Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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(27) Technische Störungen
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Ein Luftpostbrief von Robert Murphy aus Berlin
Das für den weiteren Verlauf meines Lebens Entscheidende : Am Tag meiner Abreise ein Luftpostbrief von Robert Murphy. Auch er hätte mich schon früher erreicht, wenn ich nicht aus meiner Wohnung zu Antonie Straßmann und in den letzten Tagen in ein New Yorker Hotel ??? (warum ?) gezogen wäre.
Und wenn er mich nicht erreicht hätte ... ? Bob schrieb - die Worte bleiben mir unvergeßlich: „Warum kommst du nicht wieder einmal nach Berlin? Es wird sich hier einiges tun."
Es war, als sei die Bühne für einen großen Akt gerüstet. Und so war es auch. Und nicht nur, was mich betraf.
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Der Abschied von den Eltern und von Rolf
Das unansehnliche kleine Schiff löste sich mit einer Stunde Verspätung von dem kleinen unansehnlichen Pier, weit draußen im New Yorker Hafen.
Meine Eltern waren gekommen, meine Mutter tränenüberströmt, denn sie glaubte, sie würde mich nie wiedersehen - was glücklicherweise nicht der Fall war.
Zu meinem Erstaunen erschien auch Rolf, recht abgerissen und auch einigermaßen verlegen. Er erzählte, er habe sich von Ilse getrennt, oder besser sie sich von ihm. Sie wolle unseren gemeinsamen Freund, den Journalisten Robert Jungk, heiraten und beantrage ihre Scheidung von Rolf in Reno, Nevada.
Übrigens hatte Rolf bereits beschlossen, seine Zimmervermieterin zu heiraten, und zwar am Tag seiner Scheidung, wohl nicht so sehr aus unüberwindlicher Liebe als um der „erste" zu sein, der wieder heiratete.
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Rolf verabschiedete sich ganz plötzlich und lief geradezu fort.
Ich habe ihn übrigens nie wiedergesehen. Wenige Monate später, im Herbst des Jahres, starb er an einem Herzschlag unter grauenhaft grotesken Umständen, wurde aber erst zwei Tage später gefunden, als seine damalige Frau, die ihn ja ernähren mußte und daher im Chor der Metropolitan-Opera mitwirkte, von einem kurzen Gastspiel dieses Institutes aus Philadelphia zurückkehrte.
Denn nun erschien Robert Jungk.
Auch er erzählte mir von seinen Heiratsplänen mit Ilse. Ich stellte ihm eine junge Dame vor, die etwa vierzehn Tage vorher aus Hollywood nach New York gekommen war, mit Empfehlungen gemeinsamer Bekannter an mich.
Es war dann sie, nicht Ilse, die Jungk wenige Wochen später heiratete. Auch das ging unter seltsamen Umständen vor sich.
- Anmerkung : Curt Riess war zu der Zeit ledig und im besten Mannesalter .....
Sie schrieb mir einen Brief und fragte mich, ob ich sie zu heiraten gedenke. Wovon nie die Rede gewesen war.
Er schrieb mir einen Brief, ich müsse die Änderung seiner Pläne verstehen. Nichts hätte mir gleichgültiger sein können.
Als ich diese seltsamen, fast schicksalhaften Abschiedsszenen später meinem gescheiten Freund Hans Habe erzählte, wollte er unbedingt wissen, wie das Schiff geheißen habe.
Es handelte sich um die „Paris", den kleinsten der französischen Passagierdampfer, der noch in Betrieb war, die anderen hatten sich in Truppentransporter verwandelt oder waren versenkt worden.
Die „Paris" war nicht nur klein, sondern auch veraltet. Und ich glaube, wir waren insgesamt acht Passagiere, die sie nach drüben brachte.
„Irrtum!" erklärte Hans Habe. „Nicht klein und veraltet. Für dich die ,Queen Elisabeth' und die ,Queen Mary* zusammengenommen!"
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Just in diesem Augenblick aus den USA fortkommen
Wie recht er doch hatte! Wie gut es für mich war, just in diesem Augenblick aus den USA fortzukommen! Und so vieles hinter mir zu lassen, was in meinem Leben eine Rolle gespielt hatte.
Zehn oder gar zwölf Tage auf dem Atlantik. Ich nützte sie, um mein inzwischen fertig gewordenes Goebbels-Manuskript aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen. Übrigens nicht sehr gut.
In Paris angekommen .....
Edgar, der sehr schnell ein bekannter Journalist geworden war, erwartet michund Pierre und Helene Lazareff.
Pierre schien es eilig zu haben. „Wann fährst du nach Berlin?"
Warum er seinen zukünftigen Berliner Korrespondenten so drängte?
„Ich weiß nicht. Irgend etwas liegt in der Luft."
„Was?"
„Ich schicke dich ja nach Berlin, um es herauszubekommen."
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Etwas lag in der Tat in der Luft.
Auf dem US-Konsulat, auf dem ich meine „Credentials", meine für einen Besuch in Deutschland nötigen Papiere, abholte, erzählte man mir, daß der US-Militärzug Frankfurt-Berlin, der bisher allabendlich in beiden Richtungen verkehrt hatte, in der letzten Zeit einige Male ausgefallen sei.
Warum? Technische Störungen. Umbauten an der Strecke. Die Russen, die diese Umbauten angeblich vornahmen, hüllten sich in Schweigen. Man riet mir, von Düsseldorf aus den Militärzug der Engländer zu benützen. Der laufe fahrplanmäßig - noch.
Er funktionierte übrigens nur noch bis Helmstedt, der Grenze zur sowjetischen Zone. Die letzten rund zweihundert Kilometer nach Berlin mußten die englischen Offiziere und auch ich in Omnibussen auf Landstraßen in üblem Zustand zurücklegen.
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Also ein Umweg über Düsseldorf ... bei Gustaf Gründgens
In Düsseldorf hatte ich zwei oder drei Tage warten müssen, bis besagter Militärzug abfuhr. Ich suchte Gustaf Gründgens auf. Er war überrascht und sichtlich erfreut.
Wir waren - wie schon erwähnt - in Berlin oft zusammengewesen, nachdem er aus dem sowjetischen Lager freigelassen war, 1946 also. Er fühlte sich damals nicht wohl am sowjetisch dirigierten Deutschen Theater. „Man ist ja noch immer bei den Russen und weiß nie,ob sie einen nicht morgen wieder festsetzen!"
Er war damals auch in anderer Beziehung nicht glücklich. Er hatte sich von seiner Frau, der Schauspielerin Marianne Hoppe, getrennt. Die Scheidung war eine recht häßliche Angelegenheit gewesen.
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Gustaf Gründgens durfte im Westen nicht spielen ...
...., weil er nicht entnazifiziert worden war - bei seiner hohen Stellung im Dritten Reich eine unumgängliche Vorschrift. Allerdings nur eine Formsache. Aber die Russen hatten sich auf den arroganten Standpunkt gestellt, wer in „ihrem" Deutschen Theater spiele, der bedürfe außer ihrem Segen keiner Entnazifizierung.
Die westlichen Kulturoffiziere protestierten gegen diese flagrante Verletzung der Spielregeln, auch wenn sie noch so sinnlos waren. Das groteske: Da GG bereits - im Osten - wieder gespielt hatte, konnte er im Westen gar nicht mehr entnazifiziert werden; das wäre ja ein Schlag ins Gesicht der Russen gewesen. Da er aber nicht entnazifiziert war, konnte er im Westen auch nicht spielen - das wiederum wäre ein Schlag ins Gesicht der westlichen Besatzungsbehörden gewesen.
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Der gordische Knoten - ein Tip genügte ...
Ich zerschnitt damals den gordischen Knoten, indem ich geltend machte, Gründgens habe noch nicht wieder Regie geführt, er könne, ja er müsse sogar auch als Regisseur entnazifiziert werden, falls er eine Regietätigkeit wieder aufzunehmen wünsche.
Günstig der Umstand, daß - auf meinen Rat hin - Käthe Dorsch darauf bestand, daß Gründgens bei ihrem ersten Berliner Auftreten Regie führe.
Gustaf Gründgens wurde also - und zwar in West-Berlin - als Regisseur entnazifiziert, eine Farce, ebenso wie es die Entnazifizierung von Furtwängler gewesen war.
Die Entnazifizierung wurde eine Art Demonstration für Gründgens. Dutzende von Schauspielern und Schauspielerinnen erschienen vor Gericht, um zu bezeugen, wieviel er für sie unter den Nazis getan hatte.
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Nun war also Gustaf Gründgens entnazifiziert .....
... und konnte die Komödie von Shaw, „Kapitän Brassbounds Bekehrung", in den „östlichen" Kammerspielen inszenieren.
Ein starker Erfolg für Käthe Dorsch, für die diese Aufführung ein Comeback in Berlin war, und natürlich auch für Gründgens. Aber er fühlte sich, wie gesagt, nicht glücklich im Osten - er wohnte auch im Westen Berlins.
Und als ihm, etwa ein halbes Jahr später, die Kulturbehörden von Düsseldorf einen Antrag machten, griff er sogleich zu, um von Berlin, will sagen, von den Russen, fortzukommen.
Mitten in seiner Vaterstadt Düsseldorf fand er - im Sommer 1947 - ein einigermaßen intaktes Opernhaus vor, das freilich dreimal pro Woche von den englischen Besatzungsbehörden für ihre Truppen-Shows besetzt wurde, einen halb demolierten Theatersaal, den Festsaal einer Versicherungsgesellschaft und eine Schul-Aula.
Unter den schwierigsten Bedingungen stellte er ein Ensemble aus seinen früheren Berliner Schauspielern zusammen, bald das beste Deutschlands. Dekorationen, Beleuchtung, Kostüme - nichts war eigentlich vorhanden, oder doch nur teilweise.
Aber man merkte das nicht, auch nicht, daß man schlecht saß und fror. So herrlich wurde gespielt!
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Drei Tage in Düsseldorf
Ich war während jener drei Tage in Düsseldorf fast ständig mit GG zusammen. Eine Freundschaft fürs Leben begann.
In Berlin, wo wir, wie gesagt, schließlich mit dem Omnibus landeten, führte mich mein erster Weg zu meiner Sekretärin Heller. Sie war erstaunt, daß ich nicht mit dem US-Zug gekommen war. Sie hatte sogar, von mir rechtzeitig verständigt, am Bahnhof auf mich gewartet. „Aber nicht einmal der Zug ist gekommen! Man sagte mir, es handle sich um Schwierigkeiten technischer Art. Aber ich habe eigentlich nichts davon gesehen."
Es gab keine "Schwierigkeiten", man tuschelte von einer Währungsreform der Westmächte
Niemand in Berlin hatte von solchen technischen Schwierigkeiten gehört. Buschi-Buschenhagen, der sich inzwischen zu einem kleinen Geschäftsmann, sprich Schieber, entwickelt hatte - er konnte alles bekommen und alles an den Mann bringen -, hatte etwas von einer geplanten Währungsreform läuten hören. Wann? Wie? Darüber wußte auch er nicht Bescheid.
Das Berliner Rathaus stand im sowjetischen Sektor
Ernst Reuter, damals noch immer nicht Bürgermeister - das war noch eine ältere Dame, Sozialdemokratin, die ungemein populäre Louise Schröder -, gab sich tief pessimistisch, wenn ich gelegentlich mit ihm zu Abend aß.
Die Kommunisten maßten sich eine immer größere Rolle im Stadtparlament an, obwohl sie bei den Wahlen vom Oktober 1946, den ersten seit 1933 - und seither hat es ja keine echten Wahlen mehr im Osten gegeben, bis zu dem Tag, da dieses geschrieben wird - vernichtend geschlagen worden waren.
Die Russen unterstützten sie auf jede nur erdenkliche Weise. Und das Rathaus stand ja schließlich im sowjetischen Sektor.
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Ernst Reuter war pessimistisch ...
Ernst Reuter, damals noch immer nicht Bürgermeister - das war noch eine ältere Dame, Sozialdemokratin, die ungemein populäre Louise Schröder -, gab sich tief pessimistisch, wenn ich gelegentlich mit ihm zu Abend aß.
Die Kommunisten maßten sich eine immer größere Rolle im Stadtparlament an, obwohl sie bei den Wahlen vom Oktober 1946, den ersten seit 1933 - und seither hat es ja keine echten Wahlen mehr im Osten gegeben, bis zu dem Tag, da dieses geschrieben wird - vernichtend geschlagen worden waren.
Die Russen unterstützten sie auf jede nur erdenkliche Weise. Und das Rathaus stand ja schließlich im sowjetischen Sektor.
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..... und so sinnierte er ....
„Wenn man bedenkt, wieviel Propagandamaterial die Russen in die kommunistische Partei Deutschlands über die SED, die Einheitspartei, gesteckt haben, die dann doch die Wahlen verlor, müßten sie eigentlich wissen, wie das Volk denkt. Glauben Sie mir: die Stadt wird sehr bald in zwei Teile gespalten sein."
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Günter Neumann spielt den „Schwarzen Jahrmarkt"
Reuter war damals, was seine Position anging, eigentlich nur einer von vielen Abgeordneten und doch: man spürte aus jedem seiner Worte, daß er am liebsten wieder in die Türkei, in der er die Nazizeit verbracht hatte, zurückgegangen wäre. Und außerdem: daß er doch nicht gehen und es noch zu etwas bringen würde.
Am Abend fuhr ich zu Günter Neumann und Tatjana Sais in ihr Kabarett „Ulenspiegel", in welchem man gerade den außerordentlichen - außerordentlich in seiner verzweifelten Komik und seiner komischen Verzweiflung - „Schwarzen Jahrmarkt" spielte.
Ich saß dann mit den beiden Freunden noch bis zum frühen Morgen in „Johnny's Künstler-Club" am Kurfürstendamm. Auch Günter Neumann hatte das Gefühl: „Es liegt was in der Luft!" Beide waren eher enttäuscht, daß ich nicht mehr wußte als sie. - „Eher weniger!" meinte ich.
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General Clay war übrigens in Frankfurt - nur für ein paar Tage.
„Ich telephoniere Ihnen, wenn er zurückkommt", versprach Miss oder besser Major Tompson, seine Sekretärin. Und Bob Murphy war in Washington, um - wie sie mir verriet - neue Instruktionen zu holen.
Neue Instruktionen - wofür? Für welchen Fall? Ich hatte noch immer keine Ahnung.
Eine neue Bekanntschaft - Helmut Kindler
Ich machte eine neue Bekanntschaft. Auf einer Party, die Heinz Ullstein gab, der einzige in Berlin Überlebende der großen Verleger-Familie, traf ich seinen Sozius, Helmut Kindler, einen schmalen, überaus lebendigen Mann, der mit Heinz die Wochenzeitschrift „sie" herausgab.
Sie hatten um eine Lizenz für eine politische Zeitung oder Zeitschrift nachgesucht, aber von den US-Behörden nur die Lizenz für eine Frauenzeitschrift erhalten. Nicht daß dies einen großen Unterschied gemacht hätte!
Sie ignorierten den Auftrag fast und machten ein eher politisches Blatt, wie es ihnen vorgeschwebt hatte. Kindler fragte, ob ich nicht für „sie" schreiben wollte. Ich verneinte. Ich wußte nicht einmal, ob ich das als Amerikaner durfte. Das habe ich übrigens bis zum heutigen Tag nicht erfahren.
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Die Dinge spitzen sich zu
Am zweiten oder dritten Tag nach seiner Rückkehr war ich bei Clay. Er machte einen besorgten, oder doch zumindest ernsten Eindruck. Er sagte: „Die Dinge spitzen sich zu. Die Währungsreform ist nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen. In Westdeutschland, natürlich!"
Die Russen würden das nicht mitmachen. „Sie werden beim alten Geld bleiben wollen. Die Druckplatten befinden sich ja in ihren Händen."
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Anmerkung : Das folgende Gespräch scheint nachgestellt
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„Und Berlin?"
„Ich habe nur in West-Berlin etwas zu sagen. Man wird natürlich auch hier die neue Mark bekommen."
Ich dachte an Reuter. „Also Spaltung?"
„Schlimmer! Blockade!"
Ich verstand nicht.
„Sie werden versuchen, uns von der Außenwelt abzuschneiden und auszuhungern."
„Wir werden protestieren."
„Das wird nichts nützen. Natürlich, wenn wir uns einen Weg zum Westen freikämpfen würden! Nach meiner Ansicht dürfte die Auffahrt von einigen hundert Panzern genügen. Es braucht nicht ein einziger Schuß zu fallen. Aber in Washington ist man anderer Ansicht."
„Blockade . . ."
„Blockade. Aber in der Luft können sie uns ja nicht blockieren. Gewiß, es wird nicht leicht sein, eine Stadt von annähernd drei Millionen Einwohnern von der Luft aus zu versorgen. Aber möglich. Es gibt nur eines, das den Plan zu Fall bringen könnte: die Stimme der Berliner."
Und er erklärte mir, was er von mir beantwortet haben wollte. Wie würden sich die Berliner im Falle einer Blockade verhalten? „Sie verstehen: man kann nichts durchführen, wenn sie nicht hinter uns stehen. Man kann sie nicht retten, wenn sie nicht gerettet werden wollen."
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Solch eine Aufgabe hatte ich schon einmal
Das war also meine Aufgabe, nicht unähnlich jener, die ich vor nunmehr bald fünf Jahren von der Schweiz aus unternommen hatte. Übrigens war ich sicher nicht der einzige, den Clay und seine Mitarbeiter mit einer solchen Aufgabe betrauten, und Clay mußte ja selbst eine gute Einschätzung der - sagen wir psychologischen - Situation haben. Ich erinnere mich, daß er im Oktober 1946 der einzige im amerikanischen Hauptquartier war, der, fast auf ein Prozent korrekt, den Ausgang der Berliner Wahlen vorhergesagt und so eine Menge Wetten gewonnen, will sagen einkassiert hatte.
Meine Aufgabe war nicht allzu schwer. Ich kannte ja inzwischen Hunderte von Westberlinern. Auch einige in Ost-Berlin. Denen konnte ich freilich nicht einmal mit dem Wort „Blockade" kommen. Das existierte für sie überhaupt nicht - wie Clay mich vorher gewarnt hatte. Allenfalls „technische Störungen" auf den Zufahrtswegen nach Berlin - die natürlich bald behoben werden würden.
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Ein Gespräch mit Wilhelm Pieck
Das erklärte mir zum Beispiel Wilhelm Pieck, der als alter Kommunist aus der Weimarer Zeit das Dritte Reich in Moskau überlebt hatte und bald der erste Präsident der vorläufig noch nicht existierenden DDR werden sollte.
Er war übrigens ein recht netter Mann, wenn man so mit ihm sprach, man spürte, er kam aus Arbeiterkreisen und hatte sich nicht, wie der griesgrämige verbissene Walter Ulbricht, in der Parteibürokratie hochgedient. Er begnügte sich mit der Mitteilung, „die sowjetische Besatzungsmacht" würde schon wissen, was sie tue.
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Natürlich war es Unsinn, die Kommunisten zu befragen
...., die ja auf Moskau eingeschworen waren, oder Bewohner des östlichen Berlin, für die auch eine gewonnene Blockade, also ein Abzug der westlichen Truppen, nichts ändern würde. Sie befanden sich ja längst unter der Fuchtel der Russen.
Im Westen der Stadt war die Stimmung eine ganz andere. Ich hatte mir ein paar Fragen zurechtgelegt. Etwa: War man sich darüber im klaren, daß im Falle einer Blockade West-Berlin von der Umgebung, dem Land abgeschnitten sein würde? Daß man sich keine Nahrungsmittel bei Bauern „organisieren" konnte?
Daß vermutlich überhaupt sehr wenig zu essen da sein würde und auch fast nichts, um zu heizen? Und daß auch der elektrische Strom oft ausfallen dürfte? Ich malte schwarz in schwarz.
Aber ich fand keinen, der nicht lieber alles auf sich genommen hätte, als wieder unter das Regime der Russen zu geraten. Keinen einzigen.
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West-Berlin 1948 - "Nie mehr die Russen!"
Ich spreche gar nicht von den Menschen mit politischem Verstand. Nicht von meinen Freunden Günter Neumann und Tatjana Sais, die beim Gedanken an einen neuerlichen Einzug der Russen erbleichten; nicht von Dr. Johann Stumm, einen hohen Polizeibeamten, der später der erste Polizeipräsident von West-Berlin werden sollte; nicht von West-Berliner Journalisten.
Von meinen Mitarbeitern spreche ich auch nicht; nicht von meiner erstaunlich dicken und trotzdem erstaunlich wendigen älteren Haushälterin; nicht von meinem Chauffeur Gerhard Brunzel, klein, drahtig, ein typischer Berliner, geradezu ein Abziehbild der Stadt. Er brauchte nur den Mund zu öffnen, und es kam eine Schnoddrigkeit oder ein Witz heraus.
Ich fand keinen Untergrundbahnschaffner, keine Sekretärin, keinen Gemüsehändler, keinen Statisten, keinen Arbeiter, keinen Arzt, der mit der Antwort gezögert hätte.
Sie lautete einmütig: „Wir wollen hungern, frieren, alle Schwierigkeiten auf uns nehmen - nur nicht die Russen. Nie mehr die Russen!"
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Nach fünf Tagen besuchte ich Clay wieder.
Er nickte nur, als habe er nichts anderes erwartet. Und sagte dann ziemlich trocken: „Die Berliner können so bleiben, wie sie sind."
Und dann ging alles sehr schnell. In Westdeutschland Einführung der neuen D-Mark. Die alte Reichs-Mark konnte eingewechselt werden, ich glaube im Verhältnis von zehn zu eins, aber nur in kleineren Mengen. Das hatten fast alle Wochen vorher kommen sehen - also hatte man für das sehr bald sich entwertende Geld alles nur Mögliche gekauft.
Der Schwarze Markt erlebte noch einmal eine Hausse nie gekannten Ausmaßes. Jetzt war er von einem zum anderen Tag wie ausgelöscht. Denn in den Läden gab es gegen die gute D-Mark wieder alles oder doch fast alles - in Westdeutschland, wie gesagt.
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Beschluß der westlichen Berliner Besatzungsmächte:
Zahlungsmittel halb alte R-Mark, halb neue D-Mark. Der Protest der sowjetischen Militärs wurde zurückgewiesen.
Auszug der nicht-kommunistischen Abgeordneten aus dem Rathaus, wobei sie bis zum letzten Augenblick fürchten mußten, verhaftet oder zumindest zurückgehalten zu werden.
Einzug ins neue westliche Stadtparlament im Schöneberger Rathaus. Reuter, noch drüben zum Regierenden Bürgermeister gewählt, aber von den Russen als solcher nicht anerkannt, durfte, mußte jetzt regieren und erwies sich schnell als der Mann, der es konnte.
Die Russen erklärten, wegen „technischer Störungen" müßten alle Zufahrtswege nach Berlin - West-Berlin, natürlich - bis auf weiteres gesperrt bleiben. Clay ließ erklären, der westliche Teil der Stadt werde via Frankfurt am Main durch eine - im wesentlichen amerikanische - Luftbrücke versorgt.
Die Engländer machten ein wenig mit, in England gab es auch Probleme und die Franzosen nur in der Theorie. Sie hatten 1948 noch nicht genug Lebensmittel für sich selbst.
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„Clay? Den General? Aber den kennt doch kein Mensch!"
Clay! Mir wurde schlagartig bewußt, daß der Berliner jetzt Vertrauen haben mußte, nicht nur in die etwas anonyme „gute Sache", sondern in Clay persönlich. Aber wer außer seinem Stab, außer seinen russischen, französischen, britischen Partnern und ein paar Dutzend im wesentlichen amerikanischen Journalisten kannte ihn denn?
Ich ging zum Telephon, verlangte die Redaktion von „sie" und dann Helmut Kindler. „Ich komme auf Ihren Vorschlag zurück. Ich bin bereit, für Ihre Zeitschrift zu arbeiten. Ich will vor allem über Clay schreiben."
„Clay? Den General? Aber den kennt doch kein Mensch!"
„Eben deswegen. Das ist der Mann, von dem es abhängt, ob Sie morgen noch leben, Sie und Ihre Familie und Ihre Nachbarn. Sie müssen ihn kennenlernen. Alle! Sie müssen Vertrauen zu ihm gewinnen."
„Gut! Schreiben Sie!"
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Ich plante eine Serie von vier umfangreichen Artikeln.
Aber schon während ich mir Notizen dazu machte, wurde mir klar: ich wußte nicht genug über Clay. Wie alt war er eigentlich? Wo geboren? Wie war seine Karriere verlaufen?
Welche Rolle hatte er im Krieg gespielt? Was dachte er von der Blockade und von der Chance des Westens, zu überleben? Sicher gab es all dieses Material in Archiven, aber vermutlich befanden die sich in Washington, sicher nicht in Berlin.
Schweren Herzens rief ich Major Tompson an.
„Major", sagte ich, „was ich erbitte - es ist eigentlich eine Frechheit. Aber ich habe keine Wahl. Ich weiß, der General muß überbeschäftigt sein, er startet ja die Luftbrücke. Aber ich muß ganz einfach mit ihm sprechen!" Und ich sagte ihr von den Informationen, die ich brauchte, und zu welchem Zweck.
„Bestellen Sie dem General, ich komme, wann immer er eine halbe Stunde für mich Zeit hat - meinetwegen um Mitternacht."
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Also - was wollen Sie wissen?"
Sie lachte. Nach einem Augenblick kam sie wieder an den Apparat. „Der General würde sich freuen, wenn Sie morgen mittag um drei Uhr mit ihm Kaffee trinken wollten."
Natürlich war ich da. Die Tür zwischen ihm und Major Tompson war - wie übrigens immer - geöffnet; Clay liebte keine geschlossenen Türen. Der Schreibtisch war leergefegt.
Er grinste. „Ich hörte, Sie hatten die Absicht, um Mitternacht zu kommen."
„Nun ja, die Luftbrücke ..."
„Mrs. Clay würde einen schönen Krach schlagen, Curt, wenn ich nicht pünklich um halb acht zum Dinner nach Hause käme.
Von draußen hörten wir die Geräusche der regelmäßig ein- und ausfliegenden Maschinen der blutjungen Luftbrücke. Es war der Beginn.
Auch meine neue Karriere hatte begonnen - die vierte, ohne daß mir das so recht zu Bewußtsein kam.
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