Eduard Rheins Buch über sein Leben (1990)
Der langjährige Chefredakteur der HÖRZU schreibt über sein Leben, seine Jugend, seine Zeit in Berlin bis 1945, den Wiederanfang 1946 und die Zeit im Springer-Verlag in Hamburg. So sind es fast 480 Seiten, bei uns im Fernsehmuseum etwa 120 Kapitel, in denen so gut wie alle "Größen" dieser Zeit vorkommen. Und er schreibt als 90jähriger rückblickend über die Zeit und sich selbst. Darum lesen Sie hier natürlich seine Sicht der Ereignisse bzw. "seinen Blick" teilweise durch die "rosarote Brille". Das sollte man beachten und verstehen. Die Inhaltsübersicht finden Sie hier.
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Dann war lange Nachwuchs-Pause - bis zum 27. August 1900 . . .
und dann kam ich - endlich Eduard der II.
Denn nach Rudi kam und kam nichts mehr; ich meine an Nachwuchs, obwohl es elterlicherseits nicht an dem ehrlichen Bemühen gefehlt hat, ihm das traurige Schicksal eines einzigen Kindes zu ersparen.
Die Mutter hatte ihren (ersten) blonden Jungen schon mit siebzehn unter Lebensgefahr zur Welt gebracht ... und daran muß es wohl gelegen haben. Es gab eine Reihe von Fehlgeburten, und endlich - aber erst nach zehn Jahren: Es war im Jahre 1900 ... endlich gab es mich.
Kapitel 3
Das Jahr 1900 und ich
Ein Jahrhundert geht zu Ende. Ein neues beginnt. Paris hat aus diesem Anlaß die internationale Weltausstellung mit ungeheurem Pomp eröffnet. Das verklingende neunzehnte Jahrhundert hat einen grandiosen Abschluß gefeiert, und das zwanzigste kündigt sich schon vielversprechend an: Der geniale französische Ingenieur Gustave Eiffel hat der französischen Metropole mit dem nach ihm benannten Turm ein Wahrzeichen geschaffen, seinen Landsleuten einen weltweit sichtbaren Beweis ihres Könnens gegeben und der gesamten Welt das Symbol künftiger technischer Größe geliefert. Mit seinen dreihundert Metern ist der Eiffelturm das höchste und kühnste Bauwerk seiner Zeit.
Diese Ausstellung - im Glanz von fünftausend elektrischen Glühbirnen - überstrahlt alles bisher Gebotene. Auf ihr stellt die >Grande Nation< nicht nur die Spitzenerzeugnisse der ganzen Welt, sondern letztlich auch sich selber aus.
Schwindelerregende Zukunftsbilder - Die Welt im Jahre 2000
Unter dem Schlagwort "Die Welt im Jahre 2000" malen die Utopisten schwindelerregende Zukunftsbilder an den Himmel. Allen voran der französische Schriftsteller Jules Verne in seinen atemberaubenden Jugendromanen. Unterseeboot, Ballon und Mondrakete beflügeln die Phantasie. Seine Bücher werden in aller Welt von Millionen verschlungen und erleben gigantische Auflagen.
Das Jahrhundert eines rasanten technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts wird eingeleitet. Elektrisches Licht in den Wohnungen, Automobil, Flugzeug, drahtlose Telegrafie und Film, Schallplatte, Magnetophon, Schnellpresse und Naturstoffsynthese sind schon in ihren Ansätzen und weit greifenden Patentanmeldungen erkennbar.
Ein weltbewegendes Ereignis am 1. Sept. 1900 - die Taufe
Und noch ein weltbewegendes Ereignis wirft am 1. September seine Schatten voraus: An diesem Tag bringt der Königswinterer Hotelier Eduard Rhein, der zwar seine Kirchensteuer pünktlich zahlt, die Schwelle des Gotteshauses aber sonst nie betritt, seinen am 23. August geborenen Sprößling zur Taufe, um ihm die schönen Vornamen Eduard und Rudolf anhängen zu lassen.
Es wird eine der peinlichsten Situationen seines Lebens. Als der Dechant bei der hochheiligen Handlung das Weihwasser über das Köpfchen des Täuflings gießt, erhebt dieser ein so satanisches Geschrei, wie es weder vorher noch nachher in dem altehrwürdigen Gotteshaus zu hören gewesen ist.
Den anwesenden Taufzeugen läuft es ob dieses Sakrilegs eiskalt über den Rücken, und dem alten, allseits beliebten und verehrten Dechanten Commes fällt das silberne Kännchen mit dem heiligen Wasser aus der Hand, direkt auf den Täufling. Ein böses Omen.
Der stolze Papa findet das Benehmen seines langersehnten zweiten Sprößlings zwar skandalös, aber angesichts des kalten Wassers verständlich, während die arme Mutter einer Ohnmacht nahe ist.
Zwei mal getauft - das wirkt - auf ewig
Ins Hotel zurückgekehrt, holt Papa eine Flasche >Drachenblut< aus dem Keller - den Wein, der auf dem Drachenfels der Siegfriedssage wächst - und tauft mich zum Entsetzen meiner Mutter damit zum zweitenmal.
Natürlich haben die beiden Taufen sich rasch herumgesprochen, und die Taufe mit dem Drachenblut gab all meinen echten und unechten Freunden Wasser auf die Mühle. Formvollendet dürften beide Taufen wohl nicht gewesen sein. Jedenfalls behaupteten meine Königswinterer Jugendfreunde, ich fürchtete das Weihwasser mehr als den Teufel und ginge deshalb - getreu dem stadtbekannten Vorbild meines Vaters - nie in die Kirche, sondern stets schnell daran vorbei.
1900 - Der Osmium-Draht und der Glühstrumpf
Nicht ganz so wichtig wie mein irdisches Erscheinen, aber immerhin erwähnenswert ist, daß 1900 ein gewisser Auer von Welsbach in diesem Jahre des Heils nach seinem schon 1892 erfundenen Glühstrumpf für Gaslampen und dem Feuerstein für Gasanzünder und Taschenfeuerzeuge auch noch die elektrische Osmium-Glühdrahtlampe erfunden hat.
In ihr wurde anstelle der ewig zitternden, schnell verbrennenden und nur rot glühenden Bambusfaser der sehr viel höher erhitzbare und deshalb auch viel mehr Licht abstrahlende Osmium-Draht vom Strom durchflössen. Daß die erste Silbe seines Namens mit der letzten Silbe des Namens eines anderen Metallfadens zum Firmennamen einer weltberühmten Glühlampenfabrik verschweißt wurde, darüber später.
1900 - Enrico Caruso besingt die schwarzen Scheiben
Alles, was in Paris die Gemüter bewegt hatte, war berauschende ... Zukunftsmusik. Zukunftsmusik machte allerdings auch damals schon der 1877 von Edison erfundene Phonograph, dessen meterlangem Trichter überall in der Welt die Stimmen der berühmtesten Sängerinnen und Sänger entströmten. Enrico Caruso entschloß sich anläßlich meines Geburtsjahres, seinen strahlenden Tenor einer schwarzglänzenden Schallplatte anzuvertrauen, um sie Millionen seiner Verehrer hörbar zu machen und für alle Ewigkeit zu konservieren. Der Phonograph konnte seinen unaufhaltsamen Siegeszug um die Welt beginnen.
In meinem Geburtsjahr verstarb Oscar Wilde
265 Schallplatten hat Caruso dann im Laufe seines ruhmreichen Lebens besungen ... Seine erste Aufnahme habe ich allerdings erst 75 Jahre später auf einem Original-Grammophon seiner Zeit gehört. Ein unvergeßliches, wehmütig stimmendes Erlebnis.
Und da wir gerade von Wehmut sprechen: In jenem Jahr starb, am 20. November, in Paris einer der Unsterblichen, verkommen und verdreckt und wegen seiner gleichgeschlechtlichen Veranlagung zu zwei Jahren Zuchthaus bestraft, verachtet, vereinsamt und verfemt - Englands großer, aber auch reichlich arroganter Dichter Oscar Wilde.
Die erste Automobildroschke kam 1900 in Berlin
Es geschah wahrhaftig viel in meinem Geburtsjahr. Die fortschrittlichen Pariser hatten der Welt zwar mit ihrer ersten Untergrundbahn mächtig imponieren und damit etwas zur Verbesserung des Verkehrs beitragen können, aber die Berliner vergaben dafür 1900 die erste Konzession zum Betrieb einer Automobildroschke.
War das etwa nichts? Kühn und mit lautem Töfftöff wagte sich das Vehikel unter das wiehernde Gewimmel der hufeklappernden Konkurrenz. Die Berliner waren begeistert und fanden die Neuerung pyramidal, denn >pyramidal< war damals ein (Berliner) Modewort wie später >knorke<.
Das Tempo - 25 Kilometer pro Stunde - berauschte sie, denn >Tempo< war die Devise aller echten und zugezogenen Berliner.
Aus dem Boulevardblatt TEMPO wurde später . . . "BILD"
Viel später nannten sie sogar ein Boulevardblatt TEMPO - und da wären wir schon mitten in meiner späteren Lebensgeschichte. Denn der Nachfolger dieses Blattes hieß BILD. Es sollte nach dem damals noch unausgegorenen Wunsch des Verlegers (Axel Springer) eine Art Tagesillustrierte werden und nur aus hochaktuellen Bildern mit Unterschriften bestehen.
Ich entwarf ihm das Blatt wunschgemäß mit dem auch heute noch üblichen roten Quadratschädel - es ruht im Verlagsarchiv -, ließ es unter dem Tarntitel LIDO als angeblich geplante Beilage von HÖR ZU setzen und ein paar Exemplare drucken, sagte dem Verleger aber gleich:
»Axel, dieser schöne Plan ist leider undurchführbar, denn so viele aktuelle Bilder wird es nie geben.«
Kein Wunder, daß schon der erste Chefredakteur sich dieser Erkenntnis nicht verschließen konnte und hochaktuelle Bilder aus der Zeit >vor fünfzig Jahren< bringen mußte.
Das Blatt sollte sich aus Anzeigen tragen und für den sagenhaften Preis von fünf Pfennigen auf den Markt gepumpt werden. - Aber das ist ein Vorgriff auf die Zukunft, auf meine Verbindung zu Axel Cäsar Springer, dem Mann, dessen Imperium ich als Initiator und Chefredakteur von HÖR ZU mit aufbaute.