Sie sind hier : Startseite →  Film-Historie 1→  Curt Riess - mein Leben→  Das waren Zeiten - 25

Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

.

Teil V • EIN NEUES LEBEN

.

(24) Berlin

.

Ich gehörte zu den ersten 14 westalliierten Korrespondenten

Berlin. Ich gehörte zu den ersten vierzehn westalliierten Korrespondenten, die in die bisher von den Russen besetzte Stadt eingefahren wurden. Die amerikanischen und britischen Truppen sollten am Vormittag kommen und wir am Nachmittag.

Wir kamen auch am Nachmittag, aber erst am späten Abend erschien das verspätete Militär. Wir konnten den Einmarsch beobachten. Es war noch ganz hell, obwohl gegen zehn Uhr abends - die Berliner Uhren liefen noch nach Moskauer Sommerzeit.
.

4. Juli 1945 - Am nächsten Morgen - Berlin - ein Trümmerhaufen

Am nächsten Morgen ließ ich mich im Jeep in der Stadt herumfahren - der Stadt, in der ich den größten Teil meiner Jugend verbracht hatte, der Stadt, die ich wie meine Hosentasche zu kennen glaubte. Ich war zutiefst erschrocken - ich erkannte Berlin nicht wieder.

Jedes, aber auch jedes Haus, in dem ich je gewohnt hatte, lag in Trümmern, ganze Stadtviertel waren nicht mehr erkennbar, Straßen, durch die ich als Junge täglich schlenderte, nicht mehr passierbar.

Immer wieder ließ ich halten. Stand nicht hier ... ? War nicht dort drüben ... ? Wohnte nicht in jenem Haus ... ? - Nichts.
.

In den meisten Fällen standen nur noch die Fassaden

Das schlimmste: Man sah eine Straße, etwa den Kurfürstendamm, von einem Ende zum anderen und glaubte, er sei erhalten. Wenn man dann durch die Straße fuhr, mußte man erkennen, daß in den meisten Fällen nur die Fassaden standen. Dahinter war alles hohl, das nackte Nichts.

Oder man sah ein gewissermaßen zerrissenes Haus. Auf der einen Seite, so schien es, war noch einiges intakt, auf der anderen Seite sah man halbierte Zimmer, vielleicht auch ein Klavier oder ein Klosett, die gefährlich in der Luft baumelten.

Abends im improvisierten Presse-Club sprachen die Kollegen ganz sachlich über das, was sie „Verwüstungen" nannten. Sie stritten über Prozentsätze. Fünfzig Prozent verwüstet? Sechzig Prozent? Ich schwieg. Niemals hatte ich so stark empfunden, daß dies meine Stadt war - nein, gewesen war.

Die Amerikaner, die Engländer und Franzosen waren da

Unverhohlene Freude bei den Bewohnern der West-Sektoren: Die Amerikaner, die Engländer, schließlich auch die Franzosen waren da! Man hätte uns am liebsten umarmt. Das war freilich verboten, das heißt, es war uns verboten, zu fraternisieren, wie man das nannte.

Übrigens wich die Freude der Bevölkerung bald der Sorge. Würden wir, die ja untergebracht werden mußten, sie nicht bald aus ihren Häusern und Wohnungen und ihren mehr oder weniger möblierten Zimmern vertreiben? Und im übrigen galt ja die Freude, besser das Aufatmen der Bevölkerung weniger uns als der Tatsache, daß die Russen verschwinden mußten - natürlich nur aus dem Westen der Stadt.
.

Die Russen hatten in den Wohnungen schrecklich gehaust

Die Russen hatten in den von ihnen okkupierten Wohnungen schrecklich gehaust. Viele mochten noch nie ein Wasserklosett gesehen haben. Sie hielten es für einen Kühlschrank und waren verblüfft, als die dort deponierte Ware, Butter etwa, in die Tiefe entschwand und sich im unteren Stockwerk nicht wiederfand.

Ihre Notdurft verrichteten manche in den Zimmern selbst. Wasserhähne drehten sie auf, bis es Überschwemmungen gab. An den Kronleuchtern schaukelten sie, bis diese herunterkrachten.
.

Die russischen Soldaten - wie Tiere

Wo immer wir hinkamen, hörten wir von Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Ich muß gestehen, daß ich anfangs nicht recht an die Massenschändungen auch von ganz alten Frauen zu glauben vermochte.

Aber Ärzte, zu denen Frauen gelaufen waren und die sie vor den Folgen des Geschehenen zu retten versuchten, belehrten mich eines Besseren. Insbesondere, was die alten Frauen anging. Es war ein russischer Aberglaube, daß man Glück haben werde, wenn man mit einer alten Frau schlief.

Ich war erschüttert. Später schrieb ich in meinem Buch über das Nachkriegsberlin: „Eine Stadt wurde vergewaltigt."
.

Es war für die Frauen ein Trauma

Später erzählte mir ein Arzt ganz freimütig: „Alle Kollegen hatten gehofft, nun einmal die sogenannte sibirische Syphilis studieren zu können. Es gab nur sechs Fälle ... Viel zu wenig ..."

Übrigens: Keine der Frauen, die ich kennenlernte, wollte vergewaltigt worden sein. Nach einem halben Jahr wollte jede von mindestens einem Dutzend Russen vergewaltigt worden sein. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, daß eine Frau je darüber hinwegkommen könnte. Aber nach einem Jahr, höchstens nach zwei Jahren war alles vergessen.
.

Paul Wegener erzählte mir ....

Der bekannte Schauspieler Paul Wegener erzählte mir, in sein Haus, das voller Ikonen war und daher von den Russen respektvoll verschont wurde - sie glaubten wohl, er sei Asiate, und er sah auch ein bißchen so aus -, in sein Haus also seien viele Frauen der Umgebung geflüchtet, von gierigen Russen verfolgt.

„Ich habe ihnen ihr Vorhaben dann ausgeredet."
„Sprechen Sie denn Russisch?"
„Nein, aber wozu ist man denn Mime?"
.

Einmal fuhr ich vor meiner ehemaligen Schule vor.

Immer wieder ließ ich mich durch Berlin fahren oder ging durch die zerstörten Straßen. Einmal fuhr ich vor meiner ehemaligen Schule vor. Sie war noch einigermaßen intakt.

Der Direktor führte mich, ich war ja amerikanischer Offizier, respektvoll durch die Klassen. Überall standen die Schüler auf. In einem meiner ehemaligen Klassenzimmer verweilte ich mehr als eine Minute. Ich war im Begriff, dem Direktor zu sagen, daß auch ich einmal hier gesessen hätte, ließ es aber dann bleiben. Wozu auch?
.

Ich fuhr übrigens auch in den sowjetischen Sektor ....

...., das heißt in den Osten der Stadt. Unter den Linden stand nicht mehr viel. Das Deutsche Theater war unversehrt, die Kammerspiele daneben waren nicht allzu beschädigt und reparierbar, die Oper ein Trümmerhaufen, desgleichen das Schauspielhaus.

Die Friedrichstraße bestand nur noch aus Ruinen, zwischen denen bereits Gras zu wachsen begann. Der Osten hatte mehr abbekommen als der Westen.
.

Ich brauchte eine Sekretärin.

Ich hörte von einer in Frage kommenden Dame und fuhr zu dem Haus, in welchem sie und ihre Kusine in einer mit vielen Leuten vollgepfropften Wohnung lebte. Allgemeines Zähneklappern und Schluchzen. Man glaubte, ich wollte die Wohnung, die sie eben erst ergattert hatten, beschlagnahmen.

Nur die Dame, auf die ich es abgesehen hatte - sie war etwa in meinem Alter -, blieb ruhig. Ja, sie spreche, schreibe und stenographiere Englisch. Wie kam das? Sie sei Lehrerin gewesen und ihre Mutter Amerikanerin, der Vater Pfarrer. Nein, sie sei natürlich keine Nationalsozialistin.
.

Ich packte sie kurzerhand in meinen Jeep

Sie war nicht sehr begeistert, als ich sie kurzerhand in meinen Jeep packte. Wie würde sie zurückkommen? Ich versprach, sie zurückfahren zu lassen, was auch geschah.

Ich diktierte ihr ein paar kurze Meldungen, brachte sie zum Jeep und sagte: „Schreiben Sie das heute abend. Morgen lasse ich Sie wieder holen."

„Ich habe kein Papier, kein Kohlepapier, keine Schreibmaschine und kein Licht."

Ich besorgte ihr alles, auch Kerzen.

Sie arbeitete großartig. Allerdings war sie - und das durchaus mit Recht - nicht ohne Selbstbewußtsein. Sie verlangte, daß ich ihr und ihrer Kusine statt der Lebensmittelkarte V, allgemein Hungerkarte genannt, die Karte III besorge, die immerhin menschenwürdige Rationen garantierte.

Sie war nicht nur Sekretärin, sie wurde bald meine Mitarbeiterin, und sie hielt nicht mit Kritik zurück, was mir übrigens nur lieb sein konnte. Wir arbeiteten damals an einem Spionage-Roman, der mit einigen Verschlüsselungen meine Schweizer Erlebnisse wiedergab.

Er wurde, obwohl doch fast wörtlich dem Leben „nachempfunden", kein Erfolg. War er zu echt?
.

Ein paar Wochen später

Ein paar Wochen später erschien ein Offizier bei mir, um mir mitzuteilen, ich müsse meine Arbeitskraft - nennen wir sie "Thea Heller" - entlassen, denn sie sei Mitglied der Partei gewesen, was sie bejahte und zugleich verneinte.

Vor dem Krieg Studienrätin, wurde sie bei Kriegsbeginn eingezogen - als Dolmetscherin für das Auswärtige Amt. Und ein paar Monate darauf habe der Leiter des Dolmetscherkorps ihr und ihren Kollegen erklärt, der Führer habe sie alle - sozusagen in Bausch und Bogen - in die für gewöhnliche Sterbliche gesperrte Partei aufgenommen.

Eine große Ehre.

Ein oder zwei Jahre später schrieb sie einen Brief an die Partei und meldete ihren Austritt an. Dann packte sie einen Koffer, denn sie erwartete natürlich ihre Verhaftung. Aber ihr geschah nichts. Ich erklärte dem Offizier die Lage.

„Sie müssen zugeben, daß jemand, der sich so benimmt, nicht als Nazi eingestuft werden kann."
„Nach unseren Bestimmungen sind alle diejenigen Nationalsozialisten, die je in der Partei waren."
„Auch gegen ihren Willen?"
„Auch gegen ihren Willen."

Ich fuhr zu Clay. „Wer von uns hätte so viel Zivilcourage aufgebracht wie Frau Heller?" - Er nickte. Ich durfte meine Mitarbeiterin behalten.
.

Und meine Absicht, ein Goebbels-Buch zu schreiben?

Ich hatte mich in diesem Jahr kaum noch mit dem Projekt beschäftigen können. Jetzt hatte ich wieder etwas Luft. Ich mußte zwei- oder dreimal pro Woche einen Artikel in die USA kabeln, ich schrieb einen Artikel pro Woche für die „Weltwoche".

Und ich meldete mich zwei- oder dreimal jede Woche bei Clay oder Murphy. Aber sie hatten - vorläufig wenigstens - nichts für mich zu tun. Warum also sollte ich mich nicht wieder mit dem Goebbels-Buch beschäftigen?

Der Zufall war mir günstig.
.

Eine der Sekretärinnen von Goebbels konnte ich finden

Ich erfuhr, wo sich eine Sekretärin von Goebbels versteckt hielt. Ich besuchte sie. Sie begann zu zittern und zu weinen. Nein, ich wolle sie nicht verhaften, ich wolle sie engagieren. Dann fuhren wir ins Propagandaministerium, wo sie sich natürlich auskannte.

Das Gebäude - in Trümmern übrigens - lag in der russischen Zone, aber die Wachen dort ließen mich passieren. Die Ausbeute an Material war mager. Die Russen hatten wohl schon alles weggeschafft, was mich interessieren konnte.

Frau Haber, so hieß sie, sie war natürlich nur eine von vielen Sekretärinnen gewesen, konnte indessen mit zahlreichen Namen von Leuten aufwarten, die das eine oder andere über Goebbels erzählen würden. Mit Hilfe von Thea Heller stellte ich einen Fragebogen zusammen - Fragen, die ich an alle stellen wollte, die mit ihm Verbindung gehabt hatten. 168 Fragen!
.

Chauffeure, eine Köchin, ein Kindermädchen, andere Dienstboten

Was sich später als nützlich erweisen sollte. Später, als sich bei mir viele Leute einstellten, teils von Frau Haber animiert, teils weil sie gehört hatten, daß ich sie mit Zigaretten oder Lebensmitteln entlohnte - damals weit kostbarer als das sich rapide entwertende Geld.

Es waren Chauffeure, eine Köchin, ein Kindermädchen, andere Dienstboten oder kleine Angestellte des Propagandaministeriums, die meine Fragen beantworteten. So trennte sich langsam Dichtung von Wahrheit.

Auch war es sehr nützlich, daß ich mich als Amerikaner ausgab, der nicht Deutsch verstand, so daß die Heller dolmetschen mußte. So erfuhr ich, was die Befragten nicht oder falsch beantworten wollten und sich darüber mit Frau Heller berieten.
.

Der Besuch bei der Mutter von Magda Goebbels

Der ergiebigste Besuch war der einer gutaussehenden, würdevollen alten Dame namens Auguste Behrendt, der Mutter von Magda Goebbels. Sie nannte sich Behrendt, doch hieß sie nach ihrem zweiten Mann, von dem sie geschieden war, Friedländer. Ja, er war Jude gewesen und hatte bei der Erziehung Magdas, die aus der ersten Ehe seiner Frau stammte, mitgewirkt.

Sie erzählte auch viel von Magdas erster Ehe mit dem reichen Industriellen Günther Quandt. Auch die wurde geschieden. Dann kam eine Liaison mit einem Studenten, übrigens einem Juden, den ich - solche Zufälle gibt es -, gekannt hatte, denn er ging in meine Schule. Er hieß Viktor Arlossorew (er ist aber so unbekannt, daß er nicht mal in google genannt wird), ging nach dem Abitur - ein glühender Zionist - nach Palästina und wurde dort ermordet.

Dann machte Magda die Bekanntschaft mit Goebbels, später auch mit Hitler, der fasziniert von ihr war. Schließlich heiratete sie Goebbels. Auguste Behrendt : „Goebbels sah in der Ehe mit ihr eine Möglichkeit, Hitler auch privat an sich zu binden. Hitler war dann oft in der Wohnung des Ehepaares Goebbels am Reichskanzlerplatz."
.

Magda Goebbels bekam sechs Kinder in ziemlich rascher Folge.

In den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch waren Goebbels und Magda mit den Kindern in die Reichskanzlei übersiedelt. „Ihren Schmuckkasten nahm sie mit, aber kein Nachtzeug für die Kinder!" Die alte Dame sah die Familie nicht mehr, durfte auch - Befehl von Goebbels - nicht mehr mit ihrer Tochter telephonieren. Sie wurde nach Mecklenburg ausgeflogen und dort wenige Tage später durch britische Offiziere in Empfang genommen. Durch sie erfuhr sie erst, wie die Familie Goebbels umgekommen war. Die Kinder durch Giftspritzen.

Ich sagte: „Ich habe zwar nur einen Sohn, aber ich würde ihn niemals vergiften lassen. Geschweige denn sechs Kinder! Man hätte sie doch in die Schweiz bringen lassen können oder nach Schweden. Die Amerikaner hätten so kleinen Kindern nichts getan!"

Die Antwort: „Ihr Sohn heißt auch nicht Goebbels!"
Die Arme, die in einem Regime gelebt hatte, in dem Tausende unschuldige jüdische Kinder umgebracht worden waren, konnte sich wohl nicht vorstellen, daß zivilisierte Menschen an Kindern keine Rache für die Vergehen ihres Vaters nehmen würden.
.

Einblicke in die Familie Goebbels

Die Mutter von Goebbels, die ich wenig später in München-Gladbach - damals noch nicht Mönchen-Gladbach - aufsuchte, war die einfache Frau geblieben, die sie immer gewesen war. Sie hatte Goebbels einmal in Berlin besucht, aber weit davon entfernt, von seiner Stellung und dem ganzen Drum und Dran beeindruckt zu sein, ahnte sie schon bald, daß das alles nicht gut ausgehen würde, und fuhr wieder in ihre kleine Wohnung zurück.

Ähnlich verhielt sich Goebbels Schwester Maria. Kurz, Goebbels eigene Familie hatte also keine Vorteile von seiner Machtstellung und wollte auch keine.

Im Gegensatz zu Frau Behrendt, die mühsam als Haushälterin ihr Leben fristete, oder der Mutter von Goebbels, die nichts von ihm gewollt hatte, gingen viele, die früher auch nur den entferntesten Kontakt mit mir gehabt hatten, mich um Hilfe an.
.

Jetzt kannten sie mich wieder, sie, die 1933 plötzlich nicht mehr gewußt hatten, daß es mich gab.

Was wollten sie? Betteln - Vor allem das, was damals ein „Persilschein" genannt wurde: die Bestätigung darüber, daß sie nie Nazis gewesen seien. Ich lehnte in fast allen Fällen ab. Wie konnte ich wissen, welche Rolle sie gespielt hatten?

„Dann wenigstens ein Care-Paket", baten meine ehemaligen Bekannten. Ich antwortete gar nicht mehr.
.

Berlin damals im Sommer 1945 .......

Eine seltsam unheimliche Stadt aus Trümmern, Schutt und Gerümpel, mit den sogenannten Trümmerfrauen, die mit bloßen Händen ein wenig Ordnung zu schaffen bemüht waren, besser vielleicht: das Chaos übersichtlicher zu machen. Meistens wurden Nazifrauen für diese Arbeit herangeholt. Sie bekamen dann allerdings auch dafür die beste Lebensmittelkarte, die Nr. I.

Viele Berlinerinnen reagierten verärgert: „In der Partei hätte man sein müssen! Dann hätte man jetzt zu essen!"

Ich fragte den Mann, der, von den Alliierten dazu berufen, das „Amt für Trümmerverwertung" leitete, Professor Hans Bernhard Scharoun, wie lange es denn dauern würde, bis Berlin trümmerfrei sei. Antwort: „Etwa fünfzig Jahre. Und dann kann der Aufbau beginnen."

Wie sehr irrte er, der Fachmann!
.

Der "Schwarze Markt" spielte jetzt eine große Rolle.

Man sah viele ehemalige deutsche Soldaten in zerlumpten Uniformen, manche nur mit einem Bein, mit einem Arm, und alle wirkten recht hoffnungslos.

Der Schwarze Markt spielte eine große Rolle. In der Nähe des ehemaligen Reichstagsgebäudes trafen sich, in Uniform natürlich, Engländer, Amerikaner und Russen und tauschten.

Die Berliner tauschten ihre letzten Besitztümer gegen die notwendigsten Lebensmittel. Die Russen liebten Uhren über alles, auch die wertlosesten. Dafür gaben sie viel mehr aus, als sie in jedem Geschäft gekostet hätten. Die Notenbank lag ja im sowjetischen Sektor, und sie druckte Tag und Nacht deutsches Geld, damals noch Reichsmark.

Ich interviewte viele Frauen. Erschreckende Antworten: „Lieber einen Russen auf dem Bauch als eine Bombe auf dem Kopf!" Aber: „Goebbels hatte ganz recht, als er warnte, daß der Krieg nicht so schlimm sei wie das, was nach dem verlorenen Krieg kommen würde." Oder: „Nicht mal genug Gas, um sich umzubringen!"

Trotzdem: Die Zahl der Selbstmorde stieg und sollte noch weiter steigen.
.

Die sogenannten „Fräuleins" in Berlin

Dann waren da die sogenannten „Fräuleins", die für ein paar Zigaretten und ein bißchen Alkohol zu "allem" bereit waren. Manche bestritten, daß die Entlohnung der Grund war. „Wir wollen einfach wieder leben!" erklärten sie freimütig.

Sept. 1945 - Wie gut, daß ich General Clay kannte .....

Das Leben der Korrespondenten war nicht einfach, oder sollte ich sagen, ihre Arbeit? Anfangs war es verboten, mit Deutschen zu sprechen. Ich redete mit Clay, jetzt schon Stellvertreter Eisenhowers, der in Berlin residierte. Bald sollte er Leiter der gesamten US-Zone werden.

„Wie können wir Interessantes erfahren, wenn wir gar nicht mit den Leuten sprechen dürfen!" Und: „Wie stellen Sie sich das vor? Wir reden mit einem deutschen Gewährsmann. Dann sagen wir ihm: ,Nun warten Sie hier auf mich, ich gehe nur schnell in den Presse-Club, um zu essen/ Und der Mann bleibt hungrig."

Clay sah sofort ein, daß hier etwas geschehen müßte. Schon im September 1945, also zwei Monate nach unserem Einmarsch, fiel das Fraternisierungsverbot für uns.

Und wenig später verfügte Clay die Rehabilitierung der sogenannten „kleinen" Parteigenossen, die wirklich nur mitgelaufen waren. Er sagte zu uns: „Es ist ja klar, daß man Millionen Deutsche, die der Partei angehört haben, nicht für ewig aus dem politischen Leben ausschließen kann."
.

Oberbürgermeister von Berlin - Studienrat Dr. Arthur Werner

Ich besuchte im Rathaus den Mann, den die Russen zum Oberbürgermeister gemacht hatten, den Studienrat Dr. Arthur Werner, von dem man nicht recht wußte, ob seine Dummheit seine Angst überstieg oder umgekehrt.

Er machte den Mund erst auf, als ein russischer Offizier ins Zimmer kam, der offenbar dafür sorgen sollte, daß nicht gesagt wurde, was nicht gesagt werden sollte. Dabei sagte Dr. Werner so gut wie überhaupt nichts.
.

Der „arische" Paul Buschenhagen mochte die Nazis nicht

Ich traf immer häufiger alte Bekannte. Eines Tages auch Paul Buschenhagen, genannt Buschi. Er war früher ein vorzüglicher und von mir gut kritisierter Sechstagerennfahrer gewesen. Von den Nazis hatte er damals nichts zu befürchten.

Er war blond, blauäugig, er war alles, was man „arisch" nannte. Aber er mochte die Nazis nicht. Es war eine ganz unpolitische, rein instinktive Abneigung. Als er eine ihrer Paraden sah, packte er seine Koffer und fuhr nach Paris.

„Ich mag die Leute nicht!" Ein paar Jahre später holte man ihn zurück - unter der Drohung, ihn international sperren zu lassen, was bei der Einstellung und der Charakterlosigkeit des „Bundes Deutscher Radfahrer", seiner obersten Behörde, durchaus möglich gewesen wäre.

Er wurde Kaufmann, dann Soldat, dann bekam er eine hohe Zuchthausstrafe wegen Zersetzung der Wehrkraft. Er sprach sehr offen aus, was er von dem „Gesindel" hielt. Eine Zeitlang sah es so aus, als würde man ihn aufhängen. Aber er kam irgendwie wieder frei, er war eben ein sehr geschickter und fixer Berliner Junge.

Und in den letzten Tagen oder Wochen des Krieges lief er zu den Amerikanern über und landete schließlich in Berlin.

Für mich war und blieb er einer der echtesten Emigranten und Hitler-Gegner, weil er wirklich rein gefühlsmäßig gegen ihn war und keine politischen oder andere Gründe hatte. Schon gar keine praktischen. - Nun trat er wieder in mein Leben.

Ein seltsames und unheimliches Erlebnis ...

Durch Paul Buschenhagen kam ich zu einem seltsamen und unheimlichen Erlebnis. Er schleppte mich einmal in eine Bar, deren Eingang zwischen Trümmern nur schwer zu finden war. Natürlich ein illegales Unternehmen - aber welche Berliner Nachtlokale waren damals schon legal?

Eine nicht mehr ganz junge, aber attraktive Bardame verwickelte mich in ein Gespräch.
„Reiner Zufall, daß ich noch hier bin und nicht schon zehn Jahre tot!" sagte sie.
„Schon zehn Jahre, also noch vor dem Krieg?"
„Sie sind ja Amerikaner. Da wird Ihnen der Name Max Pallenberg nichts sagen."
.

Ich kannte ja Max Pallenberg aus Prag ...

Ich schwieg. Ich kannte ja Pallenberg, den großen Komiker, Fritzi Massarys „Bulli", und wußte auch von seinem schrecklichen Ende. 1934 oder 1935. Sein Flugzeug zwischen Prag und Karlsbad, wo er am Abend auftreten sollte, war abgestürzt.

„Eigentlich hatte ich eine Karte für diese Maschine, aber Pallenberg sprach mich auf dem Flughafen in Prag an, er habe nur noch ein Billet für die eine Stunde später startende Maschine bekommen. Ob ich mit ihm tauschen wollte. Ein reizendes kleines Mädchen erwarte ihn in Karlsbad. Ich tauschte also - auf eine Stunde kam es mir nicht an."

„Ich wünschte, Sie wären mit der ersten Maschine geflogen!" fauchte ich, an Pallenberg und seine Frau denkend, reichlich rüde und ging. Sie sah mir etwas verdutzt nach. Die Amerikaner waren wohl alle etwas verrückt, dürfte sie gedacht haben.

Und was dachte ich? Ich hatte dem lieben Gott in die Karten geguckt.
.

- Werbung Dezent -
Zur Startseite - © 2006 / 2024 - Deutsches Fernsehmuseum Filzbaden - Copyright by Dipl.-Ing. Gert Redlich - DSGVO - Privatsphäre - Redaktions-Telefon - zum Flohmarkt
Bitte einfach nur lächeln: Diese Seiten sind garantiert RDE / IPW zertifiziert und für Leser von 5 bis 108 Jahren freigegeben - Tag und Nacht, und kostenlos natürlich.