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Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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(28) Schicksale im Umbruch

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„Was kann mir schon passieren?"

„Sehen Sie sich vor", sagte Peter Suhrkamp zu mir, als wir wie schon oft abends in seiner kleinen, aber gemütlichen Wohnung zusammenkamen und tranken, nur Wein, aber meist ziemlich viel.
„Was kann mir schon passieren?"
„Sie können entführt werden, zum Beispiel. Oder abgeknallt."
„Wer sollte das tun?"
„Nun, natürlich die Russen. Oder Leute, die in ihrem Auftrag handeln."
„Ich bin schließlich kein Deutscher. Ich bin Amerikaner."
Er lachte. „Als ob denen das etwas ausmachen würde! Hinterher werden sie sich sicher bei General Clay entschuldigen. Anstatt die vielen Artikel zu schreiben, die, ich muß es zugeben, sehr wirkungsvoll sind, sollten Sie lieber vielleicht ein Stück für meinen Bühnenvertrieb schreiben."

Was ich auch tat.
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Es hieß „Die Entscheidung" und war für Käthe Dorsch gedacht.

Die spielte es zwar nicht, aber es wurde immerhin aufgeführt, in Frankfurt. Ohne Erfolg. Mein erstes Theaterstück seit meiner frühen Kindheit, in der ich viele geschrieben hatte, die mir und der Nachwelt verlorengegangen sind!

Das geschilderte Gespräch zwischen Peter Suhrkamp und mir fand während der Berliner Blockade statt - Juni 1948 bis Frühjahr 1949.

Wenn ich heute, ein Vierteljahrhundert später, an ihren Ausbruch und an ihren Verlauf zurückdenke, glaube ich zu träumen. Hat das wirklich alles stattgefunden?

Eine Riesenstadt wurde belagert. Erst gab es keinen Güter-, dann keinen Schiffsverkehr mehr, schließlich wurde auch der Bahnverkehr eingestellt, und zuletzt wurden die Zufahrtsstraßen für Autos gesperrt. Das alles wegen der sogenannten „technischen Störungen"!

Aber da gab es ja schon die Versorgung aus der Luft. Natürlich hätten die Russen auch sie jederzeit unterbinden, zumindest unterbrechen können.
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Die Russen wußten um das Risiko einer Konfrontation

Wir, die westlichen Alliierten, zählten ungefähr zehntausend Mann in Berlin, Franzosen und Engländer eingerechnet. Die Russen hatten die halbe Rote Armee vor den Türen der Stadt.

Bei einer Pressekonferenz sagte Clay: „Die Russen würden kaum länger als ein paar Stunden benötigen, um uns zu erledigen, respektive zum Abzug zu zwingen. Niemand könnte sie daran hindern. Sie handeln sich dann freilich einen Krieg mit den USA ein."

„Es ist gut, das zu wissen", sagte ein Korrespondent der Associated Press.

Und Clay: „Es ist besser, daß die Russen das wissen."

Sie wußten es natürlich.
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Die West-Berliner befanden sich in einer recht gefährlichen Lage.

Sie lebten sozusagen Haus an Haus mit Menschen, deren sinnlose Brutalität sie ja in den ersten Wochen nach dem Krieg kennengelernt hatten. Und die Einstellung der Russen und ihrer deutschen Parteigänger zu den West-Berlinern war dadurch nicht versöhnlicher geworden, daß diese in der Zwischenzeit - und, wie sie glauben durften, geschützt durch die westlichen Alliierten - nicht gerade Erfreuliches über die östlichen „Befreier" geäußert hatten, ja, daß sie auch jetzt noch geradezu demonstrativ, wenn auch vorläufig nicht durch Demonstrationen, gegen sie Stellung bezogen.

Etwa, indem sie es ablehnten, in Ost-Berlin für die billige Ost-Mark Lebensmittel einzukaufen, die man in West-Berlin nicht bekam - übrigens auch nicht in anderen ostdeutschen Städten - Ost-Berlin war so etwas wie ein Schaufenster für die Russen.

Da saßen die West-Berliner und hungerten .......

....., und im Herbst und Winter würden sie frieren, und es gab keinen Strom für Beleuchtung, auch nicht fürs Radio, so daß sie meist nicht wußten, wie die Lage war; sie wußten nicht, ob nicht in den nächsten Minuten sowjetische Formationen vor ihrem Haus auftauchen würden - und blieben doch dort.

Nur relativ wenige Berliner hatten sich nach Hamburg oder München abgesetzt, meist wohlhabende, wenn nicht reiche Leute, auch viele vom Film und der Bühne.

Meines Wissens war nur eine Künstlerin während der Blockade von draußen nach Berlin eingeflogen - Heidemarie Hatheyer, die ich damals übrigens noch nicht kannte.
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  • Anmerkung : Ein paar Jahre später haben Curt Riess und Heidemarie Hatheyer geheiratet.

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Eine abenteuerliche Reise, wie ich später erfuhr.

Sie konnte ja nur einfliegen. Zum Fliegen aber brauchte man Dollars. Dollars durften laut den interalliierten Bestimmungen Deutsche nicht haben. Es mußte also ein Amerikaner in München aufgetrieben werden, der mit von ihr schwarz erstandenen Dollars die Flugkarte für die Schauspielerin kaufte. So schwer war es damals, nach Berlin zu kommen - aus Berlin herauszukommen war für gewöhnlich Sterbliche nahezu unmöglich.

Die Berliner befanden sich - ganz abgesehen von den Unbequemlichkeiten des täglichen Lebens - in einer gewissen Lebensgefahr. Wir Alliierten waren da besser dran; schwer denkbar, daß die Russen, auch im äußersten Fall, tätlich gegen uns vorgegangen wären. Aber auch da gab es sicher Ausnahmen - eine davon war vermutlich ich.
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Meine Serie über General Clay war ein großer Erfolg.

..... - begreiflich, denn der Mann, der das Geschick der Berliner in Händen hielt, interessierte sie natürlich. Und Clay, der übrigens Deutsch weder sprach noch verstand, ermutigte mich: „Schreiben Sie doch weiter in Berliner Zeitungen!"

Die Redaktion der „sie" war es zufrieden. Und so schrieb ich jede Woche einen Leitartikel. Ursprünglich hatte ich über alles, was mir einfiel, schreiben wollen, aber sehr bald befaßten sich meine Artikel vor allem mit den Russen und mit dem, was in Berlin und um Berlin vor sich ging.

Ich hatte gegenüber meinen deutschen Kollegen bestimmte Vorteile. Einmal erfuhr ich vieles - vor allem die Russen betreffend - via Clay und Bob Murphy und verschiedene Offiziere der Intelligence.

Zum anderen hatte ich in Amerika gelernt, offen und rücksichtslos zu schreiben, und war nicht gehandikapt durch die im Raum schwebende Frage: Darf man das schreiben? - die meine Kollegen nach zwölf Jahren Naziregime lange nicht losließ.

Das entscheidende: ich hatte keine Angst. Ich war ja kein Deutscher, der - dies kam vor - einfach von der Straße weg entführt werden konnte. Übrigens: Ich fühlte mich sicherer, als ich es vielleicht war.
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Es gab da schon Situationen, die komisch waren ...

Daher wohl auch die Warnung Peter Suhrkamps, die nicht die einzige bleiben sollte. Günter Neumann, zum Beispiel, sagte: „Es kann schließlich keinem Zweifel unterliegen, daß deine Artikel einen wesentlichen Anteil an der Stärkung des Berliner Durchhaltewillens haben!"

Ich hielt das für stark übertrieben. So schmeichelhaft diese Worte waren. Immerhin hatte man im US-Hauptquartier eine gewisse Sorge um mich.

Als ich einmal von einer sowjetischen Party in Karlshorst - das gab es noch, und zwar für alle Alliierten - nicht zur verabredeten Zeit zurückkehrte, ordnete ein amerikanischer Offizier, wohl im Auftrag Clays, an, einen sowjetischen Offizier, der sich auf einer unserer Parties befand - die gab es auch noch für alle - zurückzuhalten. Man sagte ihm wohl nicht, weswegen, und ich zweifle, daß man ihn mit Gewalt zurückgehalten hätte.

Ich kehrte mit einstündiger Verspätung aus Karlshorst nach Zehlendorf zurück.
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Nun, ich kam mir weder als Held noch bedroht vor.

Auch die Einschränkung unserer Rationen und des Heizmaterials waren erträglich. Schlimmer schon, daß meine nächsten Mitarbeiter, die Heller, eine junge Dame, die perfekt Französisch sprach und jeden Morgen meine Nachrichten für den „France-soir" aufnahm und telephonisch durchgab und mein Chauffeur Gerhard Brunzel, der freilich nie seine gute Laune verlor, unter der ständig knapper werdenden Rationierung zu leiden hatten.

Und da war noch - beinahe hätte ich vergessen, sie zu erwähnen - eine kleine, weißhaarige Dame, die als zweite Sekretärin bei mir arbeitete. Wir nannten sie alle Frau Bumke. Sie hieß aber Wera von Schwarte und war die Tochter eines berühmten deutschen Generals. Ich verriet ihren Namen nicht, den sie beschwor mich, anonym bleiben zu dürfen.

Heute fühle ich mich an dieses Versprechen nicht mehr gebunden, sie ist ja vor einiger Zeit gestorben.
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Wera von Schwarte alias Frau Bumke

Der Grund ihres Wunsches nach Anonymität: Wera von Schwarte war die Tochter von Generalleutnat Max Schwarte und die Sekretärin des Chefs der Abwehr, Admiral Canaris, gewesen, der ja, mit Maßen, Widerstand gegen Hitler geleistet und vor allem organisiert hatte. Als Vertraute des Admirals hatte sie vom 20. Juli 1944 bis fast zum Kriegsende im Gefängnis gesessen. Er selbst war umgebracht worden.

Ihre berechtigte Angst: Die Russen würden sie, falls sie ihre Identität erkundeten, holen, was um so leichter war, als sie in einem relativ einsamen Haus ziemlich dicht an der Zonengrenze wohnte. Ich besorgte ihr ein „weniger gefährliches" Quartier.

Nicht nur sie, auch meine anderen Mitarbeiter waren, falls meine Artikel die Russen wirklich verärgerten, sicherlich gefährdet.
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Günter Neumann und Tatjana Sais waren extrem gefärdet

Und ganz besonders galt das für meine Freunde Günter Neumann und Tatjana Sais. Die waren schon immer in ihrem Kabarett-Programm an die Grenze des Möglichen gegangen.

Im sowjetischen Sektor von Berlin wäre keine ihrer Nummern erlaubt gewesen. Sie traten allerdings im britischen Sektor auf.

Günter, klug und witzig und unendlich begabt, fügte immer irgendwelche Sätze ein, die das Publikum wissen ließen, dies oder das dürfe er nicht singen oder sagen, dies oder das sei den Russen sicher nicht angenehm.

So sagte er, was er zu sagen wünschte - und beraubte die im Osten gleichzeitig der Möglichkeit zu protestieren, ohne sich lächerlich zu machen.

Clay: „Schade, daß ich das nicht hören kann." Aber es war wohl kaum denkbar, daß ein US-General und noch dazu der Chef der Zone in ein kleines, politisch ausgerichtetes Kabarett ging. Und Clay, des Deutschen unkundig, hätte ja auch kein Wort verstanden.
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Günter Neumann prägte den Namen : Die „Insulaner"

Kurz nachdem die Blockade begann, prägte Günter Neumann den Namen „Insulaner" für die Berliner. Und jemand kam auf die Idee, eine Zeitschrift mit diesem Namen unter seiner, Neumanns, Leitung zu starten.

Sie war böse, bissig, intelligent, amüsant, aber kein populärer Erfolg, vielleicht gerade deshalb. Günter Neumann war zwar ein Erfolg für fünfhundert oder sechshundert Kabarett-Besucher pro Abend - aber kaum für die Massen.

Oder doch? Immerhin hatte er ein paar Wochen oder Monate später mit seinem Insulanerprogramm im US-Sender RIAS - Kabarett im Rundfunk - einen durchschlagenden Erfolg.

Ich weiß nicht mehr, ob seine Akteure einmal oder zweimal pro Monat zu hören waren, ich weiß nur, daß sie, die unvergleichliche Sais an der Spitze, Edith Schollwer und dann Georg Thomalla und Bruno Fritz und viele andere, nicht nur gefährlich politisch waren - unvergeßlich die Parodie auf einen ostdeutschen Funktionär, die in allen denkbaren Situationen wiederkehrte -, sondern auch immens aktuell.

Es kam mehr als einmal vor, daß einer der Mitwirkenden ein Chanson begann und erst in der Sekunde, in der er die erste Strophe beendet hatte, den Text zur zweiten oder dritten Strophe erhielt. Günter Neumann hatte ihn in größter Eile eben erst fertiggestellt und durch einen Boten in den Sender schicken lassen.
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Die „Insulaner" hielten sich viele Jahre lang ......

..... und weit über die Blockade hinaus, denn Günter Neumanns frommer Wunsch in der Anfangs- und Schlußhymne, „daß uns're Insel wieder Festland wird", ging ja nie so ganz in Erfüllung.

Nur daß die Leute das später nicht mehr so gern hören wollten. Nicht die im Westen, ja nicht einmal die Berliner. Auch Wahrheiten werden auf die Dauer unbequem - besonders Wahrheiten.
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Mein alter Freund Otto Katz war aus den USA ausgewiesen worden

Um diese Zeit - es kann auch etwas später, vielleicht erst 1949 gewesen sein, das spielt aber in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle - hörte ich wieder von meinem alten Freund Otto Katz.

Er hatte, wie schon berichtet, Geld gesammelt, in New York, Chicago, Hollywood - angeblich für einen deutschen „antihitlerischen Freiheitssender".

Es war das Verdienst Marlene Dietrichs, ihm ins Gesicht zu sagen, er sei ein kommunistischer Agent und das Geld sei für die Partei bestimmt- was der Wahrheit entsprach.

Später wurde er aus den USA ausgewiesen und ging nach Mexiko. Mit mir hatte er gebrochen, obwohl ich ihm oft hatte behilflich sein dürfen.

Der Grund des Zerwürfnisses: eine Frauengeschichte. Und kaum in Mexiko, gründete er eine Zeitschrift, die mich -ausgerechnet - als Trotzkisten angriff. Ich wußte damals nicht einmal genau, was ein Trotzkist ist.

Er rechnete damit, daß es in Mexiko kein Pressegesetz gab, das ihn gezwungen hätte, seine sinnlose Anschuldigung zurückzunehmen. Er rechnete nicht damit, daß ich den Mann, der diese Pöbelei verbrochen hatte, in New York, wo er lebte, belangen konnte. Ich klagte und bekam Recht. Der Autor hieß übrigens Alfred Kantorowicz.
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Otto Katz, jetzt alias Andre Simone ....

.... war nach Kriegsende in seine Heimat, die Tschechoslowakei, gegangen und bekam einen hohen Posten in der ersten kommunistischen Regierung, mit dem er Presse und Rundfunk kontrollierte. Und wurde, als diese stürzte, ebenfalls gestürzt, verhaftet und angeklagt.

Und eines Tages las ich - in West-Berlin konnte man die Ost-Berliner Zeitungen mit einigen Schwierigkeiten bekommen -, daß der Staatsanwalt beantragt habe, ihn vom Leben zum Tode zu befördern.

Ich las im „Neuen Deutschland" seine Schlußworte in extenso - zwei Riesendruckseiten lang. Nun, ich hatte, wie wir alle, immer mal wieder von den makabren Säuberungsprozessen in der UdSSR gehört und von Angeklagten, die sich in Selbstbeschuldigungen überboten. Wir hatten gerätselt. Waren hier Folterungen im Spiel?

Ich verlange die Todesstrafe!

Oder hatten die russischen Anklagebehörden den von Geständnissen Berstenden gewisse Versprechungen gemacht? Drogen? Hing dieser Hang, „alles" und mehr zu gestehen, irgendwie mit der slawischen Seele zusammen?

Aber hier war einer, den ich hundertmal im Romanischen Cafe gesehen hatte, von slawischer Seele keine Rede, eher Berlin- West, ein Literat, der auch in Paris oder New York hätte leben können, und ja gelebt hatte, ein gescheiter, ein gerissener Bursche, der gern lebte und gern gut lebte.

Und der erklärte in Prag - ich zitiere natürlich aus dem Gedächtnis -, er sei ein Verräter, ein ganz übles Subjekt. Er sei - man bedenke! - ein amerikanischer Spion gewesen. Und: „Ich verlange die Todesstrafe! Ich würde eine geringere Strafe gar nicht annehmen!"

Man tat ihm den Gefallen. Er wurde aufgehängt.
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Ein amerikanischer Spion? Solch ein Unsinn .....

Ich gab den Zeitungsauschnitt vier oder fünf seiner ehemaligen Freunde zu lesen. Keiner verstand, was da gespielt worden war. Ein amerikanischer Spion? Für wen denn? Wo denn? Wie denn?

Das Ganze ergab doch nicht den geringsten Sinn. Das hätte eigentlich das Gericht in Prag sofort erkennen müssen. Man kann ja in Amerika nicht für Amerika spionieren, als amerikanischer Spion hätte er wohl in der UdSSR oder auch in Hitler-Deutschland tätig sein müssen.

Aber in New York? In Hollywood?
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Da wir gerade bei „Fällen" sind. Da war Veit Harlan.

Der war damals in aller Munde. Harlan, ursprünglich ein interessanter Schauspieler expressionistischer Färbung, war Filmregisseur und Goebbels' Leib- und Magenregisseur geworden. Und er hatte eine große Anzahl von Nazi-Propagandafilmen gedreht.

Unter anderem auch „Jud Süss". Der handelte von jenem Juden Oppenheimer, der vor vielen hundert Jahren einen süddeutschen Herzog finanziert hatte, aber schließlich aufgehängt worden war. Eine mehr oder weniger historische Geschichte, im Mittelpunkt eine vielleicht nicht unbedingt sympathische, aber tragische Figur.
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Lion Feuchtwangers "Fluch"

Lion Feuchtwanger hatte einen Roman über ihn geschrieben. Als er 1940 oder 1941 in Amerika hörte, daß Harlan den Stoff - natürlich auf antisemitisch - verfilmen wolle, veröffentlichte er gegen alle diejenigen, die da mitmachten, einen geradezu alttestamentarischen Fluch.

Ich pflege an so etwas nicht zu glauben. Aber der Fluch machte Eindruck, und offenbar nicht nur auf mich. Er fand sozusagen Gehör. Keiner von den Hauptdarstellern bei diesem abscheulichen Unternehmen kam auch nur mit einem blauen Auge davon.

Sie gingen alle früher oder später auf gräßliche Weise zugrunde und erlebten Furchtbares. Der menschlich üble Heinrich George starb in einem russischen Konzentrationslager; Eugen Klopfer, dem Theater mit Leib und Seele verhaftet, durfte nie wieder spielen und konnte das nicht verkraften; Werner Krauss verlor seinen ältesten, von ihm vergötterten Sohn, der sich das Leben nahm.
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Die Familie Harlan mußte in Hamburg nicht darben

1948 hörte ich, daß Harlan in Hamburg wohnte, und suchte ihn auf. Es ging ihm nicht so schlecht wie den meisten seiner Kollegen. Seine schwedische Frau, die Schauspielerin Kristina Söderbaum, hatte die Verteilung der schwedischen Lebensmittel für hungernde Deutsche irgendwie in die Hand bekommen.

Resultat: Die Familie Harlan mußte nicht darben.

Harlan, dem ich mich als schlecht deutsch sprechender amerikanischer Korrespondent vorstellte und der keine Ahnung hatte, daß ich vom deutschen Film und vom deutschen Theater das eine oder andere wußte, der nicht ahnte, daß ich auch genau wußte, wer er war, versuchte mir - und dadurch wohl der amerikanischen Öffentlichkeit - einzureden, er habe sich mit Händen und Füßen gegen die Herstellung des „Jud Süss" gesträubt.

Goebbels habe ihm gedroht, ihn im Weigerungsfalle einem Todeskommando an der Front zuzuteilen. Auch Werner Krauss, ein wilder Antisemit, sei ganz versessen darauf gewesen, mitzuspielen, wenn schon nicht die Hauptrolle, die einem „Liebhaber" zukam, also einem attraktiven Mann, so doch gleich vier oder fünf unsympathische Juden.
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Veit Harlan wurde kreidebleich, als er mich später sah

Ich sehe noch heute, wie tief erschrocken er zusammenzuckte, als er ein halbes Jahr später diesen so "ahnungslosen Amerikaner" in seinem Entnazifizierungsprozeß wiedersah, in einem Verfahren, das alle Behauptungen mir gegenüber Lügen strafte.

Übrigens wurde er dann doch als Mitläufer freigesprochen - Hitler konnte sich noch nach seinem Tod auf die deutsche Justiz verlassen.
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Hilde Körber war die längst geschiedene Frau Harlans

Ich kannte von früher her die erste und nun längst geschiedene Frau Harlans, die Schauspielerin Hilde Körber, die seine Nazitouren nie mitgemacht und ihre drei Kinder schlecht und recht durchgebracht hatte. Sie bat mich, falls ich wieder nach Paris käme, ihren Sohn Thomas zu besuchen, der dort studierte. Das tat ich.

Ich fand einen reizenden, gut aussehenden Jungen von etwa zwanzig Jahren. Er wollte Filmregisseur werden, erzählte er mir, oder vielleicht auch Schriftsteller. Bei einem späteren Besuch, ich kam damals wegen des „France-soir" oft nach Paris, gab er mir einiges zu lesen, was er, übrigens auf französisch, geschrieben hatte.

Ich verstand nicht ein Wort. Als ich ihm das gestand, war er tief gekränkt. Andere hätten ihm gesagt, dergleichen sei seit Goethe nicht mehr geschrieben worden; darunter auch der Verleger Gottfried Bermann-Fischer aus Frankfurt. Das konnte ich mir nicht recht vorstellen. Als ich - wiederum Jahre später - den Verleger fragte, gab er zu, ebenfalls nichts von den Werken des jungen Harlan verstanden zu haben.
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Sohn litt unter den Missetaten seines Vaters

Meist sprachen Thomas Harlan und ich über seinen Vater. Er litt - das war ganz offensichtlich - unter den Missetaten von Veit Harlan. Vergebens meine Einwände, er sei dafür ja nicht verantwortlich, er brauche, da es sich schließlich um seinen Vater handele, überhaupt keine Stellung zu beziehen.

Gerade das wollte er. Durch Fischer hatte er einen der vielen Pariser Rothschilds kennengelernt, und es war ihm gelungen, von diesem den Gegenwert von etwa fünfzigtausend D-Mark zu erhalten. Er wollte dafür etwas für die Juden tun.

Präziser ließ er sich nicht aus. Jedenfalls fuhr er mit seinem damaligen Freund, dem deutschen Schauspieler Klaus Kinski, nach Israel, um dort einen Film zu drehen.

Die beiden kauften sich aber zuerst einmal ein teures Auto, und bald war das ganze Geld verbraucht. Dann boten sie, nach Europa zurückgekehrt, Helmut Kindler, inzwischen Besitzer der Münchener Illustrierten „Revue", Bilder aus dem Film an. Der wollte sie natürlich bringen.
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Bilder aus einem Israel-Film .....

Bilder aus einem Israel-Film, gedreht von dem jungen Harlan, das war immerhin pikant, wenn nicht eine Sensation. Da aber kein Film gedreht worden war, gab es keine Fotos.

Sie wurden eilends von Harlan und Kinski hergestellt. In der Redaktion erkannte man freilich noch rechtzeitig, daß sie in der Gegend des Münchener Ostbahnhofes aufgenommen waren. Als der Verlag den gezahlten Vorschuß zurückhaben wollte, schrieb Thomas Harlan dem Besitzer - eben jenem Kindler, der mich zum deutschen Journalismus zurückbrachte, der im Dritten Reich in Gestapohaft gesessen hatte, er sei ein SS-Mann und Faschist.

In Berlin führten er und Kinski in Nachtvorstellungen ein Tonband vor, das angeblich dem - wie gesagt nie gedrehten - Film entstammte. Hörer stellten dann fest, daß es sich um israelische Gebetsplatten handelte, die auf Tonband überspielt und von Kinski als Conferencier besprochen worden waren. Immerhin vereinnahmten die beiden eine Menge Geld mit den Vorführungen.
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Thomas Harlan lebte mehr und mehr in Träumen

In der Zwischenzeit hatte Thomas Harlan ein sehr symbolisches Weihespiel geschrieben, das im Warschauer Ghetto spielte - in dem gelebt zu haben er übrigens vorgab.

Er wäre aus einem Heim, in das ihn sein Vater damals gesteckt habe, ausgebrochen, um mit den Juden in Warschau zu sterben. Undenkbar, auch ganz abgesehen davon, daß es technisch nie möglich gewesen wäre. Davon hätte man doch wohl in Deutschland gehört! Thomas Harlan, Sohn eines berühmten Vaters, war damals nicht mehr als sechzehn Jahre alt.

Um dieses Stück herauszubringen, pumpte er Gott und die Welt an. Selbst ein so gewitzter Geschäftsmann wie der Filmemacher Arthur Brauner lieferte Kostüme - umsonst.

Obwohl die engagierten Schauspieler nie bezahlt wurden - Harlan bezahlte sich selbst allerdings sehr ordentlich -, war das Unternehmen enorm kostspielig. So bestand Harlan unter anderem auf einer Südamerikanerin für die weibliche Hauptrolle. Sie mußte eingeflogen werden, was wiederholt verschoben wurde. Als sie landete, erfuhr man den Grund. Sie hatte in der Zwischenzeit ein Kind bekommen, das sie gleich mitbrachte. Und es ergab sich ferner, daß sie zwar Jiddisch sprach, aber kein Wort Deutsch.

Thomas Harlan brachte es sogar fertig, daß diese Produktion, die weder vom Text noch von der Regie her Hand und Fuß hatte, in der Akademie der Künste aufgeführt wurde; schon beim zweiten Mal vor völlig leerem Haus. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sage, daß nur drei Aufführungen stattfanden.
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Thomas Harlan mutierete zu einem Betrüger

Wozu das alles? Thomas Harlan hatte für sich einen neuen Beruf erfunden oder eine Erwerbsquelle, wie man will.

Er lebte davon, für seinen Vater zu sühnen - und er lebte recht gut davon. Die an dem Weihespiel mitwirkenden Schauspieler wurden auch später nie bezahlt. Die Dame aus Südamerika um so ausgiebiger.

Was übrigens den Vater Harlans angeht: der durfte vorerst wieder Filme machen - aber sie waren nicht sehr gut und in Kürze stand er am Ende. Irgendwer - vielleicht er selbst - hatte ihm die Überzeugung vermittelt, daß er eine bedeutende Stellung bei der Bavaria bekommen könne, wenn man sicher sei, daß ich - ausgerechnet ich! - nichts dagegen unternehmen werde. Er besuchte mich, das war Mitte der fünfziger Jahre in der Schweiz, um mir ein entsprechendes Versprechen zu entlocken.

Vergebens versuchte ich ihm klarzumachen, daß ich seine Karriere weder positiv noch negativ beeinflussen könne und daß, wenn ich schwiege, sich hundert andere protestierend zu Wort melden könnten, falls er wieder an die Öffentlichkeit träte. Er glaubte mir einfach nicht. Er hielt mich wohl für eine Art Nachfolger von Goebbels. Er war fast überzeugt davon, daß ein Wort von mir alle, wirklich alle zum Schweigen bringen würde.

Natürlich bekam er die Stelle nicht. Er machte auch keine Filme mehr. Feuchtwangers Fluch!
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Werner Krauss's Geschichte war komplizierter

Was nun Werner Krauss anging, der Veit Harlan ja angeblich ins Unglück geritten hatte, war meine Lage viel komplizierter, als die Harlan gegenüber, der mich im Grunde nicht sonderlich interessierte und den ich auch nicht mochte.

Werner Krauss war, ich erzählte es ja schon, ein Erlebnis aus frühester Kindheit, ein Mann, den ich immer für den ersten Schauspieler Deutschlands gehalten hatte. Und dieser Werner Krauss hatte, darüber waren sich alle einig, in dem antisemitischen Schandfilm „Jud Süß" prominent mitgewirkt.

Das allein wäre schon schlimm, schlimmer als charakterlos gewesen. Denn Krauss war - rein karrieremäßig gesehen - das Geschöpf eines jüdischen Agenten, der sehr früh an ihn geglaubt und ihm Engagements besorgt hatte.
Es war der damals sehr prominente Agent Frankfurter, der sich geweigert hatte, einen Pfennig von Krauss zu nehmen, bis dieser in eine höhere Verdienstsparte aufgerückt war.

Und Krauss war natürlich das Geschöpf Max Reinhardts, der ihn zwar in den ersten Jahren seines Berliner Engagements nicht gerade mit Rollen verwöhnte, ihn dann aber doch zum eigentlichen Star seines Ensembles machte.

Zweifellos hatten die „Kränkungen" der ersten Jahre gewisse Spuren bei Krauss hinterlassen. Er war, wie so viele Schauspieler, die auf der Bühne genialisch wirken, im Leben nicht gerade der Gescheiteste.
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Werner Krauss hatte antisemitische "Anwandlungen"

Wenn er eine Rolle nicht bekam, erklärte er - oft genug auch mir gegenüber: „Reinhardt zieht eben die Juden vor!" Was nicht stimmte. Neunzehn von zwanzig seiner Schauspieler waren Nicht-Juden, und weder die Bergner noch Maria Orska, zwei prominente jüdische Schauspielerinnen, gehörten zu seinen Lieblingen.

Aber als es dann galt, die Probe aufs Exempel zu machen, bewährte sich Krauss Reinhardt gegenüber. 1933 und in den folgenden Jahren fuhr er gegen den ausdrücklichen Willen von Goebbels zu den Salzburger Festspielen, die noch nicht in Nazi-Händen waren, um dort unter und für Max Reinhardt den Mephisto zu spielen.

Und nun diesen schrecklichen „Jud Süß": eine ganze Anzahl von jüdischen Chargen, einer unsympathischer als der andere! Das wäre bei jedem Schauspieler schlimm gewesen, bei Werner Krauss ungeheuerlich.

Käthe Dorsch verlangte - ich muß mir „Jud Süss" ansehen

Käthe Dorsch, die sich während der Nazi-Zeit so unerschrok-ken für die Verfolgten eingesetzt hatte, fühlte sich nun verpflichtet, sich für diejenigen einzusetzen, die jetzt in Schwierigkeiten geraten waren. Zum Beispiel für Werner Krauss.

„Du hast doch den Film gar nicht gesehen!"
Und ich: „Ich will ihn auch gar nicht sehen!"
Sie antwortete: „Vielleicht hat man ihn gezwungen, den Film zu machen. Im übrigen soll man Schauspieler nicht mit gewöhnlichen Maßstäben messen!"

Ich wurde ärgerlich: „Wenn man Krauss mit gewöhnlichen Maßstäben messen würde, müßte man ihn totschlagen. Aber es tut ihm ja kein Mensch was. Er ist nicht einmal eingesperrt worden. Er sitzt, soviel ich weiß, in seinem Haus am Mondsee. Und er hat auch genug zu essen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Deutschen."

Wir bekamen Streit, das heißt, Käthe Dorsch bebte vor Empörung. Sie schrie, sie weinte, sie drohte schließlich: „Wenn du dich mit Werner nicht aussprichst, sind wir geschiedene Leute!"

Schließlich war ich bereit: „Ich werde mir den Film ansehen."
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Erich Pommer von der UFA kam auch als US-Offizier zurück

In München ließ ich mich bei Erich Pommer melden. Der ehemalige Chefproduzent der UFA, dem Deutschland einige seiner schönsten Filme zu verdanken hatte, war nach den USA ausgewandert und jetzt als leitender Filmoffizier für die amerikanische Zone zurückgekehrt.

Er wurde sogleich umschwärmt von bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, die ihn 1933, als man ihn hinauswarf, nicht mehr gekannt hatten und jetzt seine besten Freunde gewesen sein wollten.

Er gab sich, mit Recht, schwierig und sprach viel von Entnazifizierung, aber er hatte eine Schwäche für Könner, und früher oder später landeten sie alle wieder, dank ihm, im deutschen Film.

Immerhin - er verstand viel vom Film, jedenfalls mehr als die meisten der neuen deutschen Verleiher und Produzenten, die hinter seinem Rücken erklärten, er sei seiner Stellung nicht gewachsen; später, als er nicht mehr im Amt war, brachten sie es fertig, den deutschen Film in Rekordzeit zu ruinieren.
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Mit dem Film „Jud Süß" hatte es seine Schwierigkeiten.

Mit der Besichtigung des „Jud Süß" hatte es seine Schwierigkeiten. Der US-General, dem alles Kulturelle unterstand, hatte nämlich dekretiert, kein Deutscher dürfe je wieder den Film sehen, was eigentlich selbstverständlich war. Aber der Vorführer, der auf Geheiß von Pommer oder eines anderen Filmoffiziers Filme zeigte, war natürlich Deutscher.

Pommer zerschnitt den gordischen Knoten. „Zeigen Sie den Film, aber Sie selbst dürfen nicht hinsehen!"

Ich sah also „Jud Süß". Ich allein in dem großen Bavaria-Vorführungsraum, der dreihundert und mehr Personen fassen konnte. Und mir wurde in des Wortes wahrster Bedeutung übel. Ja, ich erbrach mich in diesen heiligen Hallen.

Am Abend sprach ich mit Pommer darüber. „Und dabei haben mir viele Deutsche versichert, der Film sei gar nicht so schlimm, wie Goebbels ihn gewollt habe, der Hauptdarsteller Ferdinand Marian wirke geradezu sympathisch!"

Pommer: „Reden so nicht Leute, die sich ein Alibi verschaffen wollen?"
Ich : „Nein. Menschen, die im Dritten Reich leben mußten, haben ihr Verhältnis zur Realität verloren."
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Die allermeisten wollten es nicht sehen, was mit Juden geschah

Diese Erfahrung sollte ich noch oft machen. Auf der einen Seite behaupteten diese Leute, nicht gewußt zu haben, was an Furchtbarem während der Nazi-Zeit geschah. War ihnen denn nie aufgefallen, daß Menschen, nicht nur Juden, aus ihrer Nachbarschaft verschwanden, um nie wieder zurückzukehren?
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Daß diejenigen, die nach einer gewissen Zeit wieder auftauchten, sich standhaft weigerten, über ihren Verbleib auch nur ein Wort verlauten zu lassen? Auf der anderen Seite wußten sie jetzt alles Mögliche, was sie eigentlich gar nicht wissen konnten. Mir wurden damals - dank meiner Stellung - viele Papiere zugänglich gemacht, aus denen - zum Beispiel - ersichtlich war, daß der oder jener Parteigenosse gewesen war, schlimmer, daß er denunziert hatte.

Einer seiner Bekannten bestritt das. Er habe den Mann gekannt, ich nicht. Er und seine Freunde wußten, der Betreffende sei völlig in Ordnung. Sie wußten es - gleichgültig, wie es um meine Unterlagen bestellt war. Basta!
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Ich telephonierte mit Käthe in Berlin

„Ich habe den Film also gesehen. Er ist noch viel schlimmer, als ich dachte."
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Aber ich fuhr trotzdem zu Werner Krauss an den Mondsee.

Ich war nun neugierig geworden. Was würde er sagen? Wie würde er erklären, was er getan hatte? Wie würde er versuchen, sich zu rechtfertigen - denn natürlich würde er das versuchen. Aber vor allem interessierte es mich, wie es in meinem ehemaligen guten Freund aussah.

Ich kam vor seinem Haus bei Schnee und Regen und Hagel um Mitternacht an. Er hatte auf mich gewartet. Er ersparte es sich und mir, in Rührung zu machen. Auch ich blieb sachlich.

Ich käme auf Wunsch, um nicht zu sagen auf Befehl von Käthe. Und ich wolle ihm gleich sagen, ich könne in seiner Sache nichts tun.

„Wird man mich wieder spielen lassen?"
„Sicher. Nach einer gewissen Zeit. Du wirst wohl entnazifiziert werden müssen."
„Entnazifiziert?"

„Entnazifiziert?"

Offensichtlich war es das erste Mal, daß er dieses Wort hörte. Später regten sich unzählige Deutsche darüber auf, daß sie entnazifiziert werden sollten. Und über den „Fragebogen", den sie ausfüllen mußten.

Warum sollten sie ihn nicht ausfüllen? Kam denn niemand auf die Idee, daß die so oft unwürdigen und überflüssigen Verhöre die direkte Folge der Tatsache waren, daß fast kein Deutscher zu dem stand, was er unter Hitler getan oder geglaubt hatte.

Würden die „Sieger" als wahr unterstellen, was sie jetzt beteuerten, dann hatte es überhaupt keine Nazis gegeben. Hitler vielleicht ausgenommen, aber der wußte ja bekanntlich längst nicht alles, was geschah. Denn sonst hätte er es nicht zugelassen, sagten viele und glaubten es auch.
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Krauss versuchte nicht, anderen die Schuld zuzuschieben

Eines muß ich Werner Krauss lassen: er versuchte nicht, anderen die Schuld zuzuschieben, er behauptete nicht, zu seiner Mitwirkung an dem Schandfilm gezwungen worden zu sein.

Er war auch bereit, auf sich zu nehmen, was über ihn beschlossen werden würde. Er sah ein, daß er Unrecht getan hatte, er sagte es mir und versprach, es auch anderen zu sagen. Es dauerte wohl an die zwei Jahre, bis er vor eine Untersuchungskommission gestellt wurde, und dann, da die Anklage in Revision ging, mußte er noch ein zweites Entnazifizierungsverfahren durchmachen, bevor er wieder spielen durfte.
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In Wien ging alles gut, in Berlin nicht.

In Wien begann er. Dort ging alles gut, nicht zuletzt dank Käthe Dorsch, die seine Partnerin war. In Berlin nicht. Gelegentlich eines Gastspiels des Wiener Burgtheaters mit der Dorsch und Helene Thimig kam es zu „sogenannten" spontanen Ausschreitungen.

Hans Rosenthal, damals noch ein kleiner Angestellter der amerikanischen Radiostation RIAS, hatte mit Geld, das ihm in die Hand gedrückt wurde, einige Dutzend Rowdies engagiert - sie kannten weder den Namen des Stückes, das gespielt wurde, noch den von Werner Krauss, noch wußten sie überhaupt, worum es ging. Sie hatten den Auftrag, die eintreffenden Zuschauer zu belästigen, und das taten sie auch.

Auch ich wurde arg zugerichtet und mußte später sogar genäht werden. Der von der amerikanischen „Neuen Zeitung" engagierte Kritiker Friedrich Luft beobachtete die Vorgänge und empörte sich über die Zuschauer, die von den Rowdies arg behindert, das Theater aufsuchten.

Dabei war Werner Krauss immerhin von den Amerikanern entnazifiziert worden! Luft erklärte: „Wenn Werner Krauss spielt, ist der Platz des Kritikers vor dem Theater!" Ein Versprechen, das er schon beim nächsten Auftreten von Werner Krauss in Berlin brach.
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Werner Krauss war auch nicht der gescheiteste.

Ich erinnere mich, daß ich ihn ein Jahr später am Mondsee besuchte. Er spielte im nahegelegenen Salzburg den Teufel in „Jedermann". Er erzählte, gestern oder vorgestern habe ihn sein alter Freund Ernst Deutsch besucht, der gerade aus der Emigration, sprich Hollywood zurückgekehrt sei.

Auf die Frage von Krauss, was er denn in Hollywood gespielt habe: „Wir Emigranten konnten wegen unseres Akzents natürlich nur Deutsche spielen, U-Boot-Kapitäne, Piloten der Luftwaffe, Leiter von Konzentrationslagern. Es wurden ja genug Anti-Nazi-Filme gedreht."

Wie er sie spielte?
„Unsympathisch natürlich! Als Schurken!"
Krauss holte Atem: „Siehst du, Curt, wenn die das machten, ging es in Ordnung, aber wenn ich Juden unsympathisch spiele ..."

Ich unterbrach: „Noch ein Wort, und du sitzt wieder in der Tinte!"

Er hatte den Unterschied noch immer nicht begriffen.
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Ein paar Wochen später kam es zur Trennung von Käthe Dorsch.

Besser: zu der ihren von mir. Ich hatte - während der Salzburger Festspiele, über die ich Kritiken schrieb - bei ihr in Kammer am Attersee gewohnt, eine knappe Autostunde entfernt. Wir hatten uns in alter Freundschaft und Liebe getrennt. Irgendwo, ich glaube in Frankfurt, wohin eine Tournee sie führte, wollten wir und wiedertreffen. Als ich am Theater erschien, ließ sie mir durch eine Freundin sagen, sie wolle mich nie wieder sehen, es sei alles aus.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich bestand damals und auch später auf einer Erklärung. Ich bekam nie eine. Statt dessen ließ sie mir - in der Presse - mit einem Prozeß drohen. Ich schulde ihr eine Menge Geld für Wertsachen, die ich unterschlagen hätte.

Grotesk, wenn man bedenkt, daß in den ersten Nachkriegsjahren ich, der ja finanziell viel besser Gestellte, sie mehr oder weniger miternährte; was in Anbetracht unserer Beziehungen nur selbstverständlich war.

Es kam nie zu einem Prozeß. Am Tag, bevor er stattfinden sollte, zog sie ihre Klage zurück.
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Noch eine traurige Erfahrung : wenn Frauen hassen

Der eigentliche Grund: eine Schauspielerin, zu der ich zwar keine engen Beziehungen unterhielt, mit der ich aber befreundet war. Es handelte sich jedoch um eine Dame, mit der ihr erster Mann, jener Filmschauspieler Harry Liedtke, ein Verhältnis gehabt hatte. Etwa zehn Jahre nach seiner Scheidung von Käthe Dorsch.

Aber das genügte ihr. Eine Frau, die zehn Jahre nach ihrer Scheidung mit ihrem ehemaligen Mann etwas hatte, verdiente in Acht und Bann getan zu werden. So war sie eben.

„So ist sie eben!" sagte ebenfalls Peter Suhrkamp. „Früher oder später wäre es doch so gekommen."

Er war übrigens einer von denen, die sie aufforderte, jegliche Beziehungen zu mir abzubrechen, andernfalls sie ihren Verkehr mit ihnen abbrechen würde, und der diese Aufforderung mit einem glatten Nein beantwortete.

Die beiden anderen Nein-Sager: Werner Krauss und Gustaf Gründgens. Das Ungeheuerliche ihrer Zumutung kam ihr nie zu Bewußtsein. So war sie eben, die schwierige, harte und unendlich weiche und so unendlich liebenswerte Käthe Dorsch.

So lange sie auf der Bühne stand, war sie das Idol des Publikums schlechthin. Sie starb qualvoll fast über ein Jahr an Leberzirrhose.

Seit ihrem Tod sind nun auch schon viele, viele Jahre verflossen. Und niemand kennt sie mehr. Niemand - das ist vielleicht übertrieben. Von denen, die sie persönlich kannten, wird wohl kaum einer sie vergessen; auch ich nicht.
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