Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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(10) Karriere
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„Was bringe ich morgen als ,Aufmacher?"
„Was bringe ich morgen als ,Aufmacher?" fragte ich mich zwei- und oft dreimal pro Woche so um ein Uhr früh. Eigentlich lautete die Frage: „Was bringe ich heute als ,Aufmacher'?", denn das „12-Uhr-Blatt" kam, im Widerspruch zu seinem Titel, um sieben oder halb acht auf die Straßen, es war also gar nicht mehr so viel Zeit.
Diese Frage, meist rhetorisch, stellte ich mir in der winzigen Setzerei dieses Blattes, ebenso wie die Redaktion in einem Mietshaus der Berliner Straße in Charlottenburg untergebracht. Denn dort begann meine Laufbahn als Journalist.
Ich weiß, für neun von zehn Journalisten sind am Beginn ihrer Laufbahn wichtig die Menschen, die sie damals kennengelernt und interviewt haben.
Und in der Tat, als Zeitungsmann, so unbedeutend ich damals war, hatte ich zwangsläufig interessante Begegnungen. Uninteressante Menschen werden zwecks Interviews gar nicht aufgesucht.
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Das Volontariat beim Tagblatt dauerte nur wenige Wochen
Natürlich lernte ich in meiner ersten Zeit als Reporter - nicht für das „Berliner Tageblatt", bei dem ich nur einige Wochen volontierte, sondern für das kleinere, viel weniger seriöse „12-Uhr-Blatt" - und auch später noch unzählige wirklich wichtige Persönlichkeiten kennen. Das lag nicht an diesen Persönlichkeiten, das lag an meiner Redaktion, die mich zu ihnen schickte.
Mein erstes Interviewopfer
Ich denke da etwa an mein erstes Interviewopfer. Das war der geniale und in den zwanziger Jahren ungemein populäre Komiker Max Pallenberg, der damals, von einer Weltreise zurückgekehrt, in der Volksbühne Alfred Polgars „Defraudanten" spielte. Ich fuhr also hin und wurde mißgelaunt empfangen.
Mir fiel keine geistvollere Eingangsfrage ein als: „Wie gefällt es Ihnen wieder in Berlin?" Worauf, wie aus der Pistole geschossen, die Antwort kam: „Wie kann es mir in diesem Scheißensemble gefallen?"
Das schrieb ich natürlich nicht, ich konnte überhaupt nicht die Hälfte von dem schreiben, was er so hervorsprudelte - es war fast alles unter der Gürtellinie.
Ich wurde irgendwie von ihm angesteckt, ich redete nun auch sehr viel - ein Fehler der meisten angehenden Reporter -, redete nicht zuletzt über meine Theaterkenntnisse, wollte doch diskret andeuten, daß ich nicht irgendein Feld-, Wald- und Wiesenreporter war. Pallenberg hörte eine Weile zu, den Kopf etwas schief haltend, die Augen böse funkelnd, dann unterbrach er: „Wer interviewt hier eigentlich wen?"
Nachher war er wohl froh, daß er nur wenige seiner Äußerungen gedruckt fand, und schrieb mir drei Zeilen. „Danke dafür, daß Ihr Artikel so kurz war!"
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„Das ist der junge Mensch, von dem ich dir erzählt habe!"
Ich traf ihn bald darauf - ich glaube, es war auf dem Presseball - mit seiner Frau, der einmaligen Revue- und Operettenkünstlerin Fritzi Massary. Er stellte mich vor. „Das ist der junge Mensch, von dem ich dir erzählt habe! Lad ihn doch mal ein!" Am Ausdruck ihrer Augen erkannte ich, daß sie zum erstenmal von mir hörte.
Wir unterhielten uns ein bißchen. Später wurden wir Freunde. Man konnte Pallenberg eigentlich nur bewundern oder ablehnen - wegen seiner unaufhörlich vorgebrachten Frechheiten oder Zynismen, die so lustig waren, so böse, so intelligent, wie die Fritz Kortners dreißig Jahre später, dessen Bonmots hauptsächlich deshalb bekannt wurden, weil es dann keinen Pallenberg mehr gab. .
Fritzi Massary konnte man nur lieben .....
Wie gesagt, man konnte Pallenberg wegen seiner Bösartigkeit ablehnen - oder wegen seiner Gescheitheit lieben. Fritzi konnte man nur lieben - und ich reihte mich in die unübersehbare Schar ihrer Verehrer ein.
Einmalig, und nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Frau, besonders in ihren späteren Jahren. Sie gehört zu den wenigen Menschen, die man nie vergessen kann.
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Meine Artikel : „Aus den Erinnerungen eines Scharfrichters"
Oder da war meine erste Serie - vier oder fünf Artikel „Aus den Erinnerungen eines Scharfrichters". Der war vor kurzem pensioniert worden und lebte in Magdeburg, wo er wie eh und je eine Schankwirtschaft betrieb.
Bereitwilligst zeigte er mir sein aufs schärfste geschliffenes Beil, das in einem Kasten lag, der mit rotem Samt gefüttert war. Was er von seinen Erfahrungen, vor allem vom Verhalten der Verurteilten in letzter Stunde zu erzählen hatte, war ziemlich grauenerregend. Die Leser bombardierten uns dann mit empörten Zuschriften.
Oder sprechen wir von Edgar Wallace.
Ich war so begeistert von seinen Romanen, daß mein Chefredakteur mich nach London schickte, damit ich mich mit ihm unterhielte. Er war ein Begriff in Deutschland, übrigens auf der ganzen Welt. Seine Romane segelten unter der Flagge: „Es ist unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein."
Als ich ihn aufsuchte, wußte ich schon viel über ihn: daß er seine Romane durch ein Mikrophon auf die damals gerade in Mode gekommenen Platten sprach, daß seine Frau, die ehemals seine Sekretärin gewesen war, und sein Sekretär das Diktierte im Nebenraum mit sagenhafter Schnelligkeit abtippten, jede Seite mit drei Durchschlägen, die der Chauffeur oder der Diener vorbereiteten, damit keine Zeit verlorenging.
Denn Wallace hatte nie Zeit, weil er einen Roman erst vier oder fünf Tage, bevor er ihn an die Redaktion irgendeines Blattes zu liefern hatte, begann. Die übrige Zeit verbrachte er auf Rennplätzen, wo er seine enormen, soeben erzielten Honorare aufs schnellste wieder verspielte. Dann mußte er eben wieder einen neuen Krimi schreiben.
Wallace empfing mich sofort.
Er war ziemlich dick, steckte in einem Schlafrock, seine Gesichtsfarbe war ungesund, er war unrasiert. „Sie entschuldigen, aber wir sind mitten im dritten Tag", sagte er. „Nun, da Sie ja über mich schreiben wollen und mein deutscher Verleger Wert darauf legt, hören Sie ruhig zu."
Ohne ein weiteres Wort fuhr er mit seinem Diktat fort. Nicht gerade mitten in einem Satz, aber doch mitten in einem Kapitel. Meine Anwesenheit störte ihn nicht im geringsten. Er hätte wohl auch auf dem Trafalgar Square diktieren können.
Gebannt lauschte ich. Er diktierte nicht sehr schnell, aber unterbrechungslos, es ging weiter und weiter, er diktierte gleichmäßig, sagte auch die Interpunktionen und die Absätze an, und bei neu auftretenden Personen buchstabierte er die Namen.
Ich erinnere mich noch, es handelte sich da um einen Mann - oder vielleicht war es auch eine Frau -, der im Nebel verfolgt wurde, irgendwo in London, und daß plötzlich ein Schuß fiel.
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Der Mortimer wurde doch bereits umgebracht, so geht es nicht
Wie auf ein Stichwort trat seine Frau herein. Er lächelte gequält. Sie sagte, es täte ihr leid, ihn zu stören, aber:
„Im siebenten Kapitel tritt doch wieder dieser Mortimer auf." Der Betreffende mag auch anders geheißen haben, ich weiß es nicht mehr. „Und den hast du doch im fünften Kapitel durch die Bande umbringen lassen."
„Wie dumm!" Er sann nach. „Könnte er nicht scheintot gewesen sein?"
„Nein. Er ist doch gefesselt vor einen Expreßzug geworfen worden. Und Scotland Yard hat nachher nur noch Reste des zermalmten Körpers . . ."
„Ich erinnere mich jetzt. Zu dumm! Paß mal auf: Du machst aus dem Mortimer im siebenten Kapitel einen Mann, den man für Mortimer hätte halten können, so ähnlich sah er ihm, wenn" - und das kam mit einem leichten Triumph in der Stimme -, „wenn nicht das Muttermal auf der linken Schulter gewesen wäre. Das kannst du doch hineinarbeiten. Nur das mit dem Muttermal. Wenn ich mich recht entsinne - wann diktierte ich es? Ja doch, heute vormittag; also, wenn ich mich recht erinnere, verschwand er doch in der Mühle, die seit Jahren nicht in Betrieb ist. Lassen wir es dabei. Ich komme im neunten Kapitel wieder auf ihn zurück. Ein Mitglied der Bande, von dem aber niemand weiß, daß er eines ist ..."
„Du meinst Fred Cummings?"
„Ach, du hast es erraten? Wie dumm! Wie dumm! Ist es denn so leicht zu erraten?"
„Es hilft schon, daß ich deine Frau bin."
„Also, Fred Cummings sieht ihn, glaubt natürlich, er sei der Zwillingsbruder ..."
„Wer ist das?"
„Mortimer natürlich. Und ist auf den Tod erschrocken, daß Mortimer noch lebt, wo man ihn doch schon vor den Expreßzug usw. usw. Nun ist der einzige Ausweg: Alvie muß sterben."
„Und wer ist Alvie?"
„Ach, du kennst sie noch nicht? Die habe ich erst in diesem Kapitel erfunden. Aber laß mich nur machen. Den Zwillingsbruder nehme ich mir noch vor."
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So oder so ähnlich war es.
In der Tat, es war unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein. Übrigens starb er bald darauf in Hollywood. Und eine erschütterte Welt von Krimi-Fans vernahm, daß er nicht nur kein riesiges Vermögen hinterlassen hatte, sondern enorme Schulden.
Rund eine Million Pfund, damals also etwa zwanzig Millionen Mark. Sogleich ließ die Witwe verlauten, das sei nicht weiter schlimm, denn Wallace habe unzählige Manuskripte hinterlassen und deren Erlös würde die Schulden decken.
Das geschah auch in den nächsten fünf oder sechs Jahren, um so leichter, als ein toter Wallace die Einnahmen nicht wieder verwetten konnte. Nur das mit den nachgelassenen Manuskripten stimmte nicht. Wallace hatte immer nur geschrieben, will sagen diktiert, wenn er unter Druck stand.
Das eines Edgar-Wallace-Romans würdige Geheimnis: die Frau und der Sekretär taten sich zusammen. Sie hatten so viel von Wallace getippt, sie konnten es nun auch ohne ihn. Und wurden, wenn meine Informationen stimmen, auch nach der Bezahlung der Schulden noch recht wohlhabend.
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Unmöglich, nicht gefesselt zu werden ...
Das galt, zumindest was mich anging, keineswegs nur für Edgar Wallace. Das galt, zum Beispiel, auch für die außerordentlich schöne Frau von Franz Werfel. Ich war nach Wien gefahren, auf eigene Rechnung übrigens.
Der Chefredakteur: „Wenn's dort was Interessantes gibt, schreiben Sie's, und wir zahlen ein Extrahonorar. Und Ihr Gehalt läuft ja weiter."
Auf dem Weg nach Wien kam mir der Gedanke: Warum sollte ich nicht Franz Werfel interviewen? Extrahonorar! Ich fand unschwer heraus, wo er wohnte. Das Dienstmädchen wies mich an die zauberhafte Frau Werfel weiter, die, wie ich wußte, zuvor die Frau Gustav Mahlers gewesen war.
Sie lächelte gnädig, aber sagte, der Meister sei leider beschäftigt. Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, als sie fortfuhr: „Warum schaun s' nicht nach dem Nachtmahl herein?"
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Ich tat es und kam nach dem Abendessen wieder.
Sie war wieder allein im Salon, machte eine ratlose Bewegung, aber schon kam Werfel selbst herein, mit offenem Kragen und zerzaustem Haar. Ich möge entschuldigen, aber es dauere noch ein wenig.
Seine Frau würde mir sicher gern Gesellschaft leisten - und war verschwunden. Und ob sie bereit war, mir Gesellschaft zu leisten! Aber warum ausgerechnet im Salon?
Ich würde das alles nicht schreiben, hätte sie nicht selbst später in ihren Memoiren von zahlreichen Affären und Verführungen geplaudert, so als käme es auf eine mehr oder weniger nicht an.
Also? Ich habe keine zwanzig Worte mit ihr gesprochen. Die
letzten, die ich für einige Zeit äußern sollte, waren: „Aber er sitzt doch nebenan ..." Und sie: „Ach wissen S', wenn der Franzi dichtet ..."
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Fritz Lang und der Tonfilm
Eine andere Bekanntschaft, die ich durch ein Interview machte und die bald zur Freundschaft wurde, war die mit Fritz Lang, dem allmächtigen Filmregisseur. Das war, als es schon den Tonfilm gab.
Der Tonfilm: Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, daß im Gloria-Palast in Berlin der erste amerikanische Tonfilm lief, mit Al Jolson in der Hauptrolle.
Er spielte einen Varietekünstler, der als Neger geschminkt auftrat und das Lied vom „Sonny Boy" sang, Tränen in seiner Stimme, wobei alle im Zuschauerraum weinten, denn um die gleiche Zeit, im Film, versteht sich, starb ja eben sein Junge, sein Sonny Boy. Auch ich weinte.
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Auch mir fehlte der Glaube an den Tonfim
Trotzdem, trotz vielen eindrucksvollen Filmen mit Ton - die ersten deutschsprachigen waren es nicht - glaubte ich nicht so recht an die Zukunft der neuen Kunstgattung, im Gegensatz zu Hans Albers, mit dem ich mich nach der Premiere des „Sonny Boy" traf; auch seine Freundin Hansi Burg war dabei.
Er sagte in seiner üblichen Bescheidenheit: „Der Tonfilm wird ganz groß! Für mich nach Maß gemacht! Ich werde noch größer!" Er sollte in beiden Punkten recht behalten. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der Tonfilm die künstlerischen Höhen des Stummfilms erreichen würde. Ich stand da nicht allein.
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Die neuen Tonfimapparaturen fürs Kino waren teuer
Daß die meisten "Kinobesitzer" nicht an den Tonfilm heranwollten, war verständlich. Die Installation der neuen Apparatur kostete ja ein Vermögen.
Aber auch gewisse Künstler waren skeptisch, Asta Nielsen zum Beispiel oder Emil Jannings, der verärgert Hollywood verließ, als man ihm dort bedeutete, sein nächster Film werde ein Tonfilm sein. „Und ich soll darin wohl einen Deutschen spielen - was? Mit meinem miesen Akzent könnte ich wohl überhaupt nur noch miese Ausländer spielen, was? Mit mir nicht!"
Auch der große Chaplin wollte noch einige Jahre lang nichts vom Tonfilm wissen und legte, als er ihn machen mußte, den Akzent auf das Spiel, die Bewegungen, das Bild, wie eh und je. Fritz Lang wollte ebenfalls nicht an den Tonfilm heran.
Fritz Lang machte ein Geheimnis draus
Er wartete erst einmal ab, wie auch Chaplin, wie Henny Porten, wie die Garbo. Als Lang sich dann endlich entschloß, mit Ton zu drehen, engagierte er den jungen Schauspieler Peter Lorre, der noch keinen einzigen Film gemacht hatte.
Im Unterschied zu früher, da Fritz Lang nicht nur Publizität duldete, sondern sie wünschte, während er drehte, Interviews gab und täglich Lageberichte aus seinem Filmatelier kamen, als sei es ein Kriegsschauplatz, was, in gewissem Sinne, bei Lang auch stimmte, war diesmal ein eiserner Vorhang gefallen.
Niemand wußte, was Lang drehen wollte, ja man wußte nicht einmal genau, wer außer Lorre mitspielte, obgleich unter anderen der um diese Zeit schon recht bekannte Gustaf Gründgens mit von der Partie war.
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Ich kannte Peter Lorre und Karl Kraus bereits aus Wien
Ich kannte Lorre ziemlich gut - von Wien her, wo er zu der Clique um Karl Kraus gehörte, und von Berlin her, wo er sich als Schauspieler sehr schnell einen Namen gemacht hatte.
„Krieg was aus ihm raus!" befahl mein Freund Rolf Nürnberg, und ich fuhr ins Theater am Schiffbauerdamm, in welchem er gerade spielte. In der Pause begann ich meine Detektivarbeit. Erfolglos.
„Ich möchte dir gern den Gefallen tun", sagte er. „Aber ich kann nicht. Wir alle haben Lang schwören müssen, nichts zu verraten." Ich versuchte es immer wieder - vergebens.
„Der ganze Witz ist doch der, daß die Sache wie eine Explosion wirken soll. Eines kann ich dir verraten - es wird eine ganz neue Art von Film."
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„Wieder einer, der was rauskriegen will?"
Es läutete, die Pause war vorüber, und Fritz Lang kam in die Garderobe spaziert. Er musterte mich durch sein Monokel. „Wieder einer, der was rauskriegen will?" Er fragte es weniger, als daß er es feststellte. Lorre erwiderte hastig, er habe mir nichts verraten.
Fritz Lang wollte wissen, warum ich ihn nicht selbst frage, wenn ich über seinen neuen Film Bescheid wissen wolle. Und als ich es tat, grinste er: „Aber von mir werden Sie auch nichts erfahren ...". Ich kehrte etwas entmutigt in die Redaktion zurück.
„Sie schweigen alle wie das Grab. Nur wie der Film heißt, weiß ich."
„Woher?"
„Ich habe das Drehbuch auf dem Schminktisch liegen sehen. Der Film heißt ,M' Ein komischer Titel, was?"
„Unsinn! Das ist natürlich eine Abkürzung oder vermutlich ein Deckname!" entschied Rolf Nürnberg.
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Der erste Tonfilm Fritz Längs hieß wirklich „M"
Es war aber doch kein Deckname und keine Abkürzung. Der erste Tonfilm Fritz Längs hieß wirklich „M" und wurde eine Weltsensation, von der die Leute heute noch sprechen - und, was wichtiger ist: man kann sich den Film heute noch ansehen, ohne sich nachträglich darüber zu ärgern.
„Das angebliche ,12-Uhr-Blatt'"
Das „12-Uhr-Blatt" oder, wie Dr. Theodor Wolff - Chef des Tagblatts - es spöttisch nannte: „Das angebliche ,12-Uhr-Blatt'"
Es war, wie gesagt, ein sehr kleines Etablissement, und es wurde von den großen Zeitungsverlagen nicht für voll genommen. Aber es wurde gelesen, wenn auch freilich nur in Berlin.
Das verdankte es in erster Linie dem Sportteil und den Theaterkritiken. Wir waren die ersten, die über eine Premiere oder ein Sportereignis berichten konnten. Aber das war nicht der einzige Grund unserer Popularität.
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Wir waren sehr frech und kritisch.
Wir hatten vor nichts Respekt. Unsere Artikel gingen nicht auf Stelzen, wir schrieben, wie uns zumute war, nicht, wie „man" schrieb, das heißt, wie die arrivierten Zeitungen es taten. Das war es wohl, weswegen uns so viele lasen.
Wir schrieben ... Ach, wie viele waren wir denn in der Redaktion? Acht oder zehn, wenn wir überhaupt so viele waren, die Sekretärinnen mit eingerechnet. Korrespondenten hatten wir keine, weder im Inland noch im Ausland.
Wir konnten niemanden an den „Tatort" schicken, es sei denn zu Kino- oder Theaterpremieren und zu Sportereignissen in Berlin selbst. Unsere Gegner - und deren hatten wir viele - behaupteten, unsere Zeitung werde mit Schere und Leim hergestellt, will sagen, daß wir aus anderen Zeitungen Meldungen ausschnitten, auf ein weißes Papier aufklebten und mit dem Vermerk „Von unserem nach X entsandten Korrespondenten", den es in Wirklichkeit gar nicht gab, in die Setzerei schickten.
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Ich mußte öfter den letzten Umbruch "machen"
Der letzte Umbruch, den ich später zwei- bis dreimal pro Woche machen mußte oder machen durfte, sah wie folgt aus: Die erste Seite, die nur aus Bildern bestand, war schon am Nachmittag fertiggestellt worden, desgleichen das Innere des Blattes; die letzten Beiträge, also Theater- und Sportmeldungen, gingen um Mitternacht - so wenig Zeit blieb uns, sie zu schreiben - in die Setzerei, desgleichen verfügte sich der Umbruchredakteur dorthin.
Um ein Uhr, spätestens ein Uhr dreißig war alles umbrochen. Für diejenigen, die nicht wissen, was ein Umbruch ist: Der Satz der einzelnen Artikel stand bereit, und der Umbruchredakteur setzte aus ihnen die einzelnen Seiten zusammen, das heißt, er bestimmte, was oben stand und was unten, was zweispaltig aufgemacht wurde oder einspaltig, je nachdem.
Und nun warteten wir - das heißt ... der Umbruchredakteur und die Setzer - auf den Radler, der gegen ein Uhr morgens die neuesten Nachrichten der Telegraphen-Union brachte, das war die "DPA" (Deutsche Presse Agentur) von damals. Die AP (die amerikanische Agentur) existierte übrigens bereits in Deutschland, wäre aber für uns viel zu teuer gewesen.
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Und jetzt war Eile angesagt und der "Aufmacher" gefunden
In fieberhafter Eile mußte ich - oder der andere Umbruchredakteur - das eingelaufene Material überfliegen, zerschneiden, den Setzern geben und für die Handsetzer die notwendigen Überschriften komponieren.
Die größte Überschrift wurde für die erste Seite des Blattes entworfen, erschien dann also über den Bildern, mit denen sie nichts zu tun hatte, mit dem Hinweis: „Bericht siehe letzte Seite."
Das war das, was man bei Zeitungen den Aufmacher nannte, der, unter anderem, das Blatt verkaufen sollte - und ich mußte mich blitzschnell entscheiden, was der Aufmacher nun sein sollte, „Überfall am Wedding", „Zugunglück bei Kottbus" oder „Prostituierte beraubt".
Die Leser, die dann auf der letzten Seite „alles" darüber zu erfahren hofften, waren oft bitter enttäuscht. Wir hatten selten mehr als fünf oder sechs Zeilen über die Prostituierte oder das Zugunglück, das zu unserem Leidwesen meist nicht einmal so aufregend war, wie die Leser des Aufmachers hätten vermuten dürfen.
Ja es kam sogar vor, daß wir in der Eile, mit der die letzte Seite zusammengestellt wurde, die mit dem Aufmacher korrespondierende Nachricht nicht mitnahmen, so daß neugierige Leser nie erfuhren, wer am Wedding überfallen worden war oder was sich auf dem Schienenstrang bei Kottbus ereignet hatte.
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Jedenfalls erfuhren sie es nicht durch das „12-Uhr-Blatt".
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Es gab bei uns ein anderes Blatt - der „Angriff" des „Doktors"
Damals wurde in „unserer" Setzerei während einiger Wochen auch ein anderes Blatt gesetzt und umbrochen: der „Angriff" des „Doktors", wie man Goebbels schon damals auch außerhalb seiner Partei nannte.
Ich sah ihn, wenn er gelegentlich erschien. Er sagte einmal „Guten Abend", und ich erwiderte seinen Gruß, bevor mir klarwurde, daß ich es nicht hätte tun sollen. Irgend jemand aus seiner Umgebung flüsterte ihm etwas zu, vermutlich mich betreffend, und nun sah er mich noch einmal an, besser, er sah durch mich hindurch. Und ich sah durch ihn hindurch.
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Das war meine einzige Begegnung mit Goebbels.
Der kleine, schlanke, leicht hinkende Mann, damals erst Berliner Gauleiter, machte zwar eine sehr temperamentvolle, geradezu wütende Zeitung, aber schon deshalb keine gute.
Ich war davon überzeugt, daß sie nie Einfluß haben würde, und sollte recht behalten. Ich glaubte auch nicht an die Zukunft des „Doktors". Und da sollte ich mich irren. Ich ahnte nicht - wie konnte ich auch? -, daß ich rund fünfzehn Jahre später ein Buch über ihn schreiben würde, das in zwölf Übersetzungen um die Welt ging.
Goldwerte Erfahrungen in der Setzerei
Aber das später. Vorläufig war ich, nachdem mich Rolf Nürnberg an das „12-Uhr-Blatt" geholt hatte, dort ein bißchen Mädchen für alles. Wenn ich gerade einmal eine oder auch eine halbe Stunde Zeit hatte, das heißt, wenn keine dringende Arbeit für mich vorlag, stieg ich in die Setzerei hinauf und schaute den Setzern zu.
Und setzte selbst ein bißchen. Nicht daß ich je ein perfekter Setzer geworden wäre. Aber ich lernte täglich mehr, mich auszukennen. Das kam mir zugute, als ich später, wie schon berichtet, zum Umbruch herangezogen wurde; da konnte man mir nichts mehr vormachen.
Übrigens wollten das die Setzer auch nicht. Sie waren alle gescheite Leute, durch und durch Profis, die ihre Arbeit gern verrichteten. Darf ich an dieser Stelle sagen, daß ich, wo immer ich später auf Setzer stieß - in Paris, in Den Haag, in New York -, erstaunt und erfreut war über ihren hellen Verstand und ihre Aufgeschlossenheit.
Sportberichte, Filmkritiken, Theaterkritiken
Damals, in Berlin, als ich noch viele Zweifel an mir selbst hegte, halfen mir die Setzer, diese Zweifel zu überwinden. Als sie mich akzeptiert hatten, wußte ich: auch ich war ein Profi geworden. Ich mußte es täglich zeigen, und ich tat es gern.
Ich schrieb, natürlich, vor allem Sportberichte, gelegentlich Filmkritiken und - anfangs selten, später öfter - Theaterkritiken. Und ich wurde oft als Reporter eingesetzt, vor allem auf dem Gebiet, von dem ich - neben Sport - vielleicht am meisten wußte oder zu wissen glaubte: dem Theater.
Ich lernte viel. Zum Beispiel: zu sehen. Viele Jahre später sagte mir einmal Ernest Hemingway in New York - übrigens in einem sogenannten Gym (Anmerkung : die Amerikaner sagen zu einer Sporthalle "Gymnasium"), in der er Boxen trainierte, seine Art, sich fit zu halten: „Man sollte alle, die Schriftsteller werden wollen, zuerst einmal Sportberichte schreiben lassen. Da können sie nicht schummeln, da können sie nur schreiben, was und wie es wirklich gewesen ist. Da müssen sie aufpassen, da müssen sie zu sehen verstehen."
Er selbst kam ja aus der Sportberichterstattung, und so war es mit den meisten aus der jungen amerikanischen Schriftstellergeneration.
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Jede Woche einmal "nur" so ein paar Glossen schreiben
Ich lernte auch, daß alles, das man schrieb, halb so wichtig war. Ich hatte eines Tages die Idee einer Sportkolumne, oder vielleicht hatte ich sie auch aus Amerika gestohlen. Wie dem auch sei, Rolf Nürnberg ermutigte mich, jede Woche einmal so ein paar Glossen zusammenzustellen. Das Ganze nannte ich sehr hochgestochen und snobistisch: „Conference zwischen den Sports".
Ich war sehr stolz auf die erste Kolumne und eilte am Tage des Erscheinens schon um sieben Uhr morgens auf die Straße, um mein Meisterwerk gedruckt zu sehen.
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Ich erbleichte. ....... Was war geschehen?
Wie man vielleicht weiß, arbeiten Setzmaschinen so, daß jede gesetzte Zeile eine Einheit bildet, auf die die nächste Zeile folgt und so weiter. Man kann jede Zeile aus dem Text herausnehmen; das ist sehr praktisch, weil, wenn Druckfehler zu korrigieren sind, man eben nur die betreffende Zeile neu setzen muß und nicht etwa den ganzen Absatz oder gar einen Artikel.
Weniger praktisch ist, daß gelegentlich ein ganzer Artikel, aufgeschichtete Zeilen also, die auf rollenden Tischen stehen, herunterfällt. Dann muß man, meist der Setzer, die Zeilen wieder aufheben und in größter Eile zusammensetzen. Beim Umbruch ist ja immer höchste Eile geboten. Und dann geschieht es manchmal, daß ...
Kurz und gut: der 2., 3. und 4. Absatz meiner Kolumne waren total verstümmelt. Auf Zeile 1 folgte Zeile 7, dann kamen die Zeilen 3 und 4, dann 9 und 11. Meine kostbar gefeilten Pointen waren völlig unverständlich geworden, mein Werk ein Trümmerhaufen.
Ich dachte, die Welt würde untergehen oder zumindest würden von nun an die Leute mit dem Finger auf mich zeigen. Als ich am Abend ins „Romanische" kam, wagte ich gar nicht, von meiner Kolumne zu sprechen.
Aber ich wurde auf sie angesprochen. Man klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. Das hätte ich gut gemacht, das sei besonders reizend geworden, nur weiter so, junger Freund ...
Ich fragte beklommen: „Ja, haben Sie denn nicht ... ?" - „Ist dir denn nicht aufgefallen ...?"'
Nichts war ihnen aufgefallen. Nichts hatten sie gemerkt.
Das war mir eine Lehre. Und dieses frühe Erlebnis war der Grund dafür, daß ich später nie wieder einen Artikel gelesen oder gar ein Buch aufgeschlagen habe, das von mir stammte. Ich wollte auch zu denen zählen, die nichts gemerkt hatten - ich will es immer noch.
Die „Conference" war doch vielen aufgefallen, vor allem Journalisten, Redakteuren und Zeitungsbesitzern. Und so wurde ich eines Tages zu Ullstein geholt.
Ich soll zum Ullstein Verlag wechseln
Ullstein, das war in jenen Jahren das größte Verlagshaus Berlins. Die fünf Brüder Ullstein gaben mehr als ein halbes Dutzend Zeitungen heraus, darunter die überaus populäre „Morgenpost", die geistig hochstehende „Vossische Zeitung", die schmissige „B. Z. am Mittag", Deutschlands erstes und bedeutendstes Boulevardblatt, auch die „Berliner Illustrirte", die „Dame", die „Praktische Berlinerin", den „Querschnitt", die Ullstein-Bücher, die Ullstein-Schnitte, um nur die wichtigsten Ullstein-Produkte zu nennen.
Ich kam zur „B. Z. am Mittag", will sagen an den Sportteil, der sehr umfangreich war, mindestens acht, oft mehr Seiten umfaßte und ungemein langweilig war. Das lag an den Sportredakteuren, die sich eher wie Beamte fühlten.
Ich sollte da „auflockern", wie der sehr aufgeschlossene, aber selten zu Eingriffen entschlossene Sportchef Gustav Grüttefien es nannte. Ich bekam einen geradezu fürstlichen Vertrag für die damalige Zeit.
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Ein fürstlicher Vertrag für die damalige Zeit
Dreitausend Mark im Monat. Dafür mußte ich eigentlich nur zur Verfügung stehen. Ich hatte kein bestimmtes Ressort zu verwalten, es gab für mich keine festen Bürozeiten, wohl aber ein eigenes Zimmer und, wenn ich wollte, eine Sekretärin.
Es war freilich ausgemacht, daß ich über alle wichtigen Sechstagerennen berichten sollte, also über die in Berlin, Breslau, Brüssel, Dortmund und Paris - denn Sechstagerennen waren ja damals große Mode -, dann noch über die „Tour de France" und über andere internationale Sportereignisse wie etwa Wimbledon oder Oxford - Cambridge.
Und ich begann, bei der „B.Z." etwas zu verändern
Das tat ich auch - und, wie sich herausstellte, nicht ganz ohne Erfolg. Ich sah nämlich immer wieder, zum Beispiel in der Untergrundbahn oder im Omnibus, daß „B.Z."-Käufer, bevor sie überhaupt mit der Lektüre begannen, aus der Zeitung den gesonderten Sportteil schüttelten und zu Boden gleiten ließen.
Ich verstand sie nur zu gut. Der Sportteil der „B.Z." brachte alles, er war gewissermaßen komplett, aber nicht immer lesbar.
Meine Beamten-Kollegen schrieben einen Stil, wenn man ihn so nennen durfte, der so fachlich war, Sätze, in denen es von technischen Ausdrücken nur so wimmelte, daß allenfalls sie selbst, aber nicht einmal unbedingt die Redakteure im Nebenzimmer verstehen konnten, was da gemeint war. Von den Lesern versuchten die Fans, vor allem die Fußball-Fans, sich durch diese veritable Geheimsprache durchzukämpfen.
Ich sagte damals zu meinem Chef: „Es gibt Leute, die um drei Uhr morgens barfuß einen verschneiten Wald durchqueren, um zu erfahren, wer irgendwas „gewonnen" hat. Für die muß man nicht schreiben. Die reißen den Verkäufern die Zeitung sowieso aus der Hand. Ich will für diejenigen schreiben, die von sich sagen - und sicher zu Recht -, daß sie sich nicht für Sport interessieren. Ich will die zusätzliche Leserschaft ..."
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Und so schrieb ich denn für diese neue Clientel.
Und so schrieb ich denn für sie. Und meine Berichte hatten deshalb immer etwas Feuilletonistisches an sich und wurden in steigendem Maße von jenen gelesen, die Sport „eigentlich" nicht lasen. Und die nun fanden - davon berichteten gelegentlich ihre Leserbriefe -, das Zeug sei doch ganz interessant.
Meine Kollegen teilten solche Ansichten nicht. Für sie, von denen früher viele Sport getrieben hatten, war ich ein Außenseiter, der vom Sport nichts verstand. Und in der Tat: ich hätte nicht wie sie jeden Weltrekord oder jeden olympischen Rekord innerhalb irgendeiner Sparte aus dem Stegreif hersagen können.
Der Chefredakteur der „B. Z. am Mittag" war glücklicherweise meiner Ansicht. Ja wenn es irgendwie ging - zum Beispiel beim Berliner Sechstagerennen -, nahm er den Beginn meines Artikels auf die erste Seite des Blattes, so daß die Leser, die ja nicht die erste Seite wegwarfen, dann doch den Sportteil der Zeitung weiterlasen oder wenigstens zum Teil weiterlasen.
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Meine Frau erwartete ihr - unser - erstes Kind.
Wie meine Position war - relativ gesehen, natürlich -, geht aus folgendem hervor: Meine Frau erwartete ihr - unser - erstes Kind.
Der Arzt - sie lag schon in einer Klinik - meinte, es würde ohne Kaiserschnitt nicht abgehen. Das bedeutete in diesem speziellen Fall die Möglichkeit von Komplikationen, ja sogar Lebensgefahr.
Und gerade jetzt sollte ein Sechstagerennen im Berliner Sportpalast beginnen.
Ich hielt es für selbstverständlich, daß die „B. Z." mich unter solchen Umständen von der Berichterstattung dispensieren würde. Das wurde abgelehnt. Man bot mir an, mich mit einem Auto des Verlags in den Sportpalast fahren zu lassen, von dort, so oft ich wollte, auch mitten in der Nacht, in die Klinik, man stellte eine Sekretärin bereit, der ich diktieren konnte: aber berichten müsse ich.
Ich tat es denn auch - und war sechs Tage und sechs Nächte lang ein Gehetzter, der zwischen Sportpalast und Klinik und unserer Wohnung ständig hin und her pendelte und kaum ein paar Stunden Zeit zum Schlafen fand.
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Unser Sohn Michael ....
Und mein Sohn Michael wurde während der vierten Nacht geboren, gerade als eine tolle Jagd im Gange war.
Mir wurde das auf die Pressetribüne gemeldet, und eine Stunde später wußte es der halbe Sportpalast, die dahinrasenden Fahrer eingeschlossen. Der Arzt sagte am nächsten Tag, es sei alles ganz einfach gegangen, und verstand meine Nervosität überhaupt nicht.
Der Informationsaustausch fand oft im „Romanischen" statt
Zu denen, die meine Sport-Feuilletons für die Presse verfolgten, gehörte auch Rudolf, einer der fünf Brüder Ullstein, dem der Sport in sämtlichen Ullstein-Publikationen unterstand. Er hatte die vage Idee eines neuen Postens, dessen Inhaber eben in allen Ullstein-Publikationen über Sport schreiben sollte, und dachte dabei an mich. Er bestellte mich zu einem Gespräch.
Was er überhaupt wollte, erfuhr ich im „Romanischen" durch meinen Freund Rolf Nürnberg, dem er es ein paar Tage zuvor auf irgendeiner Party angedeutet hatte.
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Angeblich die Chance meines Lebens
Rolf meinte, das sei meine große Chance, ich solle, um Gottes willen, liebenswürdig und bescheiden sein und nicht alles besser wissen, selbst wenn ich glaubte, es besser zu wissen. Ich versprach es.
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Es ging natürlich voll daneben - ein Eigentor
Am nächsten Tag sagte ich zu Rolf, alles sei bestens gelaufen, nur fürchte ich, etwas zu devot gewesen zu sein. Man könne das auch zu weit treiben. Rolf, wieder ein paar Tage später:
„Du hast es in der Tat zu weit getrieben. Rudolf Ullstein meint, du seist ja recht talentiert, aber unmöglich; und er habe die ganze Zeit erwartet, du würdest ihn auffordern, aufzustehen und dir seinen Platz hinter dem Schreibtisch zu überlassen, der dir gebühre und nicht ihm."
Ich wurde stutzig. Ich begann zum ersten Mal zu ahnen, daß ich nicht auf alle Menschen so hinreißend wirkte, wie ich es bis dahin für selbstverständlich gehalten hatte.
Wie kam das? Warum war das so?
Ich sollte mir diese Frage noch oft stellen, allerdings erst, als bösere Umstände mich dazu zwangen. Ich glaube heute, ich glaube es nun schon seit mehr als vierzig Jahren, daß meine Würzburger Zeit damit zu tun hatte, in der meine Tanten und Onkel mich so reizend fanden und jede Lümmelei als eine besondere Gescheitheit bewunderten. Weniger verwöhnte Kinder haben es später leichter.
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Die erste Intrige kam mit meinem Erfolg
Rudolf Ullsteins herbe Enttäuschung hatte zwar im Augenblick keine Konsequenzen, es sei denn, daß ich die Traumstellung nicht erhielt - sie wurde dann überhaupt nie geschaffen.
Aber das eine oder andere sprach sich doch im Haus herum. Und meine Beamten-Kollegen in der Sport-„B. Z." hielten daher den Augenblick für einen Gegenschlag gekommen.
Sie setzten eine absurde Geschichte in Umlauf, ich hätte das Sechstagerennen von Köln (!) beeinflußt, ja gekauft, um einem mir befreundeten Fahrer namens Paul Buschenhagen zum Sieg zu verhelfen. Die Sache war zu dumm, um ernst genommen zu werden; aber ein Direktor Richard A. Müller, der über allen Ullstein-Zeitungen thronte, nahm sie ernst, was bewies, daß er anmaßend, bösartig und dumm war.
Mit seiner Bösartigkeit sollten die Brüder Ullstein in den ersten Nazitagen noch ihre Erfahrungen machen.
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Also alles ließ ich mir nicht mehr gefallen ...
Dabei lag es auf der Hand, daß nichts an der Sache mit mir stimmen konnte. Und daß nicht nur bestimmte Kollegen hinter dem großen Schwindel steckten, sondern auch Veranstalter von Radrennen, die meine scharfen Kritiken der Schiebungen, die sie selbst veranstalteten, als geschäftsschädigend empfanden.
Wie dem auch sei: Müller verhörte mich, als sei ich ein Schwerverbrecher. Ich sagte aus und meinte schließlich: „Es scheint, daß Sie mich los sein wollen!"
Er sagte: „Ich muß mir solche Unterstellungen verbitten!"
Und ich: „Sie können mich . . .!" Und ging zur Tür hinaus.
Zu Hause erwartete mich bereits eine schriftliche Mitteilung Müllers, ich sei fristlos entlassen und dürfe das Ullstein-Haus nicht mehr betreten ...
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Etwa ein halbes Jahr später die Bitte um einen Besuch
Ich betrat das Ullsteinhaus doch wieder. Etwa ein halbes Jahr später erreichte mich die Botschaft des sagenhaften Chefredakteurs Kurt Korff der nicht minder sagenhaften „Berliner Illustrirten", der um meinen Besuch bat. Seine Sekretärin teilte mir mit, er wolle gelegentlich Artikel von mir, und war bereit, fürstlich dafür zu bezahlen. Was er denn auch tat.
Ich machte ihn auf das Hausverbot aufmerksam. Er kam nun selbst an den Apparat: „Aber, mein Lieber, Herr Müller kann mich ... " Er war höflich genug, das Zitat nicht in seiner Gänze zu bringen. Sondern: „Herr Müller kann schließlich nur über die "Zeitungen" entscheiden. Das ist der zweite Stock. Wir, die "Zeitschriften", befinden uns im dritten Stock."
So war das damals bei Ullstein.
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Ich war zum „12-Uhr-Blatt" zurückgegangen
....., schon am Tage nach dem Krach bei Ullstein. Man nahm mich mit offenen Armen auf, freilich bekam ich nicht einmal die Hälfte des Ullstein-Gehalts.
Meine erste Aufgabe: eine große Reportage über das, was im Theater am Schiffbauerdamm gerade vor sich ging. Dort probten Brecht und Weill. Das Stück hieß „Die Dreigroschenoper". „Das soll ein Durchfall werden!" sagte man mir in der Redaktion.
„Fahren Sie mal hin und machen Sie für uns einen Bericht." Ich fuhr um so lieber, als ich ganz gut mit Brecht bekannt war. Er gab zwar kein Interview, meinte aber, ich könne ruhig zusehen, wie die Schauspieler probierten, und dann darüber schreiben. „Wir können Propaganda, weiß Gott, brauchen!"
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„Die Dreigroschenoper" war ein heilloses Durcheinander
Propaganda? Was ich zu sehen bekam, war heilloses Durcheinander. Das Stück, das heißt der Text, wurde noch ständig geändert. Und es war knapp vier Tage vor der Premiere. Brecht hatte immer neue Einfälle. Der Regisseur Erich Engel strich dauernd.
Im Foyer hämmerte Kurt Weill auf einem alten Piano herum, er komponierte stets was Neues. Brecht blieb in dem Tohuwabohu ganz ruhig. Er gewöhnte sich daran, mich „einzusetzen". „Tun Sie mir doch den Gefallen und laufen Sie hinter die Bühne und sagen Sie dem ..."
Zwei Tage vor der Premiere glaubte kaum einer mehr, daß das Stück je herauskommen würde. Und wenn, dann würde es ein Durchfall mit Pauken und Trompeten werden. Just an diesem Tag bat mich Brecht, Erich Ponto, der den Bettlerkönig Peachum spielen sollte, auf ein Wort ins Foyer zu rufen. Seine Garderobe war leer.
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Der Schauspieler Erich Ponto ist weg, einfach weg
Ein vorbeilaufender Mann - Bühnenarbeiter? Garderobier? - teilte mir mit, Herr Ponto habe sich umgezogen und sei fort. „Fort? Wohin?" Er habe gesagt, er fahre nach Dresden zurück - wo er ja lebte und meist auch spielte. Denn: „Das hier kommt ja nie heraus!"
Atemlos berichtete ich Brecht. „Holen Sie ihn zurück!" antwortete er seelenruhig. „Zurück? Aus Dresden?" Ich stürzte mich zusammen mit dem Regieassistenten aufs nächste Taxi. „Anhalter Bahnhof!" Von dort fuhr man ja nach Dresden.
Wir hatten Glück. In zehn Minuten fuhr der nächste Zug nach Dresden, er stand schon in der Halle. Wir hatten noch mehr Glück. In einem Abteil dieses Zuges saß ein verärgerter Ponto. Es kostete viel Mühe, ihn während der verbleibenden fünf Minuten zum Aussteigen zu überreden.
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"Ich finde die ,Dreigroschenoper* ganz nett!"
Ich führte schließlich ins Treffen: „Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Ich finde die ,Dreigroschenoper* ganz nett!"
„Ach, finden Sie?" sagte er aussteigend, aber keineswegs überzeugt. „Das sagen Sie nur so." Ich stutzte. Ich hatte das wirklich nur so hingesagt. Aber, wenn ich es mir überlegte, mir gefiel die „Dreigroschenoper" wirklich.
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Zwei Tage später wurde sie zum Sensationserfolg von Berlin.
In den nächsten Wochen und Monaten eroberte sie Deutschland, Österreich, die Schweiz. Brecht war durchgesetzt.
Und ich konnte sagen, ich war dabeigewesen. Nicht nur das, ich konnte sogar sagen, daß ich „Die Dreigroschenoper" eigentlich „sehr nett" gefunden hatte.
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Manchmal lag ich nicht so „richtig".
Ich erinnere mich noch einer Nacht auf dem Sechstagerennen, es war schon spät, als mich ein junger Mann ansprach, der nur gelegentlich auf der Pressetribüne erschien. Er war blond, sah gut aus, zog sich recht elegant an und trug, was wir alle ein bißchen albern fanden, ein Monokel.
Er hatte ein Büchlein über Cocktails geschrieben und wie man sie zubereitete und war jetzt Redakteur beim „Sport im Bild", einer weniger sportlichen als snobistischen Zeitschrift: Er sagte: „Vielleicht können Sie mir einen Rat geben. Ich habe da einen Roman geschrieben, aber kein Verlag will ihn. Das Manuskript kommt immer wieder zurück."
„Und wovon handelt der Roman?"
„Vom Weltkrieg."
„Das ist doch schon so lange her!"
„Das sagen die Verlage auch."
„Und Sie wollen von mir einen Rat, was Sie mit dem Manuskript machen sollen?"
„Ja."
„Zerreißen! Sofort zerreißen und nie wieder daran denken . . ."
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Erich Maria Remarque und ich wurden Freunde
Der Roman, der dann doch erschien, hieß „Im Westen nichts Neues". Der Autor, der also meinen Rat nicht befolgt hatte, war Erich Maria Remarque, der später einer meiner intimsten Freunde werden sollte.
Einer der gescheitesten, der amüsantesten, der liebenswertesten Menschen, die ich in meinem Leben traf. Es gab viele, die ihn nicht mochten. Jeder, der ihn wirklich kannte - gewiß, das waren wenige -, konnte nicht anders, als ihn lieben.
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