen, daß Sie jemanden brauchen, der Sinn für moderne Reklame hat. Wenn Sie meinen, daß ich das sein könnte... Ich ziehe nach Abschluß meines Examens nach Berlin und werde mich dann telefonisch melden. <«
Er stemmte beide Hände auf den mächtigen Schreibtisch und fuhr dann mit einem Blick auf Herrn Rosenthal fort: »Wir haben uns natürlich gesagt, wer sich in einer solchen, völlig aus dem Rahmen fallenden Form meldet, weiß, daß es in der Werbung vor allem darauf ankommt, neugierig zu machen. Nun, das haben Sie erreicht.«
Ihr Entwurf wirkt überzeugend ...
»Außerdem wirkt Ihr Entwurf überzeugend ...« warf Herr Rosenthal ein.
Und Herr Ziegenberg redete weiter: »... aber unser Firmenzeichen ist der Entwurf eines alten Freundes, der früher als Reklamezeichner sehr große Erfolge erzielt hat. Sie werden verstehen, daß wir es schon aus diesem Grund nicht ändern könnten.«
»Sie wollten uns ja wohl auch nicht einen Entwurf verkaufen«, ergänzte Herr Rosenthal, »sondern uns gleich mit Ihrer Bewerbung zeigen, daß Sie sich für die ausgeschriebene Stellung eignen. - Das ist Ihnen gelungen. Wären Sie mit einem Probemonat einverstanden?«
»Grundsätzlich ja, wenn ich vorher mein zukünftiges Arbeitsgebiet kennenlernen dürfte.« Sie führten mich durch die kleine Batteriefabrik mit etwa sechzig Arbeitern.
Die Bewerbung verlief sehr positiv
»Unsere Taschenlampenbatterien sind weder besser noch billiger als die der Konkurrenz - aber beliebter. Das hat einen einfachen Grund: Batterien fressen sich mit der Zeit selber auf. Und da liegt unsere Stärke: Während die großen Fabriken die Lieferung kleiner Posten verständlicherweise ablehnen müssen, können die Händler bei uns schon ein Dutzend bestellen; wir liefern sie sofort aus der laufenden Fertigung. Der Händler braucht also kein großes Lager zu halten, die Batterien sind immer frisch - und der Kunde merkt schon bald, daß unsere Batterien länger halten.«
Das war überzeugend. »Und Ihre Gehaltsansprüche?«
»Was hier in Berlin normalerweise an einen jungen Ingenieur gezahlt wird. Wann darf ich anfangen?« - »In drei Tagen ist der Erste.«
»Dann habe ich also genügend Zeit, mir ein Zimmer zu suchen.«
Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden in Berlin und hatte schon Boden unter den Füßen. - Jetzt hieß es Wurzeln schlagen.
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Ein Zimmer mit Klavier!
Ein möbliertes Zimmer, möglichst nahe an der Fabrik. Ein Vermittler riet mir zu der Gegend um den Bayrischen Platz. Feine Gegend. Das dritte Zimmer fand ich prima. Wartenbergstraße. >Eingang nur für Herrschaften<, Fahrstuhl, vierter Stock. Inhaberin Frau Major Wangemann. Der Major lebte zwar nicht mehr, aber daß Frauen sich mit den Titeln ihrer Männer schmückten, war damals üblich.
Frau Wangemann war eine reizende, kultivierte Dame, das Zimmer - zur Straße - ein Salon mit einem hineingestellten Bett und einem Klavier, das die Dame leider nicht herausnehmen könne, aber da das Zimmer reichlich groß sei...
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So bin ich dort halt eingezogen
Ein Zimmer mit Klavier! Ich ließ mir meine Freude nicht anmerken.
Was ich für einen Beruf hätte, wo ich beschäftigt sei und ob mir der Mietpreis auch nicht zu hoch sei? Konnte die Miete für ein solches Zimmer mit Klavier überhaupt zu hoch sein? Jetzt müßte nur noch Klaus ... aber in Berlin würde ich auch einen Musikpartner finden. - Irrtum! Es hat fast ein Jahr gedauert!
Ich zahlte die Miete im voraus, zog ein und fühlte mich geborgen.
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In der Weltstadt Berlin- ein Telefonamt mit Frauleins vom Amt
Jetzt zu Hause anrufen. Wo die nächste Telefonzelle sei? Telefonzelle? Man hatte natürlich schon Telefon. Es hing - wohl im Hinblick auf einen Untermieter - im Flur gleich neben der Wohnungstür. An der Kurbel drehen, und dann meldete sich das Fräulein vom Amt. Robert Stolz hatte sie schon in einem seiner erfolgreichsten Schlager verewigt: >Hallo, du süße Klingelfee!<
Ich drehte die Kurbel. Eine Frauenstimme: »Hier Stephan.«
»'zeihung, falsch verbunden!« - Nein, das Amt hieß Stephan.
Ich stutzte einen Augenblick. Wieso diese Frauenstimme, wieso Stephan? Waren die Damen an den riesigen Klappenschränken mit ihren Stöpselschnüren nicht schon durch vollelektrische Ämter ersetzt worden? Hatte die Post nicht nach jahrelangen Vorversuchen in Berlin das erste Fernsprech-Selbstanschlußamt errichtet?
Ja - aber erst in einem kleinen Ortsbezirk der Riesenstadt. Und gar eine Fernwahl quer durch das Reich? Es wurde überall noch brav gestöpselt.
Kein Wunder also, daß ich Mama erst eine Stunde später am Apparat hatte.
Daß ich sofort nach Berlin gefahren war, fand sie ebenso >überraschend< wie besorgniserregend. »Du wirst in Berlin verhungern!«
Die ersten Tage in Berlin
Zwei freie Tage, herrliches Wetter. Ich laufe und laufe durch Berlin, bis mich die Füße schmerzen.
Himmel, was für eine Stadt, was für ein überwältigender Eindruck!
Der Ingenieur war ein Ungar
Dann mein erster Tag als Angestellter. Man hatte mir einen Platz im Labor freigemacht. Hier überwachte ein Ingenieur laufend die Fabrikation, und eine junge Laborantin half ihm dabei.
Der Ingenieur hieß Tibor Bänky. Auf den Querstrich über seinem Namen legte er ebenso großen Wert wie später der Chefredakteur Bacher von HÖR ZU auf den Akzent. Tibor Bänky war ein vierzigjähriger, überaus lebenslustiger Sohn der Puszta samt zugehörigem Schnurrbart. Der Querstrich über dem a war notwendig, weil das a sonst von den Ungarn als o gesprochen würde.
Die Laborantin eine Jungfer
Die Laborantin hieß Gauhs und war ein nettes, bescheidenes Mädchen. Er stellte sie mir singend mit dem veränderten Schlagertext vor: »Die Gauhs, die kleene Gauhs, die zieht sich uff Kommando aus.«
Schon sah ich die Jungfer hold erröten - doch sie winkte nur lachend ab. Womit die Stimmung an meinem Arbeitsplatz wohl einigermaßen charakterisiert wäre: Es war ein fideles Gefängnis, in dem ich allerlei Ungarisch lernte. Vor allem Lieder.
Zum Beispiel: »Pirosch bord istosch os äschte, radjogol, tschillagomm, galambomm ...« Ich habe nie erfahren, was das heißt, halte es aber - wie ich Bänky in Erinnerung habe, für nicht ganz stubenrein.
Eine tolle Idee mit unlösbaren Problemen
Sozusagen nebenbei arbeitete Herr Bänky an der Vervollkommnung der >Eltra-Lampe<. Sie war eine patentierte Erfindung von Herrn Ziegenberg und war daran schuld, daß Herr Rosenberg mit viel Geld in die Firma eingestiegen war.
In jedem normalen Akku ist Schwefelsäure. Sie sorgt leider dafür, daß sich der Akku - auch wenn er nicht gebraucht wird - langsam selbst entlädt. Und an diesem Punkt setzte die geniale Idee Ziegenbergs ein: Er stülpte über den offenen Akku ein leeres Gefäß, so daß man ihn bei Nichtgebrauch nur auf den Kopf stellen mußte, damit die Selbstentladung aufhörte.
Schwefelsäure ist ein verdammt gefährliches Zeug: Sie hat nicht nur die Untugend, bei Betrieb zu gasen, sondern auch zu kriechen. Und da lag die entscheidende Schwierigkeit: ein Ventil zu schaffen, das die Gase abläßt, aber das verfluchte Kriechen der höchst gefährlichen, ätzenden, alles zerfressenden Säure verhindert.
Das ist Bänky nie gelungen und mußte eines Tages zum Tode der schönen Idee führen.
Die Inflation schlug zu
Die Arbeit machte mir Freude und wurde anerkannt. Mein Gehalt stieg von Monat zu Monat, später sogar alle zwei Wochen. Weil ich so tüchtig war?
Irrtum - weil wir uns nun mitten in den >goldenen Zwanzigern< befanden. Weiß der Kuckuck, welcher Idiot das alberne Schlagwort von den Goldenen Zwanzigern in die Welt gesetzt hat. Ich habe diese schreckliche Zeit in Berlin miterlebt und miterlitten.
Von Milliarden und Billionen
Es war die Hölle! Das Papiergeld, das wir am Monatsende erhielten, war nur noch die Hälfte wert, so stiegen die Preise. Die Firmen zahlten daraufhin alle zwei Wochen - doch die Inflation holte uns immer wieder ein. Also wöchentlich! - Sie überholte uns trotzdem. Die Notenpresse gab immer neue Scheine heraus. Wir lernten mit Tausenden, Millionen, Milliarden, Billionen zu rechnen.
Morgens, Mittags , Abends - Ananas
Doch selbst für die Billionen gab es kaum etwas zu kaufen. Die Regale waren leer und blieben leer. Nur eines gab es bis zum Überdruß: Ananas in Büchsen. Warum, wissen wohl nur die Götter. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht soviel Ananas gegessen wie damals. Sie widerstehen mir heute noch in Erinnerung an diese Zeit.
Eingeladen in die Welt der Ungarn
Tibor Bänky wußte, daß ich allein war, und tat alles, um mich aus dieser Einsamkeit zu erlösen. Er nahm mich mit zu den lustigen Abenden seiner Landsleute. Sie sprachen alle deitsch, ihriges. Und sie musizierten. Echte ungarische Volksmusik und Zigeunermusik - denn das ist nicht dasselbe.
Ich hörte sie zum erstenmal und bekam langsam ein Gefühl für diese Art, Musik zu machen. Die Zigeunerweisen von Sarasate ... langsam begriff ich, weshalb Klaus und ich sie nie echt geschafft hatten. Wenn ich jetzt einen Klavierpartner wie ihn hätte!
Ich fand Freunde, aber keinen Klaus
Bänky kannte meinen Kummer. »Gehn Sie doch ab und zu in die Musikhochschule, da lernen Sie soviel Musikstudenten kennen, wie Sie wollen.«
Das stimmte, aber die hatten auch alle ihre Probleme - und was für Probleme. Ich solle doch eine kleine Tanzkapelle aufziehen und irgendwo am Kurfürstendamm Tanzmusik machen. Das brächte Geld. Und Geld brauchte jeder von ihnen.
Ja, ich fand ein paar interessante Freunde, aber keinen Klaus.
Nov. 923 - Jeder Dollar war zwölf Billionen Mark wert
Inzwischen stieg der Dollar, stieg und stieg in himmlische Höhen - und die Mark sank in schauerliche Tiefen. In der letzten Novemberwoche 1923 kostete ein Dollar zwölf Billionen Mark. Das ist eine Zwölf mit zwölf Nullen! Zucker und Brot 250 Milliarden das Pfund, und ein gelernter Arbeiter bekam drei Billionen pro Tag. Meine Dollars - nur Stück für Stück und mit größter Vorsicht ausgegeben - schrumpften langsam dahin. Da das Papiergeld zu Staub zerfiel, blühte der Tauschhandel. Man mußte nur was zum Tauschen haben.
Hungernde Berliner ziehen auf die abgeernteten Felder, um Kartoffeln und Rüben nachzulesen. In den Schulen gibt es warmes Essen für die Kinder. Hungerödeme.
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Es riecht beängstigend nach Bürgerkrieg.
Aber die Kinos sind voll. Die Erfinder des Tonfilms, Vogt, Engl und Massolle, führen am 23. September 1923 ihren ersten kurzen Tonfilm vor: >Ein Tag auf dem Bauernhof.< Mit einem naturnah krähenden Hahn!
Ich sehe mir den Film dreimal an und bin vor Begeisterung aus dem Häuschen. Das ist die Zukunft - aber die deutsche Industrie zeigt kein Interesse.
Auch die Theater sind voll. Aber wer hat schon das Geld, um ins Theater zu gehen? Das Kino ist billiger und gleich um die Ecke. Das Geheimnis sind die >Steuerkarten<, weiße Gutscheine. Die konnte man sich in jedem Laden von der Theke nehmen und zahlte damit an der Kasse nur die Billettsteuer für den freien Platz. Effekt: >Kino ausverkauft!<
Unmittelbar vor einer Katastrophe
Das Reich steht unmittelbar vor einer Katastrophe. In Hamburg Straßenschlachten zwischen Kommunisten und schwerbewaffneter Polizei, in Bayern und im Rheinland werden die Separatisten wieder mobil. Bei den Sedan-Gedenkfeiern in München greift ein Österreicher namens Hitler, neben Ludendorff stehend, die Reichsregierung scharf an und gründet den >Deutschen Kampfbund<.
Das Unheil Hitler beginnt heraufzuziehen.
In letzter Sekunde macht die Regierung dem Milliardenspuk mit der vertrauenerweckenden Rentenmark ein Ende. Das Inflationsgeld wird vernichtet.
Eines Tages geht der Ziegenberg AG das Geld aus, sie muß ihre Tore schließen. Ich stehe oder liege - wenn man so will - auf der Straße. Allein in einer großen, fremden Stadt.
In Berlin bleiben - bezahlt mit Hungern
Aus Angst, mein schönes Zimmer zu verlieren, zahlte ich von dem Rest meines Geldes die Miete in Rentenmark für zwei Monate im voraus. Und dann begann das Hungerleiden.
Monatelang lebte ich fast nur von Schrippen und dünnem Tee, war aber nicht untätig. Ich schrieb eine Kurzgeschichte, eine Tiergeschichte, und schickte sie an das Scherl-Magazin.
Magazine waren damals etwas Neues.
Schwer, ihren Inhalt zu charakterisieren. Vielleicht, weil sie keinen Charakter hatten. Jedenfalls enthielten sie aber amüsanten Lesestoff über alles und jedes. Auch Ullstein gab ein Magazin heraus. Es hieß UHU.
Und es geschah ein Wunder: Eines Tages rief mich ein Herr Miketta vom Scherl-Magazin an. Meine Geschichte hätte ihm gefallen; er brächte sie im nächsten Heft. Und ob ich noch mehr solche Tiergeschichten hätte?
Ja, schwindelte ich, ich könnte ihm in den nächsten Tagen noch eine schicken, ich müßte sie nur erst tippen.
Oje, eine zweite Tiergeschichte!
Nicht ohne Stolz erzählte ich meiner Wirtin von dem Erfolg bei dem Magazin, aber auch von meiner Sorge, nun eine zweite Tiergeschichte erfinden zu müssen.
Frau Major wußte Rat: »Gehen Sie heute in den Zoo. Dann wird Ihnen schon was einfallen.« Und so war es. Der einmalige Besuch im Zoo gab mir Stoff für vier weitere Geschichten.
Die erste erschien, sehr schön aufgemacht und illustriert und märchenhaft honoriert. Zweihundert Mark. Rentenmark!
Der Chefredakteur Miketta ausgeschieden - oder gefeuert ?
Mit der zweiten Geschichte ging ich zu Scherl, um sie Herrn Miketta persönlich zu übergeben. Herr Miketta sei leider ausgeschieden, ich konnte die Geschichte aber dalassen.
Ich wartete voll Ungeduld. Dann kam ein dicker Umschlag und der Schlag, den ich lange nicht verwinden konnte und nie vergessen werde: Der neue Chefredakteur hatte andere Pläne und wollte keine Tiergeschichten bringen.
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Aus der Traum ?
In diesen Tagen sprachen ein paar Spinner von einem aufsehenerregenden Buch. Ein österreichischer Raketenforscher, ein gewisser Oberth, Hermann Oberth, hatte es geschrieben: >Die Rakete zu den Planetenräumen.< Er hätte ausgerechnet, daß die Menschen eines Tages mit einer Rakete nach Art der Feuerwerkskörper durchs Weltall reisen könnten, ähnlich wie das Jules Verne, der Lieblingsschriftsteller meiner Knabenzeit, in seinem Roman >Die Reise zum Mond< beschrieben hatte.
War das ernst zu nehmen? Ich ging in eine große Buchhandlung und erwartete ein utopisches Gewäsch. Doch welche Überraschung: keine Spur von Utopie, sondern ganz ernsthafte Wissenschaft mit langweiligen Formeln und Kurven, geschrieben von einem Gelehrten, der schon 1918 seine erste Arbeit über den Antrieb durch Raketenrückstoß veröffentlicht hatte. Klar, daß ich mir das Buch kaufte. Klar, daß ich mich dann tagelang durch die Formeln und Kurven quälte, bis ich es begriffen hatte. Und dann war ich auch schon Feuer und Flamme.