Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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Teil VI • DAS LEBEN GEHT WEITER
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(29) Ich stelle mich um
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12. Mai 1949 - Aus Paris kam : Sie sind fristlos entlassen ....
„Sie sind fristlos entlassen und verlieren jedes Anrecht auf Ihre Pension und auf andere Rechte, die unsere Angestellten besitzen." - Dies telegraphierte mir der „France-soir" am Tag nach dem Ende der Berliner Blockade.
Ich war erstaunt, aber nicht allzu erstaunt. Die französische Zeitung konnte mir mit Recht vorwerfen, daß ich das Ende der Blockade - eine Art Volksfest auf der Autobahn, die von Berlin über die Zone nach Helmstedt führt, auf dem gesungen und getanzt wurde - nicht ausführlich genug beschrieben, was andere Zeitungen in großer Aufmachung getan hatten.
Der Grund: Mangel an Zeit. Denn gerade in dieser Nacht, als Berlin wieder eine sozusagen „freie" Stadt wurde - ganz frei sollte Berlin ja nicht werden - brauchte mich Clay mehr als sonst.
Ich mußte, wieder einmal, in „Volksbefragung" machen. Das Resultat: Die West-Berliner waren entzückt, „gesiegt" zu haben, die Ost-Berliner waren übrigens auch froh, daß die Geschichte vorbei war, auch sie freuten sich wohl über die Schlappe der Russen. Und darum und um nicht weniger handelte es sich.
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Ich war ein bißchen traurig über die Kündigung aus Paris ....
.... , weil ich ja an Pierre Lazareff hing. Aber nur ein bißchen. Wie sich bald herausstellen sollte, änderten sich unsere persönlichen Beziehungen nicht im geringsten. Was den „France-soir" anging, so vermißte ich weder die Arbeit für ihn, noch die eher mittelmäßige Bezahlung.
Ich war auch ein wenig traurig, daß für die häufigen Besuche in Paris, der Stadt, an der ich so lange gehangen hatte, nun eigentlich kein Grund mehr war.
Aber so vieles war vorbei. Ein Schlußstrich war gezogen unter die ersten Nachkriegs jähre, die ja für die meisten in Deutschland, vor allem in Berlin, fast noch schlimmer gewesen waren als der Krieg, und auch in den anderen Ländern, Österreich, Frankreich, England, nicht viel erfreulicher.
Und nun wurde alles besser, und in Deutschland sehr schnell ....
...., und was später das „Wirtschaftswunder" genannt wurde, befand sich schon im Anmarsch. Vielleicht war es in Berlin am wenigsten und am spätesten spürbar. Die ja immerhin lebensbedrohende Blockade hatte bis ins Frühjahr 1949 gedauert.
Aber die Lage Berlins, inmitten der sowjetischen Zone, hatte sich nicht verändert, die prekäre Situation sollte sich auch späterhin nicht grundlegend ändern.
In Berlin war man so damit beschäftigt, über den „Sieg" - den Abbruch der Blockade durch die Russen - zu jubeln, daß dies vorerst gar nicht beachtet wurde.
Ich spürte allerdings, daß etwas für mich anders geworden war, als, wenige Tage nach dem Ende der Blockade, Clay und Murphy - ich glaube, die Reihenfolge war umgekehrt - mich wissen ließen, daß sie in die USA zurückkehren würden.
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Wachablösung
Reuter sagte zu mir: „Es wird ohne die beiden nicht leichter sein!" Er hatte sozusagen Schulter an Schulter mit Clay gekämpft, gegen den er übrigens gewisse Vorbehalte hatte. Auch Clay mochte Reuter nicht besonders.
Jetzt sah also Reuter die unendlichen Schwierigkeiten Berlins voraus, die kleineren und die größeren Schikanen, denen die Stadt während der nächsten Jahre und lange über seinen plötzlichen und viel zu frühen Tod hinaus ausgesetzt sein würde. Er sagte mir auch, daß man die Bevölkerung einer Stadt nicht in ständiger Begeisterung und dumpfer Entschlossenheit halten könne und daß der unpathetische Alltag viele Fragen aufwerfen würde, die man in der Euphorie, „Frontstadt" zu sein, nicht hatte erkennen können und wollen.
Ich fuhr oder flog nun öfter von Berlin fort, ich war für die Nachfolger von Clay und Murphy - heute weiß ich kaum noch, wie sie hießen - kein Freund, nicht einmal ein alter Kamerad, sondern eben einer von vielen „Angestellten".
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Damals traf ich in Zürich Bert Brecht nebst Familie wieder.
Die Brechts hatten die Vereinigten Staaten sehr schnell, nein, hastig verlassen. Schuld daran waren die Verhöre in Washington, veranlaßt direkt oder indirekt durch den Senator McCarthy, nicht nur Kommunistenfresser, sondern auch ein Gegner der Liberalen.
Brecht hatte so ein Verhör überstanden, hauptsächlich deswegen, weil er unter Eid erklärte, daß er nicht Mitglied der kommunistischen Partei sei - das war er wirklich nicht und sollte es auch später nie werden.
Zu mir sagte er über das Verhör: „Idiotisch, solche Frage an mich zu stellen! Wenn die Leute nur ein Stück von mir gesehen hätten, wären sie über mich im Bilde gewesen!"
Er inszenierte am Zürcher Schauspielhaus die Uraufführung von „Puntila und sein Knecht", das heißt nicht offiziell, denn er hatte natürlich keine Arbeitserlaubnis.
Kurt Hirschfeld, der stellvertretende Direktor und Dramaturg, lieh seinen Namen.
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Aber Brecht wollte nicht in der Schweiz bleiben ....
..... - er wollte nach Deutschland zurück, wohin er ja auch gehörte.
Ich tat alles, um ihm dabei zu helfen. Wir standen uns damals sehr nah. Etwa 1943 oder 1944 hatte er mir - er konnte sich ja ausrechnen, daß ich früher in Deutschland und Österreich sein würde als er - einen Brief geschrieben - ich besitze ihn noch -, in dem er mir Vollmacht erteilte, jede Aufführung eines seiner Werke - nach dem Krieg, versteht sich - zu verbieten.
„Ich will dort nicht aufgeführt werden!" erklärte er. „Sie würden ja doch alles falsch machen!" Er protestierte sogar - telegraphisch - gegen eine Aufführung von „Mutter Courage" bald nach Kriegsende in Zürich. Ich unterschlug diesen Protest, und ich machte auch von dem Brief nie Gebrauch.
Vergebens meine Bemühungen, ihm eine Einreisegenehmigung nach Deutschland zu verschaffen. Die amerikanischen Kultusoffiziere sträubten sich. Er fuhr oder flog also nach Prag und von dort nach Ost-Berlin.
Dort war man bereit, „alles" für ihn zu tun. Aber Ost-Berlin oder besser die okkupierenden Russen behagten ihm nicht. „Warum gehen sie nicht in die UdSSR zurück!" fauchte er die Russen an.
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Bert Brecht wäre liebend gern nach West-Berlin gekommen.
Selbstverständliche Bedingung, daß man ihm ein Theater gab oder doch die Möglichkeit, irgendwo in West-Berlin Theater zu machen.
Ich arrangierte ein Treffen zwischen ihm und unseren Kulturoffizieren. Sie fragten ihn, ob er Kommunist sei. Er warf mir einen ironischen Blick zu. Eine Antwort gab er nicht. Die Fragesteller erteilten sie sich selbst. Sie erklärten, er sei Kommunist und könne daher in West-Berlin kein Theater machen.
Ich protestierte: „Brecht ist der heute vermutlich bedeutendste deutsche Dramatiker. Welch ein Triumph für uns, wenn er statt im Osten hier im Westen wirken würde!"
Nichts half. Brecht ging, und ich mit ihm. „Das hätte ich Ihnen gleich sagen können!*' meinte er lakonisch.
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Natürlich steckten wir längst im sogenannten kalten Krieg.
Der war übrigens, was heute nur wenige wissen oder wissen wollen, nicht vom Westen, sondern von den Russen begonnen worden, und schon lange vor der Blockade, die eine Art Höhepunkt des kalten Krieges war.
Der machte es nun immer schwieriger für mich und viele aus dem Westen, Freundschaft mit denen im Osten zu halten. Auch mein Verhältnis zu Brecht - oder seines zu mir - litt.
Er kam noch gelegentlich zu mir zum Abendessen - er verschmähte weder den amerikanischen Jeep, der ihn holte und zurückbrachte, noch die amerikanischen Rationen, aus denen die Mahlzeiten zubereitet waren.
Am letzten dieser Abende sagte ich zu Brecht: „Mein Artikel vor einer Woche soll auch im Osten Aufsehen erregt haben. Ein Bekannter hat mich wissen lassen, ich solle mich nicht wundern, wenn die Russen mich schnappen und aufhängen würden. Lächerlich, nicht wahr?"
Und Brecht: „Da hätten die Russen vollkommen recht!"
Mir verschlug es die Rede.
Und Brecht: „Dieser Kalbsbraten ist vorzüglich. Kann ich noch ein Stück haben?"
Dies waren ungefähr die letzten Worte von Brecht an mich.
Ich habe ihn nie wieder gesehen.
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Auch eine andere meiner Freundschaften zerschellte am kalten Krieg.
Die mit der Schauspielerin Therese Giehse. Ich hatte sie in München flüchtig, in New York gut kennengelernt, und natürlich war ich oft mit ihr in Zürich zusammen, sie spielte ja am dortigen Schauspielhaus. Später, als Brecht schon in Ost-Berlin inszenierte, fuhr sie zu ihm. Ihr gutes Recht, um so mehr, als sie ihm ja politisch wie künstlerisch sehr nahestand.
Und dann hörte ich - von Amts wegen -, daß ein West-Berliner Theater sie spielen lassen wollte. Um diese Zeit war gerade ein Vorhangzieher, der am West-Berliner Schloßparktheater arbeitete, aber in Ost-Berlin wohnte, verhaftet worden - eben weil er „für den Westen" arbeitete.
Ich protestierte nun gegen das Engagement der Giehse an ein West-Berliner Theater. Gewiß, sie war nominell Engländerin, obwohl sie mit ihrem Mann nie eine Stunde zusammengelebt hatte, aber wenn ein kleiner Vorhangzieher dran glauben mußte, dürfte für die - natürlich viel bedeutendere - Giehse keine Ausnahme gemacht werden.
Das West-Berliner Engagement zerschlug sich. Auch Zürich ließ ihr mitteilen, sie müsse sich zwischen dem Osten und dem Westen entscheiden. Sie entschied sich für den Westen, für Zürich und für die Münchner Kammerspiele, sie spielte nie wieder bei Brecht, und mit mir sprach sie kein Wort mehr.
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Ich kam jetzt oft nach München zur Illustrierten "Quick"
Die damals größte deutsche Illustrierte, die „Quick", holte mich als Verfasser von etwas damals ganz Neuem - für Serien. Ich wurde Serienspezialist und bin es jahrelang geblieben.
Und dann wurde ich gut bekannt mit dem Mitinhaber des Blattes, dem ehemaligen Journalisten Dietrich Kenneweg, von uns allen Pitt genannt, einem außerordentlich aufgeschlossenen Mann, einem echten Europäer.
Bald wurde er nicht nur mein Bekannter, sondern mein Freund; wobei, wie bei Pierre Lazareff, das Berufliche keine große Rolle mehr spielte.
Wir trafen uns nicht nur in München, sondern auch in Paris und in London, und noch lange, nachdem er das Blatt verkauft hatte, hielten wir Kontakt.
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Hans Habe hatte mit Frankreich gegen die Nazis gekämpft
Und dann freundete ich mich mit Hans Habe an, den ich flüchtig aus den USA kannte. Ursprünglich aus Österreich stammend, hatte er die ersten Hitler-Jahre als Korrespondent eines Wiener Blattes beim Völkerbund verbracht, war dann von Genf nach Frankreich gegangen und hatte in der französischen Armee gegen die Nazis gekämpft.
Hans Habe war gefangengenommen worden .... und auf spektakuläre Weise entkommen, hatte sich in die USA durchgeschlagen, war dort wieder Soldat und schließlich Offizier geworden.
Als wir Deutschland besetzten, hatte er in jeder Stadt, in die wir kamen, anstelle der - automatisch - verbotenen Nazi-Organe Zeitungen eingerichtet, die den Einwohnern das Wichtigste mitteilten. Und in München eine ausgewachsene Zeitung - die „Neue Zeitung". Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die „Neue Zeitung" bald zu den besten Zeitungen Europas gehörte.
Gewiß, es standen Habe zahlreiche Journalisten zur Verfügung, die in den Hitler-Jahren verboten gewesen waren, das heißt, nicht hatten schreiben wollen oder dürfen.
Aber sie in einem zerrissenen Deutschland zu finden, in dem niemand wußte, wer wo lebte, geschweige denn wie er nach München zu verfrachten war, und mit allen ein homogenes Blatt zu machen, das nicht den Geruch eines „Siegerorgans" hatte, obwohl die „Neue Zeitung" ja schließlich nichts anderes war als das, muß als journalistische Leistung von hohem Rang gelten.
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Und Habe sah vorzüglich aus ....
....., man wußte, daß er schon etliche Male verheiratet gewesen war, man behauptete, er habe zahllose Frauengeschichten, was etwas übertrieben war; zahlreich wäre wohl das richtigere Wort. Er war nicht besonders beliebt.
Warum eigentlich? Ich habe das auch später nie herausbekommen. Denn seine Leistung stand ja außer Frage. Auch war er immer liebenswürdig und konnte nur gelegentlich, wenn es sich um Fachliches handelte, hart werden. Neid? Ärger darüber, daß ein Ausländer die beste deutsche Zeitung machte? Schwer zu sagen.
Übrigens blieb Hans Habe nicht lange bei der „Neuen Zeitung". Als Soldat mußte er ja, im Unterschied zu mir, früher oder später in die USA zurück. Aber er erschien bald wieder in München, diesmal als Zivilist, und machte, mit Hilfe des gescheiten Verlegers Werner Friedmann, im Verlag der Süddeutschen Zeitung die „Münchner Illustrierte", ein interessantes Blatt, eine starke Konkurrenz für die anderen Illustrierten, von denen es in jener Zeit ungefähr ein Dutzend gab.
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Jetzt wurde er persönlich stark angefeindet .....
Der Chefredakteur eines Konkurrenzblattes verstieg sich sogar zu der Behauptung, er stamme aus Czernowitz, womit gar nicht so diskret angedeutet werden sollte, er sei Jude.
Waren wir schon wieder soweit? War das schon wieder so wichtig?
Es war doppelt bedauerlich, daß diese bösartige Ungerechtigkeit gerade Hans Habe traf. Denn er war ein Champion der Gerechtigkeit. Ich sollte das erfahren.
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In diese Zeit nämlich fiel der Bruch mit Käthe Dorsch.
Als Käthe Dorsch mich wegen Unterschlagung verklagte, brachte die ganze deutsche Presse dies als „Sensation". Als sie dann aber die Klage zurückzog, brachte es niemand - mit Ausnahme von Hans Habe, der in wenigen Zeilen darauf hinwies, wie absurd die ganze Angelegenheit gewesen sei - ich als Unterschlager von Wertsachen, der, was kein Geheimnis war, die Dorsch längere Zeit ernährt hatte.
Hans Habe mußte schließlich nach Einstellung seines Blattes - zum zweiten Mal - München verlassen und nach Amerika zurück, wo es ihm vorübergehend ziemlich schlecht ging.
Nicht für lange. Dann war er wieder in Deutschland, diesmal als Autor, zuerst für Illustrierte - mein Konkurrent sozusagen -, später schrieb er auch erfolgreiche, und mit Recht erfolgreiche, literarisch wertvolle Romane.
Der erneute Erfolg war um so erstaunlicher .....
...., als nach wie vor ein großer Teil der Presse ihn fast unterbrechungslos angriff; aber er konnte eben zu viel, als daß die Attacken ihm auf die Dauer hätten schaden können.
Diejenigen, die ihn angriffen, bedienten sich einer Autobiographie, die er geschrieben hatte und die er mutig „Ich stelle mich" nannte. Darin ging er sehr schonungslos mit sich selbst um und gestand, was außer ihm um diese Zeit sicher niemand mehr wußte, daß er in seiner Jugend gewisse Sünden begangen hatte. Anstatt anzuerkennen, daß er so offenherzig war, griffen seine Gegner nun diese ihn belastenden Feststellungen heraus - so, als hätten sie das alles selbst herausgebracht. Das war, um es milde zu sagen, nicht fair.
Was mich immer interessiert hat: Habes Romane aus jener Zeit, also etwa 1950 und die folgenden Jahre, waren schmissig, angenehm zu lesen, hatten aber nichts mit Literatur zu tun.
Und dann schrieb er Bücher, die hatten mit Literatur zu tun. Ich fragte mich oft, wie dieser Wandel zu erklären sei. Und ich glaube, ich weiß es heute. Er mußte in seinem Leben, namentlich nach dem Krieg, viele bittere Erfahrungen machen.
Ich will gar nicht von den Scheidungen sprechen, aber zum Beispiel davon, daß sein Sohn, den er mit der reichen Amerikanerin hatte, sich ihm völlig entfremdete.
Oder daß die Tochter, die einer späteren Ehe entstammte, ein bildhübsches Mädchen, eines Nachts in Hollywood oder einem der umliegenden Villenorte einem Lustmord zum Opfer fiel.
Oder daß seine Eltern, die aus der amerikanischen Emigration nach Ungarn zurückgekehrt waren, sich eines Nachts beide das Leben nahmen.
Es ist vielleicht billig, zu sagen, daß diese schlimmen Geschehnisse - und es kamen andere hinzu - Hans Habe läuterten. Aber gibt es ein anderes Wort dafür? Ich wüßte keines.
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Zurück zu Gustaf Gründgens in Düsseldorf
Ein anderer, der in jenen Zeiten eine immer entscheidendere Rolle in meinem Leben spielte, war Gustaf Gründgens. Er hatte die Düsseldorfer Theater zu den besten Deutschlands gemacht, daran bestand gar kein Zweifel.
Er war vermutlich der beste Theaterdirektor, den Deutschland je gehabt hat, ein vorzüglicher Regisseur und ein guter Schauspieler - in dieser Reihenfolge.
Seine Schauspielerei machte ihm mehr Sorgen als die anderen Ämter. Er wurde ja auch nicht jünger. Ich erinnere mich, daß er mich eines Nachts anrief- er pflegte immer mitten in der Nacht anzurufen -, um mir mitzuteilen: „Ich soll den Wallenstein spielen! Was sagst du dazu?"
Er meinte natürlich, er sei vielleicht zu jung für diese Rolle und ich würde ihm aus diesem Grund abraten. Er hatte ja kurz zuvor erst den Hamlet gespielt.
Ich aber antwortete: „Ich finde, das ist eine großartige Idee!" Er war eher enttäuscht. „Wenn du meinst ... ?"
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Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg
Später übernahm er die Leitung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Das ging ganz lustig vor sich.
Der zuständige Hamburger Senator war nach Düsseldorf gereist und hatte Gustaf Gründgens, offenbar in seinen Augen der bedeutendste Theatermann, gefragt, wen er als Nachfolger für seinen ausscheidenden Theaterdirektor empfehlen könne. Und Gustaf Gründgens: „Haben Sie schon mal an mich gedacht?"
Der Senator hatte nicht, aber nun dachte er an keinen anderen mehr. Was Gründgens zuerst in Düsseldorf und dann in Hamburg auf die Beine stellte, war außerordentlich. Und es wäre auch unter weniger schwierigen Bedingungen außerordentlich gewesen.
Natürlich gab es bei ihm gelegentlich Fehlbesetzungen oder mißlungene Aufführungen, aber sie gehörten eher zu den Seltenheiten. Er hatte einen untrüglichen Sinn für Niveau. Er ließ nichts durchgehen, was er nicht in Ordnung fand. Ich habe ihn mindestens auf zehn Hauptproben, vielleicht auch öfter, nachdem die von einem anderen inszenierte Aufführung abgerollt war, aufstehen sehen und sagen hören: „In meinem Theater nicht!"
Und dann? Verschiebung der Premiere, Umbesetzungen, neue Proben, manchmal auch unter seiner Leitung. Und das alles, während er auch noch, um katastrophale Kassen zu vermeiden, oder gar die Schließung des Theaters, fünfmal hintereinander in einer bereits erprobten, das heißt oft gespielten Rolle einspringen mußte, was erfahrungsgemäß immer ausverkaufte Häuser brachte - und ihm selbst Anfälle von Migräne.
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Wie ich zu so vielen seiner Proben kam?
Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich noch viel mehr Proben gesehen. Ich und natürlich auch andere Vertraute. Er ließ sich gern bei der Arbeit zusehen. Er ließ sich auch gern kritisieren oder irgend etwas in Frage stellen, was er gemacht hatte.
Kritik war ihm wichtig, vor allem wenn sie von Außenseitern kam, wie zum Beispiel von mir. Nicht etwa, daß er alles akzeptierte, was man so vorschlug. Manchmal wurde man sogar für seinen Freimut beschimpft.
Nachdem man aufgefordert war zu sagen, wie einem etwas gefiel, und man sagte, es gefiele einem aus diesem oder jenem Grunde nicht, konnte man zu hören bekommen: „Du verstehst eben nichts von Theater!"
Aber immer war dabei ein Zwinkern im Auge, so etwa: Du weißt ja, wie es gemeint ist!
Gustaf Gründgens - ein außergewöhnlicher Mensch
Er war eben - und das habe ich später ausführlich in meinem Buch über ihn berichtet, in vieler Beziehung ein außergewöhnlicher Mensch. Er übte, wie gesagt, drei Berufe gleichzeitig aus.
Und hatte noch ein ungewöhnliches, von ihm ständig geübtes Talent: das eines Menschenfressers. Am liebsten hätte er einen Tag und Nacht um sich gehabt. Das galt natürlich nur für einige Wenige. Aber für die in einem kaum vorstellbaren Umfang.
Wie oft läutete - wie gesagt - mitten in der Nacht das Telephon. Gründgens aus Düsseldorf oder Hamburg. Es lag gar nichts Besonderes vor. Er wollte sich nur ein wenig unterhalten. Diese Unterhaltungen dehnten sich dann auf eine halbe Stunde aus.
Wenn ihn etwas beschäftigte oder bedrückte, etwa die Krankheit oder der Tod eines Menschen, der ihm nahestand, waren Gespräche von zwei Stunden - und immer des Nachts - etwas Selbstverständliches.
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Gustaf Gründgens Tod auf Manila
Über seinen Tod auf Manila, während einer Weltreise, wurde viel gemunkelt. Man sprach von Selbstmord. Unsinn! Er hatte sich lange auf diese Reise gefreut. Er sah - wie er mir immer wieder versicherte - nach seinem Rücktritt vom Hamburger Intendantenposten mit Freude einem entspannten, nicht mehr so arbeitsreichen Leben entgegen.
Der Tod war also keineswegs freiwillig, sondern die Folge eines Risses der Magenwand und dieser die Folge einer seit Jahren fortschreitenden Entkalkung des Körpers. In Hamburg, in irgendeiner größeren Stadt wäre der Magenriß schnell erkannt, innerhalb von Stunden durch eine Operation beseitigt worden.
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In Manila hingegen ......
Es kam noch hinzu, daß Gustaf Gründgens seit Jahren gegen die ihn quälende Migräne schmerzlindernde Pillen nahm. Kein Rauschgift, wie oft behauptet wurde, aber eben betäubende Medikamente.
Und so hatte der Riß in der Magenwand für ihn nicht die „normalen", sehr starken Schmerzen zur Folge, sondern nur ein relativ mildes Unwohlsein. Ohne diese Mittel wäre er vielleicht auch in Manila genauer untersucht und rechtzeitig operiert worden.
Mein Buch über ihn war seit Jahren geplant und aus Gründen, die hier nichts zur Sache tun, immer wieder verschoben worden.
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Eines Morgens rief mich der Verleger Axel Springer an
Er bitte mich, den Nachruf zu schreiben. Den Nachruf? Für wen denn? Auf diese Weise erfuhr ich von dem Tod meines guten Freundes.
Und zwei Tage später traf eine Luftpostkarte aus dem Fernen Osten bei mir ein. Seine Handschrift. Nur ein paar Worte. „Es ist Zeit, daß du mit dem Buch über mich beginnst."
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Meine Verbindung zum „France-soir" war ja gelöst worden.
Das übrigens nicht nur, wie sich allerdings erst später herausstellte, wegen meiner wenig professionellen Handhabung der Story über das Ende der Berliner Blockade. Berlin war ja nun auch nicht mehr so interessant. Bonn begann interessant zu werden. Und von Paris kam die Anfrage, ob ich vielleicht dorthin übersiedeln wolle. Aber das wollte ich nicht.
Es gab auch noch andere Ursachen dafür, daß mir Paris verleidet war. Zum Beispiel die Geschichte mit Marlene Dietrich. Ich hatte für „Quick" eine lange Serie über sie geschrieben. „France-soir" wollte sie auf französisch bringen. Gut. Aber man brachte sie in der Ich-Form. So, als hätte Marlene Dietrich selbst die Artikel geschrieben. Eine uralte Sitte des französischen Journalismus, aber eben eine Unsitte.
Marlene war verärgert. Ich glaube, sie wollte damals selbst ihre Memoiren schreiben. Jedenfalls verklagte sie den „France-soir" und auch mich. Die Klage gegen mich wurde bald zurückgenommen - ich war ja erwiesenermaßen unschuldig.
„France-soir" mußte zahlen. Dort ärgerte man sich, begreiflicherweise, aber auch über mich, und das war eigentlich weniger begreiflich.
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Edgar sah ich natürlich immer, wenn ich nach Paris kam.
Er hatte die Zeitung „Paris-Presse" verlassen und war Sekretär einer internationalen Vereinigung zur Wahrung der Interessen der Kriegsversehrten geworden. Wozu er prädestiniert war, da er drei Sprachen fließend sprach.
Obwohl wir uns nur in großen Zeitabständen trafen, war es stets so, als hätten wir gestern das letzte Mal miteinander gesprochen. Das hatte wohl mit unserem gemeinsamen Emigrantenschicksal zu tun. Denn was die Emigration, nein, eben unser Schicksal war, über die Hider-Zeit hinaus, hatte ich letzten Endes längst begriffen: Heimatlosigkeit.
Natürlich hätte ich mich irgendwo für immer niederlassen können. Berlin wäre wohl der logische Ort gewesen. Aber irgend etwas hinderte mich daran. Es war, als wollte ich mich nicht - oder noch nicht - binden.
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Wie zeigt sich "Heimatlosigkeit" ?
Ich hielt es - um diese Zeit - selten mehr als zwei oder drei Wochen an einem Ort aus. Ich tauchte in Rom auf, ich weiß selbst nicht mehr, warum. Francesco Waldner, ein bekannter und sehr fähiger Astrologe sagte zu mir: „Heute morgen wird Sinclair Lewis eingeäschert. Kommen Sie mit?"
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Erinnerungen :Sinclair Lewis. Berlin, Romanisches Cafe.
Sinclair Lewis. Berlin, Romanisches Cafe. New York. Dorothy Thompson. Der Astrologe erzählte mir, daß Lewis, vor zwanzig oder dreißig Jahren Nobel-Preisträger und einer der berühmtesten Schriftsteller der Welt, völlig vergessen und untätig in Rom gelebt hatte, mit einem Sekretär, der ihn „ausnützte". Genaueres wußte er nicht, wußte anscheinend niemand.
Ich fuhr also zur Einäscherung. Sie fand weit draußen an der Stadtgrenze in einer Art Fabrikshalle statt. Der Astrologe erklärte mir: „Rom ist katholisch. Also ist Einäschern eigentlich ungesetzlich oder doch zumindest unerwünscht. Daher gibt es auch kein Krematorium - oder jedenfalls kein angemessenes."
Die Feier war denkbar kurz. Es sprach kein Vertreter eines Schriftstellerverbandes, es sprach überhaupt niemand. Ich möchte sagen, trockener ging es nicht mehr.
Als die sogenannte Feier schon vorbei war, eilte ein junger Mann auf die Leiche zu und zerrte ihr etwas von einem Finger. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um einen Beamten der amerikanischen Botschaft. Er nahm einen Ring an sich. „Die Familie hätte sonst sicher reklamiert!"
Die Familie? Gab es die? Es gab irgendwo einen Sohn Michael, den ich als Knaben gekannt hatte, der inzwischen ein mißglückter Schauspieler geworden war. Dorothy Thompson war von Sinclair Lewis sicher seit den späten dreißiger Jahren geschieden.
Ich erzählte ihr von dieser Römischen Episode, als ich sie wiedersah - ich glaube, es war in Madrid. Sie schien nicht interessiert. „Es ist so lange her ..."
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In Wien traf ich oft Willi Forst und seine Frau Melly
Er hatte den Krieg überlebt, er hatte nachher keine Schwierigkeiten gehabt, denn jeder wußte, daß er ein leidenschaftlicher Hitler-Gegner gewesen war.
Er hatte sich 1933 oder 1934, sehr früh also, von Berlin nach Wien abgesetzt, um dem ganzen Nazi-Rummel in Berlin zu entgehen. Und er hatte in den letzten Kriegsjahren fast nur noch Wiener Filme „aus der guten, alten Zeit" gedreht, die beim besten Willen nicht politisch umzufunktionieren waren.
Einen hatte er gerade bei Kriegsende fertiggestellt; er spielte, natürlich, in Wien, so in der k. u. k. Zeit, und hieß „Wiener Mädeln". Leider besaß Forst nur etwa die Hälfte des Negativs, die andere Hälfte war in Prag in der Hand der Russen.
Es begann nun ein sich jahrelang hinziehendes Feilschen und Verhandeln. Denn die Russen betrachteten das Negativ als Kriegsbeute und wollten, daß Willi Forst den Film für sie fertigstelle.
Er aber wollte ihn für sich herausbringen. Die Russen versuchten den Film allein zu machen, was mißlang, denn sie kannten nicht einmal das Drehbuch. Willi Forst konnte den Film allein auch nicht herausbringen, obwohl er alle technischen Fachleute heranzog, um aus der einen Kopie andere zu ziehen. Er fuhr zu diesem Zweck nach Berlin, Paris, Zürich. Es ging aber nicht ohne das Negativ.
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Willi Forst war verbissen in diesen Film
Vergebens mein Rat, ja mein Flehen, doch Vergangenes vergangen sein zu lassen und etwas Neues zu machen. Denn in der Zwischenzeit bekam er, der beliebte, versierte Filmmacher, der mehr Grazie, Geschick und Liebenswürdigkeit besaß als andere Filmmacher und vor allem unbelastet war, zahllose Angebote.
Aber er lehnte alle ab, denn er war auf seine „Wiener Mädeln" versessen. Schließlich einigte er sich mit den Russen, der Film wurde fertiggestellt, die Russen erhielten die Hälfte der Einnahmen, die andere Hälfte Willi Forst.
Und nun zeigte sich: es war zu spät für diesen Film. Was im Krieg oder unmittelbar danach als leichte Unterhaltungsware nur zu willkommen gewesen wäre, wirkte jetzt überholt und läppisch.
Schlimmer: Die Zeit hatte nicht nur den Film, sondern auch Willi Forst überholt. Als er schließlich seinen ersten Nachkriegsfilm machte, spürten wir es alle.
Der hieß „Die Sünderin" und wurde nur ein begrenzter Erfolg; und das nur, weil - man bedenke! - die blutjunge Hilde Knef aus fünfzig Meter Entfernung zu sehen war, wie sie nackt aus einem Weiher stieg.
Das war damals gewagt.
Aber darüber wäre man zur Tagesordnung übergegangen, hätten nicht einige katholische Geistliche von der Kanzel herab den Film verdammt.
Das wirkte sich bumerangartig als Propaganda aus. Nun wollte jeder den Film sehen, und er lief wochenlang in allen Städten Deutschlands und Österreichs.
Aber alle folgenden Forst-Filme, es waren nicht mehr viele, wurden Durchfälle.
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Forst brachte mich zu Curd Jürgens und zu Heidemarie Hatheyer
Durch Forst hatte ich den in „Wiener Mädeln" mitwirkenden, mir noch unbekannten jungen Schauspieler Curd Jürgens kennengelernt. Ein reizender Kerl, der nicht nur bezaubernd aussah, sondern auch sehr klug war. Man konnte sich über alles mit ihm unterhalten.
Und durch ihn lernte ich, an einem Abend in München, auf der Reise nach Rom begriffen, von wo es weiter nach Tel Aviv ging, also wirklich zwischen Tür und Angel, Heidemarie Hatheyer kennen.
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