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Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977

Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.

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(15) Roosevelt, das FBI und Josephine Baker

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Eines Tages stand ich vor Franklin D. Roosevelt.

Er musterte mich - wie es schien, interessiert - und sagte: „Ah, sieh da, Sie kommen aus Paris!"

Am frühen Morgen war ich von New York nach Washington gefahren. Man konnte schon fliegen, aber ich fuhr meistens. Ich hatte etwas im State Department zu tun, irgendeine Anfrage aus Paris, die zu beantworten war; ich habe keine Ahnung mehr, worum es sich handelte.

Das State Department war noch das alte, viel kleinere, das wohl heute noch steht, in dem aber irgendwelche Archive untergebracht sind, wenn ich nicht irre. Meine Angelegenheit dauerte vielleicht zwei Stunden, und ich wollte mich gerade verabschieden, um den nächsten Zug nach New York zurück zu nehmen, als der betreffende Beamte, ein Pressereferent, mich aufhielt: „In zehn Minuten beginnt die Pressekonferenz!"
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Eine "Pressekonferenz" des Außenministers, natürlich.

Ich hatte Mr. Cordell Hüll nichts zu fragen, aber der Beamte insistierte. Ich blieb also und wurde von ihm in das angrenzende Zimmer geführt. Und begriff sofort, warum er so dringend gewesen war. Die Pressekonferenz - das war ich.

Will sagen, ich war der einzige, der dem eintretenden Mr. Hüll, einem sehr distinguierten, weißhaarigen Gentleman aus dem Süden, gegenüberstand. Er tat so, als habe er es mit einem ganzen Pressekorps zu tun, hielt eine kurze Ansprache über die augenblickliche außenpolitische Lage und fragte dann:

„Any question, gentlemen ?" Er sagte „gentlemen", also „meine Herren". Ich habe es heute noch im Ohr.

Ich erfand das eine oder andere. Wir kamen ins Gespräch. Nicht lange, drei oder vier Minuten. Dann verabschiedete er sich. Der Pressereferent drückte mir die Hand. „Sie haben mir einen großen Gefallen getan."

Es wäre in der Tat peinlich für ihn gewesen, wenn überhaupt niemand dem Außenminister der Vereinigten Staaten gegenübergestanden hätte.
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Das kam wohl gelegentlich vor, noch war Washington fast ein Dorf.

„Und nun werde ich Ihnen einen Gefallen tun", sagte der Pressereferent und nahm mich zu einer anderen Pressekonferenz mit, die eine Viertelstunde später im benachbarten Weißen Haus stattfand. Auch sie war nicht gerade überwältigend besucht.

Aber Präsident Roosevelt, der schon hinter seinem Schreibtisch saß, als wir, etwa fünfzehn oder zwanzig Journalisten, hereingelassen wurden, hatte nichts anderes erwartet.

Übrigens kannte er jeden seiner Besucher mit Namen, und sein Blick blieb auf mir, dem Neuling, fragend haften. Der Pressereferent des Außenministeriums stellte mich dem Präsidenten vor.
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„Ah, sieh da, Sie kommen aus Paris!" sagte er also.

„Eigentlich aus Berlin!"
Das interessierte ihn. Und dann kam er zur Sache. Er gab einige Erklärungen ab und bat um Fragen. Es fiel überhaupt nicht weiter auf, daß er die Anwesenden mit ihren Vornamen anredete, aber als er das auch bei mir tat, war ich perplex.

„Keine Fragen, Curt?"
„Nicht im Augenblick, Mr. President!"
„Man wird Sie also öfter hier sehen?"

Als auch ich gehen wollte, winkte er mich zurück:
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„Kommen Sie wirklich mal wieder, junger Mann."

Ich glaubte keinen Augenblick, daß er es wirklich ernst meinte, und es vergingen viele Monate, bis ich wieder im Weißen Haus auftauchte. F. D. R. erinnerte sich sofort.

„Wo haben Sie denn so lange gesteckt?" Ich war begreiflicherweise nicht nur erstaunt, sondern geradezu erschüttert. Daß ein so bedeutender Mann mit so viel Arbeit ein so gutes Gedächtnis hatte - ich war doch schließlich nur einer unter vielen Korrespondenten und wohl nicht halb so wichtig wie die von der „New York Times", der „Herald Tribüne" oder der anderen großen amerikanischen, kanadischen und englischen Blätter oder Nachrichtendienste.

Aber - und das kann ich nicht oft genug betonen - damals war alles viel kleiner in Washington, ich darf wohl sagen intimer als später, auch das Weiße Haus selbst.
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„Sie bleiben zum Luncheon, Curt!"

Als die Konferenz zu Ende war - es ging auf Mittag -, sagte oder befahl F. D. R.: „Sie bleiben zum Luncheon, Curt!"
Daß ich verblüfft war, ist eine Untertreibung - ich war gerade mal 36 Jahre alt. Später - ich wurde von nun an öfter dabehalten, begriff ich, daß diese Aufforderungen nichts Außergewöhnliches waren. Übrigens waren auch bei jenem ersten Luncheon zwei weitere Korrespondenten anwesend.

Das für mich Interessante war die Art, wie F. D. R. sich gab. Er war ja auch während der Pressekonferenz nie „Mr. President", immer recht informell, fast kameradschaftlich.

Während des Essens, dem ein von ihm selbst gemixter Martini-Cocktail voranging - auf seine diesbezügliche Fähigkeit bildete er sich etwas ein und durfte es auch -, benahm er sich, als befände er sich innerhalb seines engsten Familienkreises. Man durfte über alles mit ihm reden - nur nicht über Politik.
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Die Frau des Präsidenten der USA - Mrs. Eleanor Roosevelt

„Das verdirbt den Appetit!" sagte F. D. R. zu mir, der ich wohl im Unterschied zu den anderen noch eingeweiht werden mußte. Bei diesem ersten Luncheon, dem im Laufe der nächsten Jahre etwa ein halbes Dutzend folgen sollten, war auch Mrs. Eleanor Roosevelt anwesend. „Zufälligerweise", kommentierte Mr. President mit einem Unterton von Ironie.
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Ich kannte sie natürlich von zahlreichen Zeitungsphotos her, und sie war mir immer als eine eher häßliche Frau erschienen. Das war sie wohl auch, aber wenn sie zu sprechen begann oder auch nur zuhörte, kurz, wenn man sie lebendig vor sich sah, war das alles wie weggewischt.

Hier war eine sehr freundliche ältere Dame, eine mit viel Verständnis für diejenigen, mit denen sie gerade sprach, besser: für Menschen überhaupt.
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Mrs. Roosevelt war immer da, sie war immer bereit.

Ich sollte das später oft, sehr oft bestätigt finden, wenn in den letzten Jahren vor dem Krieg und in den ersten Kriegsjahren immer öfter, immer dringlicher jemand vonnöten war, der helfen konnte und wollte, ein Visum für die USA zu beschaffen für einen Flüchtling, oder dafür zu sorgen, daß eines verlängert wurde; Flüchtlingskomitees dabei behilflich zu sein, durchaus nicht immer geringe Summen aufzutreiben, Prominente und reiche Amerikaner dazu zu überreden, für diesen oder jenen Refugee gutzusagen, daß heißt, dafür zu bürgen, daß er nicht den USA zur Last fallen würde.

Mrs. Roosevelt war immer da, sie war immer bereit.
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Es war bei diesem Mittagessen ......

Bei diesem Mittagessen erzählte sie von ihren letzten Reisen. Sie war eigentlich immer auf Reisen, in New York, in Chicago, irgendwo im Mittelwesten oder Süden. Sie schrieb darüber einige Male pro Woche in zahlreichen Zeitungen jeweils kurze Artikel, die sich durch scharfe Beobachtungsgabe und menschliche Wärme auszeichneten.

Sie war fast nie im Weißen Haus, um zu repräsentieren - sie verstand sich nicht so sehr als die Frau des Präsidenten, sondern mehr als Frau eines Mannes, der zu beschäftigt war, um für die vielen, die ein Anliegen hatten, Zeit zu haben.
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Ich glaube, sie mochte mich ganz gern, und ich verehrte sie.

Wir wurden Freunde. Später, nach dem Tod des Präsidenten, als sie in New York eine kleine Wohnung am Washington Square bezog, besuchte ich sie gelegentlich.

Sie war immer sehr beschäftigt - unter anderem, aber wirklich nur unter anderem, als Vorsitzende des Komitees für Menschenrechte der UNO. Und wie alle sehr beschäftigten Menschen hatte sie immer Zeit.

Als sie Anfang der 1960er Jahre starb, stellte man in der Zeitung fast mit Erstaunen fest, daß sie die Frau des Präsidenten gewesen war - des bedeutendsten Präsidenten unserer Zeit. Sie war in den achtzehn Jahren nach seinem Tod wieder Mrs. Roosevelt geworden, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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In den späten 1930er Jahren hatte ich eine Unmenge zu tun.

Nicht nur, daß ich im Verlauf der nächsten Jahre regelmäßig bis zu vierzehn Zeitungen mit Artikeln belieferte - meist Durchschläge meiner Artikel für die „Haagsche Post" und für das „Wiener Tagblatt".

Vierzehn Zeitungen, das machte mich bekannt, das darf ich ohne Übertreibung sagen. Mein Name wurde fast ein Begriff. Was Paris angeht, so kann ich das Wort „fast" streichen, ich war ein Begriff geworden.

Einmal, während meiner vielen Fahrten nach Paris, sagte ich zu Pierre Lazareff:

„Du bringst meinen Namen immer so groß heraus, als ob ich ein Star wäre!"
„Du bist auch ein Star."
„Warum?"
„Eben weil ich deinen Namen mit so großen Buchstaben drucke." - So einfach war das.
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Ich konnte nicht gut aus amerikanischen Zeitungen abschreiben

Auch in Holland wurde ich sehr bekannt, in Österreich, in Belgien, sogar in Polen und in der Tschechoslowakei. Nur in New York, fast überflüssig, es zu unterstreichen, war ich fast unbekannt. Auch hier ist eigentlich das Wort „fast" überflüssig.

Ich konnte nicht gut aus amerikanischen Zeitungen abschreiben - die in den USA gedruckten Meldungen wurden ja schon von den Nachrichtendiensten AP (American Press), UP (United Press) und so weiter nach Europa übermittelt. Ich mußte mir meine eigenen Stories suchen.

In die „Redfern"-Geschichte war ich weiß Gott ohne mein Zutun hineingeraten und, ebenfalls ohne etwas dazu zu tun, für die Leser europäischer Zeitungen eine Art Held geworden.
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Die Geschichte der Dionne-Fünflinge

Oder da war - schon etwas früher - die Geschichte der Dionne-Fünflinge. Man erinnert sich vielleicht noch: Eine arme kanadische Farmersfrau, groß und kräftig - ihr Mann war fast zwergenhaft klein und dürr -, hatte Fünflinge geboren.

Eine Weltsensation, schon deshalb, da sie dank der aufopfernden Fürsorge und Pflege des herbeigeeilten Dorfarztes am Leben blieben - zum erstenmal in der Geschichte der Neuzeit, wie die Zeitungen, und unter ihnen auch der „Paris-soir", versicherten.

Es war keineswegs leicht, über verschneite Landstraßen zu der abgelegenen Farm vorzudringen, um Näheres zu erfahren, was ich bezeugen kann, denn ich war einer der vielleicht fünfzig Reporter, die sich auf den Weg machten.
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Zugegeben, ich war der einzige Europäer.

Aber ich war, wie gesagt, nicht der einzige, der sich zur Dionne-Farm durchkämpfte, ich kam nicht einmal als erster dort an. Doch wenn man die Berichte im „Paris-soir" las - die, man muß schon sagen, "Umdichtungen" meiner Berichte -, konnte man sich wohl fragen, ob ich die Fünflinge, wenn schon nicht selbst geboren, so doch zumindest vielleicht gezeugt hatte.

Oder da war die Sache mit dem FBI.

Das FBI kennt man heute (also 1977) überall auf der Welt. Damals wußte man wenig oder nichts von dieser außerordentlichen Bundespolizeibehörde, jedenfalls nicht in Europa.

Da diese Truppe von G-Men, wie sie im Volksmund genannt wurden, außerordentliche Leistungen vollbrachte, unter anderem berüchtigte Gangster wie Dillinger oder Al Capone zur Strecke gebracht hatte, bat ich den damals ebenfalls noch nicht sehr bekannten Leiter des FBI, Edgar Hoover, um ein Interview.

Er war ein bißchen eitel und stand mir gern zur Verfügung. Ich blieb mehrere Tage in Washington und lernte durch ihn die damals völlig neuen Methoden dieser Polizei kennen, deren Agenten - auch das war damals nicht üblich - keineswegs nur phänomenale Schützen waren, sondern auch vorzügliche Boxer und Experten in Jiu-Jitsu.
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Und ich schrieb eine Reportage in zehn Fortsetzungen

Ich schrieb über das alles eine Reportage in, wenn ich mich recht erinnere, zehn Fortsetzungen. Sie erschien unter dem sensationellen Titel „J'etais un G-Man" - Ich war ein G-Mann. Was den Inhalt anging, so hatte man im wesentlichen alles so gelassen, wie es von mir geschrieben worden war, nur eben die in der Tat verblüffende Mitteilung zu Beginn der Serie hinzugefügt :

Ich, der Autor, sei der amerikanischen Bundespolizei beigetreten und habe alles, was nun von mir geschildert wurde, selbst erlebt. Hoover hatte Ärger, und es dauerte einige Zeit, bis ich ihn davon überzeugen konnte, daß ich an dieser „Bearbeitung" schuldlos war.
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Aber dann geschah etwas nicht mehr Gutzumachendes.

Hoover hatte mir einiges Material über die amerikanischen Rackets zukommen lassen. Diese Rackets, die heute jedes Kind kennt, waren selbst in den Staaten relativ unbekannt, und in Europa wußte man nicht einmal, was das Wort bedeutete. Für diejenigen, die sich ihre Unschuld bewahrt haben: Ein Racket ist ein illegitimes Geschäft.

Ein Racket war es zum Beispiel, einen Geschäftsinhaber zu verständigen, seine Schaufenster würden nicht eingeschlagen werden, oder eine Prostituierte darüber aufzuklären, sie würde nicht zusammengeschlagen werden, wenn jede Woche ein bestimmtes Lösegeld gezahlt würde.

Ein entsprechender Schutz war auch für Güter, die im Hafen von New York eingeladen oder ausgeladen wurden, möglich oder notwendig, gegen Schutzgeld natürlich.
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„J'etais un Racketeer" - Ich war ein Racketeer.

Was ich darüber schrieb - auch dies war eine Serie in mehreren Fortsetzungen -, erschien unter dem Titel, „J'etais un Racketeer" - Ich war ein Racketeer.

Man bedenke: Da diese Racketeers natürlich größtenteils im Untergrund zu leben gezwungen waren, mußte auch ich mich in diesen düsteren Kreisen bewegen oder eigentlich noch intensiver in den Untergrund gehen als sie, denn ich mußte ja auch ihre „Rache" fürchten, wenn sie daraufkamen, was ich da alles verriet!

Ja, meine Bearbeiter in Paris äußerten sogar Zweifel daran - und das jeweils am Ende einer Fortsetzung -, ob ich mich rechtzeitig aus diesen Verstrickungen lösen und die morgige Folge liefern könnte. - Ich konnte.
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Auf jeden Fall - FBI Chef Hoover war sauer

Was mir aber ewig schleierhaft bleiben wird: daß irgend jemand diese Stories glaubte. Denn während ich auf der ersten und zweiten Seite des „Paris-soir" in höchster Lebensgefahr schwebte und mich weiß Gott wo befand, konnten die Leser auf der Sportseite meinen Bericht über einen Boxkampf lesen, der im Madison Square Garden stattgefunden hatte, oder vielleicht auch einen Bericht aus Hollywood oder eine Meldung aus Washington.

Ich versuchte vergebens, Hoover davon zu überzeugen, daß ich an diesem Unfug in jedem Sinne unschuldig war. Er glaubte mir nicht. Die von mir mitgebrachten Zeitungen in den Papierkorb werfend, meinte er: „Ich weiß nicht, ob Ihre Tätigkeit als Racketeer Ihnen Zeit läßt, noch nach Washington zu kommen, aber kommen Sie bitte nicht mehr hierher."
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Oder da war Josy - Josephine Baker

Oder da war Josy, in der Welt der Shows und in der ganzen Welt bekannt als Josephine Baker, die mich fragte: „Sie wollen also meine Lebensgeschichte schreiben?"

Ich war mit dem Zollboot zur Quarantäne hinausgefahren. Das ist ein Punkt, an dem alle eintreffenden Schiffe warten müssen, um den Lotsen an Bord zu nehmen und die Zoll- und Einwanderungsbeamten, die die Pässe und Visa kontrollieren. Journalisten und Photographen können mitkommen.

Ich sah Josephine Baker sofort, nicht zuletzt, weil sie sogleich von Photographen umringt war. Aber ich drang leicht zu ihr vor, denn ich vertrat ja schließlich den „Paris-soir", und da sie in Paris lebte und vor allem dort auftrat, war ich einmal - das kam selten genug vor - wichtiger als die amerikanische Presse.

Sie sah herrlich aus. Sie war - man kennt sie ja von unzähligen Bildern - nicht eigentlich schön oder auch nur hübsch, aber - wie soll man es ausdrücken? - sie war einmalig.

Die stets lächelnden Augen, der immer lachende Mund, die graziösen Bewegungen einer Katze, der Körper eines Knaben. Ich verliebte mich sofort in sie - aber in dieser Beziehung war ich wohl kaum ein Einzelfall.
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Wir wollen die Geschichte von Harlem bringen, etwa zehn Folgen.

Natürlich fuhr ich nicht immer in die Quarantäne hinaus, wenn ein bekannter Schauspieler oder eine berühmte Sängerin nach New York kam. Das war für den „Paris-soir" auch gar nicht so furchtbar interessant. Dies aber war ein Sonderfall. Gelegentlich meines letzten Aufenthalts in Paris, ich glaube, es war kurz nach der „Redfern"-Episode, hatte mir der elegante Herve Mille, der zweitwichtigste Mann der Zeitung, einen Auftrag erteilt: „Wir wollen die Geschichte von Harlem bringen, etwa zehn Folgen. Aber du mußt jemanden finden, der als Autor zeichnet. Du verstehst, die Sache soll wie ein Dokument wirken. Sagen wir, den Bürgermeister von Harlem, wenn du den dazu kriegen könntest!"

Den konnte ich nicht dazu bringen, denn es gab ihn gar nicht, weil ja Harlem ein Stadtteil und keine Stadt ist. Aber ich wußte schon, was Mille wollte: irgend jemand mit einem Namen in Verbindung mit dem schwarzen Stadtteil.
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Die „Ziegfeld-Follies" - eine Revue in Harlem

Ein paar Wochen später las ich in der „New York Times", Josephine Baker, der berühmte Star, amerikanische Bürgerin, die seit ihrer ersten Reise nach Europa - ich glaube, so um 1926 herum - nie mehr zurückgekehrt war, werde mit der „Ile de France" ankommen, um die Hauptrolle in den „Ziegfeld-Follies" zu übernehmen.

Ziegfeld war zwar schon lange tot, aber die nach ihm benannte Revue existierte immer noch, jedes Jahr in neuer Fassung.

Josephines Ehemann und sein "Gepäckstück"

Josephine stellte mich ihrem Mann vor, einem italienischen Conte, klein, mit Schlitzaugen, mit einem winzigen schwarzen Schnurrbart. Sie stellte mich auch Antoine vor, dem damals berühmtesten Haarkünstler der Seinestadt - der heutige Antoine nennt sich nach ihm -, der in die USA fuhr, um für seine Kosmetikpräparate Propaganda zu machen.

Er war nicht mehr ganz jung. Und er führte ein Gepäckstück mit sich, das wohl nur sehr selten mit seinem Besitzer auf Reisen geht: einen Sarg. Er bestand darauf, daß ich ihn mir ansähe - „Das ist natürlich kein Publicity-Gag!" versicherte er mir -, und ich bewunderte in seiner Kabine einen gläsernen Sarg, aufs komfortabelste mit Kissen und Decken möbliert.

Natürlich doch ein Publicity-Gag! Und er ließ sich auch in diesem Sarg, den er eben „für alle Fälle" immer bei sich führte, photographieren. Das Bild dürfte den Damen, die von ihm behandelt werden sollten oder wollten, einigen Eindruck gemacht haben, und auch den Jünglingen, für die er ganz offensichtlich mehr Interesse zeigte.
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Der ,Paris-soir' will eine Geschichte von Harlem .....

Ich hatte zu Josephine gesagt: „ ,Paris-soir' will eine Geschichte von Harlem! Ich dachte an Sie als Autor ..."
Weiter kam ich gar nicht. Sie war begeistert und klatschte wie ein erfreutes Kind in die Hände: „Wundervoll! Sie wollen also meine Lebensgeschichte schreiben!"

Ich wiederholte, worum es der Zeitung ging. Sie, völlig unbeeindruckt, wiederholte, worum es ihr ging. Und schon ahnte ich, wie schwach die große Zeitung war im Vergleich mit dieser so gar nicht schwachen Frau.

„Wir wohnen im ,St. Moritz'!" erklärte der Italiener, und wir fuhren alle in dieses damals noch recht feudale Hotel am Central Park South. Dort war tatsächlich eine Zimmerflucht reserviert worden für den Conte und die Contessa samt Bedienung.
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Als man im Hotel sah, daß Josephine eine Schwarze war ...

Josephine hatte ihre übrigens ebenfalls schwarze Zofe mitgebracht. Als man aber im Hotel sah, daß die Contessa eine Farbige war, vereisten die Mienen der Empfangschefs, und man erklärte dem Conte, er sei willkommen, aber seine Frau ...

Und dieser Kerl, der natürlich seit Jahren von seiner Frau lebte, zog ein. Josephine, ihre Zofe und ich standen auf der Straße.

Natürlich hätte sie in ein Hotel im Negerviertel Harlem fahren können - aber wie kam sie eigentlich dazu? In Paris, in ganz Europa war sie ein Star - und hier sollte sie eine Frau zweiter Klasse sein?
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Alle großen Hotels in New York wollten keine schwarzen Gäste

Doch in jedem Hotel, in welchem ich in den nächsten zwei Stunden für sie vorsprach, war die Reaktion die gleiche. „Leider ... leider ... Wir würden ja gern, aber unsere Gäste ...!"

Man bedenke: Diese Frau sollte in wenigen Wochen zu einer Stargage in einem der größten Revuetheater, im Winter Garden, auftreten - aber die New Yorker Hotels blieben ihr verschlossen.

Ich brachte sie schließlich im „Bedford" unter, aber dort konnte sie nur kurz bleiben, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Windhunde zu erwerben, und zwar gleich vier oder fünf, und die konnten sich in einem Hotel nicht austoben, das heißt, sie konnten, aber das ging den anderen Gästen denn doch ein wenig zu weit.

Wir fanden ein sündhaft teures Duplex-Apartment für sie, ein Penthouse im 17. oder 20. Stock mit Dachgarten, und alle, auch die Hunde, waren zufrieden, mit Ausnahme des Conte, der, als seine Frau sich weigerte, seine Hotelrechnung zu bezahlen, tief verschnupft abreiste.

Wenig später ließ sie sich von ihm scheiden.
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Sie war wohl die verspielteste Frau, die ich je gekannt habe.

Josy - wie ich sie bald nennen durfte - war eine ungewöhnlich reizvolle Person. Am liebsten spielte sie wie ein kleines Kind. Sie gab ein Vermögen für Spielsachen aus - Puppen, elektrische Eisenbahnen, Puppenhäuser und dergleichen - und konnte stundenlang auf dem Boden kauern.

Und da mußte man mithalten, ob man wollte oder nicht. Dann das Essen! Ich habe nie vorher oder nachher eine Frau so viel essen sehen wie Josy. Jede Mahlzeit begann mit einem Riesentopf Spaghetti. Dann erst fing das stets reichliche Menü an: Suppe, Fleisch in rauhen Mengen, Gemüse, Salate, Dessert. Und sie nahm nie ein Gramm zu.

Wenn man mit ihr ausging - in Nightclubs war man glücklich, wenn sie kam -, trug sie nicht nur ein teures Pariser Modellkleid, nicht nur sagenhaft teuren Schmuck, sondern auch allerhand billigen Modeschmuck, den sie am Morgen für ein paar Cents bei Woolworth gekauft hatte.

Ich machte es mir zur Regel, immer eine halbe Stunde zu früh bei ihr zu erscheinen, um ihr die lächerlichen Schmuckstücke auszureden respektive abzunehmen.

Vielleicht behing sie sich auch nur so, damit ich in Aktion treten konnte.

Sie war wohl die verspielteste Frau, die ich je gekannt habe.
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Einmal brachte ich meinen kleinen Sohn Michael mit

Als ich später - sie war nach einer höchst erfolgreichen Saison wieder nach Europa zurückgekehrt - wieder nach Paris kam, wohnte ich manchmal bei ihr, das heißt, in ihrer Villa im Vorort Le Vesinet.

Dort war alles nur Spiel. Das Personal mußte stets irgendwen spielen. Sie selbst war die Mutter, die Zofe die Tochter, der Chauffeur der Vater, die Köchin die Großmutter, der Gärtner der Großvater.

Ich bekam auch sogleich eine Rolle zugeteilt, ich weiß nicht mehr, welche. Josy paßte genau auf, daß alle ihre Rollen spielten, und zwar immerfort. Niemand durfte auch nur für eine Minute aus der Rolle fallen und sie etwa als Madame anreden oder siezen.

Einmal brachte ich meinen kleinen Sohn Michael mit, der damals - er war fünf Jahre alt - mit seiner Mutter nach Paris gekommen war. Sie vergötterte ihn sofort und spielte immerzu mit ihm.

Wenn sie zu einer Probe ins Casino de Paris mußte, nahm sie ihn mit, und dann saß der Knirps in dem immensen verdunkelten Zuschauerraum und war baß erstaunt, „daß die Damen alle so nackt waren".
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Was kan man einem Fünfjährigen zum Abschied schenken ?

Als er sie verlassen mußte, grübelte sie tagelang über die Frage, was sie ihm zum Abschied schenken sollte. Ein Andenken natürlich. Schließlich schickte sie ihm ein mit handschriftlicher Widmung versehenes, fast lebensgroßes Photo von sich - ganz nackt.

Wie gesagt, er war fünf Jahre alt und konnte das Geschenk wohl noch nicht gebührend würdigen. Seine Mutter meinte dann auch, es sei besser, das Photo erst gar nicht mitzunehmen. Die Großmütter würden das doch etwas merkwürdig gefunden haben.
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Josy sprach mit Vorliebe französisch - ohne Rücksicht

Um die Geschichte für den „Paris-soir" schreiben zu können, überredete ich Josy, nach Harlem zu fahren, wo die Neger-Society im feinsten Hotel ein Fest für sie veranstaltete.

Schon damals gab es „bessere" und „feine" Leute in Harlem, die sich etwa so anzogen wie die „feinen" Weißen im übrigen New York, die große und teure Autos fuhren.

Das Hotel, in dem Josy hätte wohnen können, aber eben nicht wohnen wollte, war den Hotels im weißen Manhattan durchaus ebenbürtig - oder doch fast.

Sie sollte allein zu der Einladung fahren, ich dachte, das sei hübscher für sie und auch für die Gastgeber. Sie könne mir ja dann erzählen, wie alles gewesen sei. Aber sie verlangte, daß ich mitkäme. Es wurde dann kein sehr gelungenes Fest, und das war allein ihre Schuld.

Denn um zu unterstreichen, daß sie schließlich doch anders war als die Damen und Herren aus Harlem, bestand sie darauf, während des ganzen Abends französisch zu sprechen, was außer mir nur sehr wenige der Anwesenden verstanden oder gar sprechen konnten.
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Josy war maßlos eifersüchtig - auf die "Zeit"

Josy war maßlos eifersüchtig - nicht auf die eine oder andere Frau etwa, sondern auf Zeit. Sie wollte, daß man immerfort bei ihr war. Sie nahm prinzipiell nicht zur Kenntnis, daß ich einen Beruf hatte.

Ich mußte sie zu jeder Probe bringen und wieder von dort abholen. Ich mußte mit ihr - und den Hunden - frühstücken und zu Abend essen.
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Die Story, die ich schrieb, hieß „Dix ans apres"

Die Story, die ich schrieb und die Josephine Baker als Autorin zeichnete, hieß „Dix ans apres" - Zehn Jahre später, ein von Alexandre Dumas übernommener Titel, der sich auf den Umstand bezog, daß Josephine vor zehn Jahren aus den Vereinigten Staaten abgereist war und nun ihr Comeback machte.

Natürlich schrieb ich auch über Harlem, aber sozusagen nur am Rande. Im wesentlichen handelte es sich ja um Josys wirklich interessante Lebensgeschichte - und für die Pariser würde besonders der Teil, der vor Paris spielte, also in den Negervierteln von Philadelphia und New York, fesselnd sein - so hoffte ich.
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In USA wurden Revuen in anderen Städten ausprobiert

Die Proben zu den „Ziegfeld-Follies" fanden in New York statt, dann sollte die Revue etwa eine Woche lang in Boston „ausprobiert" werden - dieses Ausprobieren war in Amerika üblich.
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Ich hatte mit dem „Paris-soir" vereinbart, daß die erste Folge an dem Tag erscheinen sollte, an dem sich in Boston zum erstenmal der Vorhang heben würde. Die Reportage begann auch mit den Worten - ich zitiere aus dem Gedächtnis: „Musik. Dunkel. Der Vorhang hebt sich. Im Scheinwerferlicht - Josephine Baker."

Ich fuhr nicht mit nach Boston, ich hatte wirklich eine Menge in New York zu tun, und - was ich natürlich nicht verriet: ich war ganz froh über diese Verschnaufpause.

Daher kam ich auch nicht nach zwei oder drei Tagen nach, wie ich es Josy hoch und heilig versprochen hatte, sondern wollte erst zur Premiere nach Boston fahren.
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Josephine hatte aber noch einen neuen Trick auf Lager

Seltsamerweise kam kein Anruf von ihr, der mich nach Boston beorderte. Um so besser, dachte ich aufatmend. Aber da kam ein Telex aus Paris. „Sind ratlos stop Josephine verbietet Abdruck der Serie."

Ich antwortete: „Bringt Serie auf meine Verantwortung." Und dann nahm ich den nächsten Zug nach Boston.

Josy wollte sich ausschütten vor Lachen, als ich ihr Hotelzimmer betrat. „Na also! Das hättest du doch viel einfacher haben können!"
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