Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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(4) Der Weltkrieg ist halb so wichtig
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1. August 1914
Ein historischer Tag, wie ich später in Zeitungen und in unzähligen Geschichtswerken lesen sollte - und das war er wohl auch. Obwohl ich ihn damals - ich war ja knapp zwölf Jahre alt - kaum als solchen empfand.
Ich weiß nur noch: Mein Stiefvater, meine Mutter und ich wollen zum Schloß fahren. Warum eigentlich? Natürlich weil vom Schloß, das heißt vom Kaiser, die Entscheidung fallen muß, ob nun Friede sein wird oder Krieg.
Wir kommen bis zum Potsdamer Platz, dann sind die Straßen zu verstopft, als daß unser Taxi weiterfahren könnte. Wir drängen uns bis zu den Linden durch, ja, bis etwa zum Kronprinzenpalais.
Das alles sehe ich noch vor mir: Menschen, die jubeln, weil es den Anschein hat, daß ein Krieg ausbrechen wird, unendlich weit weg das Schloß, und in Stecknadelkopf große ein Mann auf dem mittleren Balkon.
Es ist der Kaiser, wie alle um uns herum sagen, nein, sich zuschreien, sie brüllen, sie toben, sie können sich vor Begeisterung gar nicht fassen. Er ruft, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche. Aber auch das erfahre ich erst später. Und wie arrogant und töricht diese Worte sind, wurde mir erst nach vielen Jahren klar.
Der 1. Weltkrieg hat also begonnen
Der Krieg, später Weltkrieg, noch später Weltkrieg I. genannt, hat also begonnen, und alle finden das großartig, vielleicht mit Ausnahme meines Stiefvaters, der eine bittere Miene macht. Aber erst zu Hause wird er uns erklären: „Wenn England in den Krieg eintritt, sind wir verloren!"
Er hat natürlich völlig recht. Aber seine Begründung ist doch etwas seltsam. Als Hersteller von Anzügen und Livreen hat er viel mit englischem Tuch zu tun. Er weiß, daß es besser ist als das deutsche. Also, folgert er, sind die Engländer überhaupt besser als die Deutschen.
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Das Leben ging für mich weiter wie bisher.
Warum auch nicht? Der einzige Unterschied - ich wurde patriotisch. Wir alle wurden patriotisch. Dafür sorgte die Schule. Alle Augenblicke wurden wir zu irgendwelchen Kundgebungen in die Aula zusammengerufen, meistens um einen Sieg zu feiern - es gab deren anfangs unzählige -, und wir freuten uns enorm über die Zahl der gefangenen Feinde, vielleicht noch mehr über die Zahl der feindlichen Gefallenen.
Wir hatten ja zum Tod noch keinerlei Beziehung, und ich fürchte, das galt auch für die sogenannten Erwachsenen, also unsere Lehrer. Diese Feiern bildeten eine erfreuliche Unterbrechung des Unterrichts.
Wir mußten oder sollten zumindest für den Kauf dieser oder jener Abzeichen mit irgendeinem Slogan werben. Es waren vor allem Slogans des Hasses, wie etwa „Gott strafe England!", nachdem England mit Verspätung von einigen Tagen in den Krieg eingetreten war.
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Mein Stiefvater war wesentlich klüger als die Generäle
Mein Stiefvater war also, im Gegensatz zum Kaiser, dessen Generälen und Ministern nicht patriotisch und erwies sich damit als wesentlich klüger als diese.
Freilich, in den ersten Kriegsjahren wollte ich seine „unpatriotischen" Bemerkungen nicht hören, geschweige denn an sie glauben. Ich fand es auch nicht richtig, daß er nur sehr ungern Goldstücke herausrückte, die ich in der Schule ablieferte, nach dem Motto: „Gold gab ich für Eisen", und in begrenztem Umfang Kriegsanleihe zeichnete, obwohl nicht einmal er ahnen konnte, daß die Anleihescheine fünf Jahre später nicht einmal mehr den Wert von Klosettpapier haben würden.
Hier unterschied er sich vorteilhaft von einem Bruder meines verstorbenen Vaters, der als mein Vormund fast mein gesamtes, vom Vater ererbtes Barvermögen dergestalt „mündelsicher" anlegte.
Er hat dieses Verhalten nie erklärt, sondern, als ich ihn viel, viel später einmal darüber befragte, nicht eigentlich zur Rede stellte, mich sofort enterbt.
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Ich verbrachte fast alle meine Ferien in Würzburg
Übrigens sah ich ihn in den folgenden Jahren oft, auch meine übrige Familie und auch die meiner Mutter, denn ich verbrachte fast alle meine Ferien in Würzburg und ging meinen Verwandten und Freunden dort wohl sehr auf die Nerven, weil ich unaufhörlich von Berlin sprach, von den Wundern der Untergrundbahn, von den privaten Lifts, der Verkehrsregelung.
Freilich, was ich ihnen damals über Berlin erzählte, änderte nichts an der Überzeugung aller, wirklich aller Würzburger, Berlin sei so etwas wie ein Exil, nicht unähnlich dem sagenhaften Sibirien, und ich wäre dorthin „verschlagen" worden und sei eher zu bedauern.
Die Zugfahrt nach Würzburg war aufregend
Ich spüre heute noch, wie freudig erregt ich war, wenn der Zug sich der Stadt näherte. Schon lange vorher stand ich am Fenster des Zugkorridors und ließ die vertrauten Bilder an mir vorüberziehen.
Der jüdische Friedhof - noch außerhalb der Stadt, das Fabriksviertel Grombühl, im Hintergrund der rebenbewachsene Steinberg, berühmt durch seine Weine, das weiße Bismarck-Denkmal inmitten eines Wäldchens, von dem es später ganz verdeckt werden würde, ein paar hundert Meter entfernt die Steinburg, ein beliebtes Ausflugslokal, und dann, endlich die mir so vertraute Parkanlage, das Glacis genannt, die Straßen, in denen ich gespielt hatte, der Bahnhof, die mich erwartende Familie.
Ich wohnte meist bei meinem cholerischen Onkel Adolf, dem jüngsten Bruder meines Vaters, der eine etwas unbestimmte Idee von Berlin hatte und - nach Art der Bayern - keine allzu gute.
Er befürchtete wohl, ich bekäme dort nicht genügend zu essen. Jedenfalls verlangte er von seiner Frau und natürlich auch von seiner Köchin, daß ich gemästet würde wie eine Gans. Er schaute mir dann beim Essen wohlgefällig zu - ich konnte damals wirklich eine Unmenge vertilgen - und bemerkte nach jeder Mahlzeit: „So was kriegst du fei in Berlin net!"
Zumindest nicht so viel, und das war wohl auch gut so.
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Von meinen Tanten verhätschelt, ich sei entzückend und klug
Und was meine Tanten anging - die sahen in mir eine Art Weltwunder. Das war übrigens nicht ganz neu. Seit frühester Jugend wurde ich von ihnen verhätschelt. Sie sprachen ganz laut in meiner Gegenwart darüber, wie „entzückend" ich sei, wie „klug"; ich badete in diesem kollektiven Lob, die Idee, es könnte einseitig oder parteiisch sein, kam mir nie.
Mir ganz unbewußt nahm das Gefühl von mir Besitz, ich könnte einfach nichts Falsches sagen oder tun, ich war eben reizend, klug, lustig.
Später, nicht einmal so sehr viel später, habe ich oft feststellen müssen, wie sehr mir das geschadet hat; und ich mußte auf viel schmerzhaftere Weise, als es damals denkbar gewesen wäre - nämlich wenn ich auf Menschen stieß, die nicht unbedingt alles reizend und klug fanden, was ich sagte oder tat -, ein bißchen Selbstkritik und, ja man darf es wohl sagen, Bescheidenheit lernen.
Es war nicht nur schmerzhafter, es war in jedem Sinne kostspieliger. Aber davon später . . .
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Würzburg war vermutlich die schönste und reinste Barockstadt Deutschlands.
Die alten Häuser, die unzähligen alten Kirchen mit ihren Kostbarkeiten, die verwitterte Marienkirche, die Statuen, die auch in den benachbarten Dörfern zu finden waren, viele von Riemenschneider. Und das Ganze auf die lieblichste Weise in das Tal des Mains eingebettet, dessen geruhsam dahinströmendes Wasser, wenn wir darin schwammen, wie schweres öl wirkte, obwohl es von außerordentlicher Klarheit war.
Da hatte ich nun meine Kindheit verbracht, ohne zu ahnen, daß dies ein Paradies war. Ich war tausendmal an dem Schloß achtlos vorübergegangen, einem Rokokojuwel, wie es kaum ein zweites Mal existierte; auf die Marienburg hinaufgestiegen, die aus geringer Höhe die Stadt gleichsam beherrschte; ja ich hatte nicht einmal begriffen, wie zauberhaft schön das stilreine Stadttheater mit seinen vielen Logen und Rängen war.
In jenen Jahren und denen, die folgten, begriff ich zwar wenig von den kostbaren Schönheiten des Städtchens, fühlte aber langsam, daß Würzburg nicht nur bequemer und gemütlicher war als Berlin, sondern auch muffiger.
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Die Kleinbürger waren zu 98% nur Katholiken
Die kleinen Bürger - und eigentlich waren alle dort Kleinbürger - unterstellten sich bedingungslos der kirchlichen Obrigkeit. Es gab ja fast nur Katholiken, etwa vier Prozent der Bevölkerung war protestantisch, zwei Prozent jüdisch.
Meine Schulkameraden von früher, die ich jetzt nur noch selten und immer seltener sah, hatten eigentlich nur eine Sorge: die Beichte am kommenden Samstag, die ja seit der letzten Kommunion wie ein Damoklesschwert über ihnen hing.
Sie zerbrachen sich den Kopf darüber, was sie beichten respektive nicht beichten sollten. Untereinander sprachen sie nicht oft darüber, mit mir schon, ich hatte ja als Jude sozusagen eine Ausnahmestellung.
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Meine Freunde hatten alle ihre sexuellen Probleme
Natürlich hatten meine Freunde alle ihre sexuellen Probleme, das heißt, eigentlich immer das gleiche: das der Masturbation. Was gestehen, was nicht gestehen?
Als ob sie ihren Pfarrern etwas vormachen konnten! Die wußten schon deswegen Bescheid, weil auch sie sich auf sexuellem Gebiet durchaus nicht so benahmen, wie es Pfarrern oder Pfaffen eigentlich geziemte.
Es war ein offenes Geheimnis, daß zahlreiche, ich möchte fast sagen zahllose, Pfarrer in Würzburg und vor allem in den Dörfern der Umgegend Verhältnisse mit ihren Köchinnen oder Wirtschafterinnen hatten. Das klingt sehr verallgemeinernd - aber es war wohl die allgemeine Sitte oder Unsitte, wie immer man dazu stehen mag.
Jemand hat einmal von Würzburg gesagt, daß es die meisten Kirchen im Verhältnis zu seiner Einwohnerschaft besitze und die meisten unehelichen Kinder. Und so hatten viele einen Geistlichen zum Vater.
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Würzburg besaß im Verhältnis ungewöhnlich viele Bordelle
Man könnte auch hinzufügen, daß Würzburg im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl ungewöhnlich viele Bordelle besaß.
Das alles erfuhr ich natürlich erst später, nicht gerade mit elf oder zwölf Jahren. Und auch, daß vieles in Würzburg geschah, worüber „man" nicht sprach.
Zum Beispiel war es gang und gäbe, daß junge Männer aus besseren Kreisen Freundinnen hatten. Nur mußten da bestimmte Regeln eingehalten werden. Ein Verhältnis konnte man zum Beispiel - wie einer meiner Onkel - mit der Tochter eines Bäckers haben, ihr möglicherweise auch ein uneheliches Kind machen.
Aber ein Verhältnis durfte man nicht haben mit der Tochter eines Bäckereibesitzers. So einfach war das. So streng waren die Bräuche.
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Sündigen war ok, aber sich erwischen lassen ... unverzeihlich
Etwas zu tun, etwas Strafbares, etwas, das nach dem damaligen Sittenkodex und insbesondere nach Ansicht des katholischen Klerus ungehörig war, mochte hingehen. Sich erwischen zu lassen, war unverzeihlich.
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Siegfried Heidenheimer, ein Freund meiner Mutter, war blind
Der erste, der mir von den Schönheiten der Stadt sprach, konnte sie nicht sehen.
Denn er war blind. Ich nannte ihn Onkel Siegfried, obwohl er kein Verwandter war.
Siegfried Heidenheimer war seit eh und je der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen und später meiner Mutter. Mit neunzehn Jahren hatte er nach einer Scharlacherkrankung das Augenlicht verloren - Netzhautablösung, wie es hieß. Er war sehr groß, ich glaube annähernd zwei Meter, schlank, und sah, abgesehen von seinen blutunterlaufenen Augen, ausgezeichnet aus.
Er bewegte sich in den Würzburger Straßen wie in einem vertrauten Zimmer. Natürlich fand sich immer jemand, jeder kannte ihn ja, der ihm dabei half, eine Straße zu überqueren, aber das wäre nicht einmal nötig gewesen, es gab ja noch keinen Verkehr, und die Droschken und sonstigen Pferdefuhrwerke hielten eben an, wenn er des Weges kam.
Er war immer makellos angezogen, gut rasiert, er hatte Charme, die Frauen - das erfuhr ich natürlich erst viel später - fielen ihm zu. Man merkte eigentlich nur, daß er blind war, wenn er sich beim Gehen leicht auf einen stützte und wenn man ihm das Essen vorschneiden mußte.
Man konnte mit ihm ins Theater gehen, er verstand, ich möchte fast sagen, er sah alles, ein paar Worte mußte man ihm gelegentlich soufflieren, etwa: Jetzt geht der oder die ab oder kommt herein. Sie genügten vollständig. Er war von einer geradezu alarmierenden Intelligenz. Er spekulierte mit unheimlichem Instinkt und größtem Erfolg an der Börse, und er erwies sich - und das war wohl das Tollste - fast unschlagbar beim Pokern, und das, obwohl man ihm soufflieren mußte, was er in der Hand hielt, und er die Gesichter der anderen Mitspieler nicht beobachten konnte. Er erriet alles an der Art, wie sie sprachen. Er gewann fast immer.
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Mein "Onkel" Siegfried war Realist und Pessimist zugleich
Mit "Onkel" Siegfried machte ich lange Spaziergänge. Er versuchte mir viel von dem, was er wußte, zu übermitteln. Er war, was den Krieg betraf, noch viel pessimistischer als mein Stiefvater und hielt es für selbstverständlich, daß „wir" ihn verlieren würden.
Er erklärte mir, warum, und später stellte ich fest, daß dieser Blinde aus Würzburg mehr und weiter sah als die Sehenden in allen Metropolen der Welt, ganz zu schweigen von den Generälen und Admiralen, die Onkel Siegfried schlechthin als Dummköpfe abtat.
Er war wohl der erste und vielleicht der einzige, der mich dazu erzog, nichts unkritisch hinzunehmen und mich nie und unter keiner Bedingung damit zu begnügen, daß andere, weil älter, es besser wissen müßten als ich.
Er erzählte mir viel jüngst vergangene Geschichte in Form von Geschichten. Ich erinnere mich noch seiner Darstellung des Falles Dreyfus, der ja erst rund zehn Jahre zuvor sein Ende gefunden hatte, und seiner Mahnung, die meisten Menschen seien Antisemiten, denn: „Sie sind dumm!"
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Ich hätte alles aufschreiben müssen, damals ....
Ach, Onkel Siegfried! Wie oft habe ich bedauert, mir nicht alles aufgeschrieben zu haben, was du mir erzähltest! Wieviel habe ich von dir gelernt und wieviel mehr hätte ich lernen können! Ich habe nie vorher und nie nachher einen so guten Lehrer gehabt, einen, der so klar sah, ohne sehen zu können.
Eine, die ich stets in späteren Jahren in Würzburg besuchte, war Rosa. Sie hatte sich ja, wie bereits erzählt, von uns trennen müssen, und das haben wir beide lang nicht verwunden. Sie stand mir näher als meine eigene Mutter.
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Sicher liebte mich meine Mutter ... aber ....
Mutter liebte mich, daran war kein Zweifel. Aber für sie gab es auch anderes - vor allem das gesellschafdiche Leben und ihren zweiten Mann. Ich weiß, das klingt hart, und diejenigen, die meine Mutter kannten, werden es kaum verstehen.
Sie erfreute sich allgemeiner Beliebtheit, mehr: sie wurde von fast allen geliebt; sie war ja nicht nur hübsch, elegant, lustig, sie war auch hilfsbereit in geradezu unwahrscheinlicher Weise und sehr, sehr einfühlsam.
Ewald sagte später, sie sei die einzige gewesen, die ihn in seinen schwierigen Pubertätsjähren begriffen und beraten habe - übrigens ohne daß ich etwas davon ahnte. Sie verstand alles - nur eben mich nicht, so glaubte ich wenigstens damals; oder sie verstand mich doch nicht so sehr, wie ich es gewollt hätte.
Vielleicht war ich ungerecht, vielleicht, ohne es zu wissen, auch eifersüchtig. Jedenfalls: nach zwei, drei Jahren Berlin stand mir mein neuer Vater viel näher als sie.
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Mutter mochte nicht gerne lesen ....
Ich wußte eigentlich nie so recht, worüber ich mit ihr reden sollte. Sie las kaum je ein Buch, und später, als ich selbst Bücher schrieb, auch nicht die meinigen. Sie wollte sie nur besitzen, um sie ihren Freundinnen zu zeigen. Sie wollte auch mich ihren Freundinnen zeigen, damals, als ich noch ein Kind war.
Sie war stolz auf mich, mehr als ich es je verdiente, aber sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum. Als ich, sehr frühreif und naseweis, ihr einmal sagte, das Schauspiel „Alt-Heidelberg" sei doch Kitsch, bekam ich eine Ohrfeige. „Alt-Heidelberg" war doch ein Erfolgsstück, also bestimmt nicht ohne Wert.
Rosa ging nicht in Konzerte oder ins Theater, las nie ein Buch, war simpel und vielleicht sogar dumm - aber für sie gab es außer ihrem lieben Heiland eben nur mich.
Sie hatte mich geweckt, sie hatte mich zu Bett gebracht und mich gebadet, jawohl, noch zu einer Zeit, da viele junge Burschen sich nicht mehr von Frauen abseifen lassen.
Ach, wenn Rosa geahnt hätte, wie wenig Kind ich noch war und daß ich in einer Weise lebte, die ihr Pfarrer sicher als verderbt bezeichnet hätte! Sie würde den Rest ihres Lebens mit Gebeten für mich verbracht haben.
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Ich hatte kein Interesse am Krieg oder an der Politik
Was meinen Vater immer von neuem ärgerte, das war mein mangelndes Interesse am Krieg oder an der Politik überhaupt. Er fand, auch ein junger Mensch müsse doch wohl Anteil nehmen an dem, was in der Welt vor sich gehe.
Aber mich interessierten Zeitungen überhaupt wenig, allenfalls das, was „unter dem Strich" stand, das Feuilleton also und vor allem die Theaterkritiken. Der Mittelpunkt meines Lebens war nach wie vor das Theater.
Und da gab es die Litfaßsäulen. Diese geradezu behäbigen Säulen standen fast an jeder Straßenecke, auf ihnen fand man die Proklamationen von Parteien, Bekanntmachungen von Behörden und einen kompletten Spielplan sämtlicher Berliner Theater.
Ich glaube, es waren damals 45, die meisten davon spielten "en suite", Operetten oder Schwänke, mit oder ohne Musik. Die Spielpläne waren nicht wie heute - falls sie überhaupt erscheinen - etwas summarisch, sie waren komplett wie ein Theaterprogramm, das heißt, das ganze Personenverzeichnis war abgedruckt, so wie etwa in der Buchausgabe des Stückes, und dahinter standen die Namen der an dem betreffenden Tag spielenden Schauspieler.
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Die Hauptrollen verkörperten verschiedene Schauspieler
Wohlgemerkt: Wenn zum Beispiel in Max Reinhardts Deutschem Theater zweimal in einer Woche der „Othello" gespielt wurde, konnte es sehr wohl sein, daß in einer Aufführung Albert Bassermann, in der nächsten, vielleicht drei Tage später, Paul Wegener die Hauptrolle verkörperten.
Und das alles war auf der Litfaßsäule zu lesen. Die Besetzung hinab bis zu den letzten Nebenrollen. Wie die Souffleuse, der Inspizient, der Regieassistent oder gar der zuständige Dramaturg hießen, war freilich nicht angegeben.
Solche wichtigen Enthüllungen sollten den siebziger Jahren, von wegen der Mitbestimmung am Theater, vorbehalten bleiben.
Maximal alle 4 Wochen ins Theater -bestimmte Vater
Am liebsten wäre ich jeden Abend ins Theater gegangen, aber mein Vater fand, alle drei bis vier Wochen seien schon reichlich. Und einen solchen Theaterbesuch empfand ich immer als ein Fest.
Dies war natürlich auch das Verdienst des Theatermannes Max Reinhardt, in dessen Deutsches Theater - wohl das beste der Welt, aber das wußte ich damals noch nicht - es mich unwiderstehlich zog.
Ich sah dort natürlich meist sogenannte Repertoirevorstellungen, das heißt mehr oder weniger abgespielte alte Karmellen - aber im Vergleich zu Würzburg oder Fürth oder Nürnberg dünkten sie mich, und waren es wohl auch, außerordentlich.
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„Der Kaufmann von Venedig"
Meine erste Vorstellung war „Der Kaufmann von Venedig" mit Albert Bassermann als Shylock und Else Heims, der Frau Reinhardts, als Portia. In einer verhältnismäßig kleinen Rolle als Lanzelot Gobbo sah ich auch, o Wonne, den von mir „entdeckten" Werner Krauss.
Ach, wie schwelgte ich, wenn die Drehbühne in Funktion trat, immer neue Aspekte Venedigs sichtbar machend. Das war etwas ganz Neues und, wie mir schien, Einmaliges. Das war Zauberei.
Und wie begeistert war ich erst, als ich ein paar Wochen später den „Sommernachtstraum" sehen durfte, im selben Haus, wieder auf der Drehbühne, auf der sich in dem wandelnden und sich verwandelnden Wald immer, in des Wortes wahrster Bedeutung, neue Wunder abspielten.
Mein Vater fand, sehr zu Recht, daß ein kleiner Junge nicht ins Parkett oder gar in eine Loge, wie in Würzburg, sondern auf den zweiten Rang gehörte; das Deutsche Theater besaß keinen dritten.
Meine Mutter pflegte mir, wenn ich fortging, den Rat mitzugeben: „Fall bloß nicht runter! Dann mußt du nachzahlen!**
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In der Oper Unter den Linden gab es einen vierten Rang.
Wir, die wir auf dem billigen zweiten Rang saßen, waren irgendwie eine Gemeinschaft, obwohl wir selten unsere Namen, geschweige denn nähere Umstände wie Adressen, Berufe kannten.
Und hier mußte ich länger „anstehen", wie man das nannte. Anstehen bedeutete, am Sonntag, dem ersten Vorverkaufstag, um fünf Uhr aufzustehen, mit der ersten Untergrundbahn oder Elektrischen in das Zentrum der Stadt zu fahren und sich dort der Reihe der Wartenden anzuschließen.
Wer so naiv war, erst bei Kasseneröffnung um zehn Uhr (vormittags) zu erscheinen, hatte kaum noch Aussicht auf einen passablen Platz in den billigen Platzkategorien, gleich welcher Vorstellung.
Die Gespräche, die damals zwischen uns, die einander bald kannten, auch wußten, daß der eine oder andere am letzten Sonntag nicht da gewesen war - und warum eigentlich nicht? -, die genau wußten, wer vor Jahren welche Rollen, wer vor Wochen in welchen Stücken aufgetreten war ...
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Und unsere Kritik! - Wir waren die schärfsten Kritiker
Die fiel meist härter aus als die der gefürchteten Kritiker der großen Blätter, deren Ausführungen wir natürlich fast auswendig kannten und die wir zum Teil höchst abschätzig beurteilten.
Die Zeit zwischen sechs und elf, bis wir endlich mit unseren Karten abzogen, manchmal enttäuscht auch ohne solche, verging wie im Flug.
Ich muß hinzufügen, daß wir (also meine Eltern) schon in Würzburg ein Grammophon besessen hatten. Mit Trichter. Man mußte es aufziehen, und man konnte sogar Caruso hören, aber wie bei allen anderen Sängern - es gab damals fast nur Gesangsplatten - immer nur mit Klavierbegleitung.
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Richard Strauss begann bereits "vor" der Vorstellung
In Berlin dirigierte zum Beispiel Richard Strauss, der schon den Taktstock hob, während der Zuschauerraum sich noch füllte und die Beleuchtung noch nicht erloschen war. Ein Umstand, der mich empörte - in Würzburg wäre so etwas nicht denkbar gewesen! Ihn, Richard Strauss, störte es aber nicht.
Ich hörte in Berlin den „Figaro", die „Carmen", die „Meistersinger". Und etwas später den „Rosenkavalier". Es sollte die Zeit kommen - da war ich etwa fünfzehn oder sechzehn -, als es mir undenkbar schien, auch nur eine einzige Vorstellung meiner Lieblingsopern auszulassen.
Es war für mich jedes Mal wie das erste Mal, nur viel schöner, weil ich ja wußte, wann die Stellen kamen, die ich besonders ins Herz geschlossen hatte und die mich immer wieder erregten und oft zu Tränen rührten.
Zwar auf dem vierten Rang, aber im siebenten Himmel
Ich war zwar auf dem vierten Rang, aber im siebenten Himmel. Immer, immer wieder. Wir hielten uns für etwas Besseres als diejenigen, die die besseren Plätze einnahmen. Ich glaube, wir hätten gar nicht unten sitzen wollen.
Es kam uns kaum zu Bewußtsein, daß wir gar nicht so gut sahen. Wir waren überzeugt, daß wir auf dem vierten Rang Stehplatz viel besser hörten als die unten, und das war vielleicht sogar richtig.
Hier, vom vierten Rang, oder vielmehr meist hinter und über ihm auf den Stehplätzen, sah und hörte ich also meine ersten großen Opern, sieht man von „Mignon" oder „Martha" oder dem „Trompeter von Säckingen" und dem „Barbier von Sevilla" in Würzburg ab, denn zu viel mehr hatte es dort selten gereicht.
Manchmal sah ich (in Würzburg) überhaupt nichts, aber wie mir die Habitues der Stehplätze, oft mit Partituren oder zumindest mit Klavierauszügen bewaffnet, versicherten, versäumte ich gar nichts, und ein sechster Sinn sagte mir, sie hätten wohl recht.
In der Tat, ich bin fest überzeugt, daß meine fanatische Liebe zur Oper, die über die nächsten dreißig oder vierzig Jahre anhielt, ihren Ursprung darin hat, daß ich so lange so wenig von dem sah, was sich auf der Bühne tat, besonders nichts von den schauspielerischen Künsten der Sänger und Sängerinnen.
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In die Schule mußte ich ja auch ....
Und die Schule? wird man fragen. Die spielte keine große Rolle, wenigstens nicht als Schule. Eher schon als eine Art Klub, in welchem man einander traf. Daß es so war, hatte viele Ursachen.
Nicht nur lernte ich unglaublich leicht, das sagte ich ja schon - auch die meisten Kameraden taten es. Das hatte sicher seinen Grund auch darin, daß mindestens die Hälfte jüdisch war - jüdische Kinder sind ja sehr frühreif. Einige Jahre später gleicht sich dann die Differenz an Auffassungsvermögen und Intelligenz schnell aus.
Infolgedessen gab es in der Schule auch keinen Antisemitismus - ob es in Berlin überhaupt einen gab, wußte ich natürlich nicht, und viele Jahre lang kam es mir nicht einmal in den Sinn, mir diese Frage zu stellen.
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Da war also mein Freund Ewald .....
Ich werde noch oft von ihm sprechen, und der Verlauf dieses Berichts wird zeigen, warum ich seinen Nachnamen verschweige. Ewald war mein Freund.
Undenkbar, daß wir, die in der Klasse nebeneinander saßen, mittags oder abends nicht zusammengewesen wären. Undenkbar, daß einer von uns ein Buch gelesen hätte und der andere nicht, daß wir nicht gemeinsam ins Theater oder in die Oper oder ins Konzert gegangen wären.
Übrigens war er begabter als ich, und zwar auf fast allen Gebieten, mit Ausnahme vielleicht des deutschen Aufsatzes, und sicher viel klüger. Später, als er beschloß, Arzt zu werden, überlegte ich mir ernsthaft, ob nicht auch ich diesen Beruf ergreifen sollte, für den ich nicht die geringste Begabung hatte - nur um in seiner Nähe zu bleiben.
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Nein, die Schule war nie ein Problem für mich.
Das Werner-Siemens-Realgymnasium in der Münchener Straße - heute steht es zwar noch immer, trägt aber einen anderen Namen - war die erste Schule in Berlin und wohl eine der ersten auf der Welt mit einer sogenannten Selbstverwaltung.
Wir wählten einen Klassenvorsitzenden, wir hatten einen Schülerrat mit Vorsitzenden- ich war das alles irgendwann einmal. Wir studierten Stücke ein, die wir in der Aula aufführten. Da war auch ich dabei, und einige Male spielte ich sogar Hauptrollen.
Mir ist noch in Erinnerung, daß ich, als ich allein einen sogenannten „schnellen Umzug" in der Turnhalle vornehmen mußte - ich war noch Quartaner -, von einem jüngeren, nicht unattraktiven Lehrer ein bißchen betätschelt wurde, was mir damals gar nichts besagte.
Übrigens glaube ich, er hätte auch bei seinen Kollegen kaum Mißtrauen erweckt - „so etwas" kannte man damals noch nicht oder wollte davon nichts wissen, es sei denn als Ausschreitung der alten Griechen, also etwas dem klassischen Altertum Zugehöriges. Dieser junge Lehrer fiel schon in den ersten Tagen des Weltkrieges.
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Theaterspielen war nicht meine Sache .......
..... oder, sagen wir, nicht meine starke Seite, erstaunlich genug bei meiner Begeisterung für Theater. Ich interessierte mich mehr für unsere Schülerzeitung, für die ich bereits in der Quarta meinen ersten Roman verfaßte - ich glaube, er hieß „Mutter! - Tagebuch eines Gefallenen" und versetzte zumindest meinen Vater in Lachkrämpfe. Später wurde ich übrigens Chefredakteur der „Werner-Siemens-Blätter".
Schülerzeitung und Schülertheater ..
Schülerzeitung und Schülertheater waren für uns viel wichtiger als die Schule selbst. Wenn ich beim Unterricht abwesend war, brauchten die Kameraden dem Lehrer nur mitzuteilen, ich sei in einer Redaktionskonferenz oder beim Drucker, und er gab sich zufrieden.
Übrigens schwänzten wir im allgemeinen nicht, es sei denn aus triftigen Gründen - der triftigste war wohl der Turnlehrer, ein ganz ekelhaft schneidiger Preuße, ein verhinderter Feldwebel, der uns, wie er es nannte, „zwiebelte".
Wer von uns über Eltern verfügte, die mit sich reden ließen, und einen entsprechenden Hausarzt, ließ sich eiligst dispensieren, immer aus „gesundheitlichen Gründen". Ich glaube, ich habe in den sieben Berliner Schuljahren keine hundert Turnstunden mitgemacht.
Ich gehörte nach Ansicht des Sadisten zu den „Dicken, Fetten, Faulen", die grinsend auf den Böcken saßen und sich unterhielten oder Schulaufgaben machten oder sie von anderen abschrieben, während die Turner schwitzten.
Dabei war ich damals weder faul noch fett. Vielleicht, wenn ich mich der Turnerei mehr gewidmet hätte, wäre ich auch später nicht dicker geworden.
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Mit 13 schrieb ich einen Brief an Max Reinhardt
Bei meinen täglichen Inspektionen der Litfaßsäulen fiel mir auf, daß der in Fürth von mir „entdeckte" Werner Krauss fast nur kleine und kleinste Rollen spielte. Das ging mich zwar nichts an, aber erboste mich über alle Maßen.
Und eines Tages, damals war ich wohl schon an die Dreizehn, schrieb ich einen Brief an Max Reinhardt, in dem ich ihm vorwarf, den größten deutschen Schauspieler - ich mußte es ja wissen! - nur in minderen Rollen zu beschäftigen. Und ich unterzeichnete diese Epistel mit Namen und Adresse.
Ich erhielt sehr schnell Antwort von einer Sekretärin, der Professor würde Herrn Steinam gern persönlich sprechen - am nächsten Donnerstag um zwölf Uhr, wenn es passe. Ich hätte um zehn natürlich in der Schule sein müssen, aber ich zog es vor, ins Deutsche Theater zu fahren, der Brief war wohl auch ein triftiger Grund zum Schwänzen.
Die Sekretärin grinste, als sie meldete, Herr Steinam, der ja bestellt sei, befinde sich im Vorzimmer.
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Max Reinhardt bekam einen Lachanfall
Und Reinhardt, als er den kleinen Jungen in den kurzen Hosen sah, begann zu lachen. Er wollte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Er wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Sie sind also dieser Herr . . .?", er sah noch einmal nach, „ . . .dieser Herr Steinam, der findet, daß ich Herrn Krauss nicht richtig beschäftige?"
„Das finde ich allerdings. Ich habe ihn als Franz Moor gesehen. Im Fürther Stadttheater!"
„Sieh da, in Fürth. Nun ja, also setzen Sie sich, Herr . . . oder darf ich noch du zu dir sagen?"
Großmütig erlaubte ich es ihm.
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Ich wollte doch gar nicht zum Theater, ich wolte ....
Im folgenden Gespräch wollte er alles über mich erfahren, ob auch ich zum Theater wolle, und schien geradezu erleichtert, als ich das verneinte.
Warum eigentlich nicht? Ich weiß heute meine Gründe nicht mehr. Die wurden mir alle erst später klar. Er wollte wissen, warum ich Krauss für einen so trefflichen Mimen hielte? Ich sagte ihm, weil, wenn er auf die Bühne käme, man nur noch ihn ansehen könne.
Ob das denn bei den anderen Schauspielern nicht auch der Fall sei?
„Ja, aber doch nicht in dem gleichen Maße."
Ob ich nicht glaube, daß das nicht gerade bei der Gestaltung kleiner Rollen ins Gewicht falle, die sonst möglicherweise niemand beachte?
Ich blieb hartnäckig. „Die können andere auch spielen!"
„Und die bekannten Schauspieler? Du hast sie doch sicher alle gesehen?"
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„Einige. Ich darf ja nicht immer."
„Sollen sie nun nicht mehr die großen Rollen bekommen? Sind sie nicht so gut wie Krauss?"
„Nein. Natürlich kann er nicht alle Rollen spielen."
„Nett, daß du das zugibst. Und glaubst du nicht, daß ich besser beurteilen kann als du, wer große und wer kleine Rollen spielen soll?"
„Sie haben Werner Krauss nicht als Franz Moor gesehen!" stellte ich unbeeinflußbar fest.
„Im Fürther Stadttheater, nein, leider. Aber", er sah auf die Uhr, „nun muß ich wirklich auf die Probe."
So ungefähr ist mir diese Unterhaltung in Erinnerung geblieben. Und dann kamen die Worte, die ich sicher nie vergessen werde:
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„Willst du mit?" - Und ob ich wollte.
Und ich wollte noch oft und durfte eigentlich immer. Es schien Reinhardt zu belustigen, ja vielleicht auch zu freuen, wenn ich kam und staunend miterlebte, wie eine Szene oder oft auch nur der Teil einer Szene entstand und immer, immer gleichsam aus dem Nichts: aus einer Theaterfigur ein Mensch.
Im Grunde genommen gab es zwei verschiedene Max Reinhardt.
Ich glaube nicht, daß irgend jemand, der heute noch lebt, seine Söhne vielleicht ausgenommen, ihn so kennengelernt hat wie ich.
Da war der seltene Reinhardt, der private Reinhardt, der leicht zum Lachen zu bringende Reinhardt, der sich nichts dabei vergab, mit einem kleinen Jungen ernsthaft zu sprechen.
Der andere Reinhardt, der mich und sicher viele andere an Napoleon erinnerte, war klein, er war gedrungen, er vermittelte sofort den Eindruck seiner Bedeutung. Ich weiß von vielen Proben, wie sich alles änderte, sobald er kam.
Er kam ja selten zu Beginn einer Probe, da wurde meistens von einem seiner Mitarbeiter das repetiert, was er am Tag vorher mit den Schauspielern erarbeitet hatte. Für Reinhardt selbst lag der Probenbeginn zu früh, um zehn Uhr schlief er noch, da er ja bis spät in die Nacht hinein zu arbeiten pflegte.
Aber so gegen zwölf öffnete sich eine Tür, und das nächste, was jeder spürte - die Schauspieler auf der Bühne, die wenigen Mitarbeiter im Zuschauerraum, die Beleuchter, die Techniker, alle, alle - war eine Wolke von Eau de Cologne. Durchaus kein Geheimnis, daß Reinhardt in Wasser badete, dem viel Eau de Cologne zugesetzt war. Er kam dann gewissermaßen blitzsauber, in weißem Hemd und dunklem Anzug in den Zuschauerraum.
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Und alles war wie verwandelt.
Alle hatten das Gefühl, was bisher vorgegangen war, sei nur Vorspiel gewesen, jetzt gehe es erst richtig los. Und genau so war es ja auch.
In dem Augenblick, in dem Reinhardt selbst die Zügel ergriff, war alles anders. Er hatte, wenn er wollte, einen geradezu unheimlichen Kontakt zu den Schauspielern, er hypnotisierte sie.
Ich muß immer an eine Geschichte denken, die sich viele Jahre später zutrug und die ich nur vom Hörensagen kenne, allerdings durch Leute, die durchaus verläßlich sind. Sie spielte in Wien, in dem von Reinhardt neu eröffneten Theater in der Josefstadt.
Irgendein belangloses Boulevardstück sollte herauskommen. Am Morgen der Premiere war die Generalprobe. Und auch die erste, die Reinhardt, der in diesem Fall nur Direktor war und nicht Regisseur, zu sehen bekam. Er saß schweigend im Zuschauerraum.
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„Hätten Sie Lust, noch ein wenig mit mir zu arbeiten?"
Als das Stück nach knapp zwei Stunden abgelaufen war, stand er auf und fragte die Schauspieler: „Hätten Sie Lust, noch ein wenig mit mir zu arbeiten?" Sie alle erklärten sich sofort bereit.
Zwischen, sagen wir zwei Uhr mittags und acht Uhr abends arbeitete Reinhardt mit den Schauspielern. Er machte aus der unbedeutenden Boulevardkomödie ein tolles Stück. Fünf Minuten vor acht kamen die Platzanweiser herein und erklärten, das Publikum warte bereits ungeduldig vor den Türen.
Reinhardt stand auf und erklärte, er habe dem auch gar nichts mehr hinzuzufügen, was in den letzten Stunden erarbeitet worden sei.
Am nächsten Tag war die junge Dame, die bis dahin nur in mittelmäßigen Boulevardstücken brilliert hatte, eine der großen deutschsprachigen Schauspielerinnen: Paula Wessely.
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