Die Lebensbiografie von Curt Riess - geschrieben 1977
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956/57 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrespondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den interessantesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesem Buch gibt es neben den "Aufzählungen von Tatsachen" jede Menge Hintergrund- Informationen über seinen Werdegang, seine Reisen und das Entstehen der Filme, über die Schauspieler und Stars, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite finden Sie hier.
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Teil II • DIE ZWANZIGER JAHRE
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(7) Student
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Das Abitur ist fertig - Was nun?
Ich war ratlos und betroffen, als ich das Abitur gemacht hatte. Was nun?
Es hatte keine Schwierigkeiten gegeben. Nicht für mich, und für die meisten meiner Kameraden auch nicht. Einer, er kam aus dem Osten, ich glaube aus Polen oder gar Rußland, sprach besser Französisch als der Französischlehrer.
Ich, dank einer englischen Gouvernante in Würzburg, der „Miß", wie ich sie nannte, besser Englisch als der Englischlehrer. Der Junge aus Polen war überdies ein Rechengenie, konnte viel mehr als unser Mathematikprofessor und sollte später ein einflußreicher Mann an der New Yorker Börse werden.
Ich steckte meinen Deutschlehrer, was Deutsch anging, in die Tasche, und das gab er auch neidlos zu; er interessierte sich sowieso nur für Fußball.
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Und Ewald - der konnte einfach alles.
Fast alle meine Mitschüler waren weit über den Durchschnitt begabt und waren auch über den Durchschnitt schwierig. Sicher waren unsere Lehrer froher über unser Abitur als wir.
Ich hatte unsere Lehrer nie beneidet, allerdings glaubte ich damals, und werde es wohl immer glauben, daß sie unterdurchschnittlich begabt waren. Eines ist sicher: Der Lehrer einer solchen Klasse hätte ich nie sein wollen.
Aber was wollte ich eigentlich werden? Was sollte ich tun? Was konnte ich tun?
Meine Eltern befürchteten, ich würde mich doch noch entschließen, zum Theater zu gehen. Das bedeutete vor allem, eine Theaterschule zu besuchen.
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Max Reinhardt machte mir den Vorschlag, ......
Und Max Reinhardt machte mir, übrigens zögernd und nicht eigentlich überzeugend, den Vorschlag, mich bei der seinen einschreiben zu lassen.
Ich verspürte keine Lust dazu. Ich verstand mich, wie immer bisher und wie auch später, als Zuschauer, als kritischer Zuschauer vielleicht, nicht aber als einen, der sich zur Schau stellen sollte.
Das alles hatte einen tieferen Grund, von dem ich damals noch nichts wußte. Ich glaubte zu wissen, daß man Schauspielerei nicht lernen konnte, zumindest nicht auf Schulen. Ich hatte ja oft auf Proben erlebt, daß selbst bedeutende Schauspieler erst dort, erst etwa durch Reinhardt, vieles lernten, was ihnen vorher niemand hatte beibringen können.
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Ich fühlte es, der geborene Einzelkämpfer
Aber da war noch etwas anderes, das auch indirekt mit den Proben zusammenhing. Und mit dem, was ich von dem Leben hinter der Bühne gesehen hatte. Schauspielerei, das war etwas, das sich nur in Gemeinschaft ausüben ließ. Und ohne noch recht zu wissen, warum, war mir eine Tätigkeit, die Gemeinsamkeit zur Voraussetzung hatte, nicht sympathisch. Ich mußte - ich darf es wiederholen, noch wußte ich es nicht - allein arbeiten.
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Schreiben ? Natürlich, früher oder später.
Daran gab es für mich kaum Zweifel. Ich hatte als Redakteur unserer Schülerzeitung in sehr kleinem Kreis einiges Aufsehen erregt; meine deutschen Aufsätze hatten meine Lehrer, wie schon gesagt, ihrer Intelligenz entsprechend oder auch dem Mangel an dieser, interessiert oder bestürzt. Und geärgert.
Und bedeutete nicht gerade Schreiben, vorläufig wenigstens, völligen Mangel an Korsett? An Zwang, an Einfügen in etwas Bestehendes? Und wo würde das, was ich geschrieben hatte, verlangt?
Jurisprudenz studieren, in München ?
Vorerst fuhr ich erst einmal nach München. Ich wollte, so sagte ich meinem Vater, der nicht recht wußte, warum ich eigentlich nicht in sein Geschäft eintrat, Jurisprudenz studieren. Das war alles recht vage.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich Anwalt werden wollte - wozu sonst hätte ich die Rechtswissenschaften studiert? Ich weiß nur, daß ich damals keine drei Jus-Vorlesungen besuchte.
Indessen hatte ich auch philosophische Vorlesungen belegt. Philosophie begann mich zu faszinieren. Auch auf diesem Gebiet entfaltete ich meine Art von Systematik, mit der ich mir in meinen Schuljahren eine grundlegende Kenntnis der Weltliteratur verschafft hatte.
Bacon, Hume, Descartes, Locke, besonders letzteren, verschlang ich. Kant studierte ich - zu meiner Verblüffung stellte ich fest, daß man Kant nicht einfach nur lesen konnte. Da mußte man schon mitdenken, mitarbeiten und gewissermaßen die fehlenden Sätze ergänzen.
Schopenhauer war befriedigend, Nietzsche schien mir danach nur interessant, aber so wesentlich nicht. Damals ...
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Ich gewöhnte mich ans lange Schlafen - mit Ausnahmen
Übrigens, die hier erwähnten Philosophen studierte ich natürlich nicht in einem oder zwei Semestern. Das dauerte Jahre und hörte auch mit meinem Studium nicht auf.
Sonst? Ich schlief lange - viel zu lange, um auch nur die wichtigsten Vorlesungen zu besuchen. Da ich nichts von meiner Theaterbegeisterung eingebüßt hatte, belegte ich auch das Kolleg über Theaterkritik von Arthur Kutscher, einem zweifellos kenntnisreichen Mann, der dem eben erst (1977) verstorbenen Wedekind sehr nahegestanden hatte und nie aufhörte, sich dessen zu rühmen.
Ich erinnere mich noch, daß er die Gelegenheit der Uraufführung im von der Schauspielerin Hermine Körner geleiteten Schauspielhaus eines Stückes zu einer Art Prüfung benutzte.
Wir sollten in die Premiere gehen und darüber schreiben.
Bedingung: Unsere Kritiken mußten um Mitternacht im Briefkasten stecken - auf diese Weise wollte Kutscher verhindern, daß wir von den Morgenzeitungen abschrieben.
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Ein Drama über einen Propheten des Alten Testaments.
Ich ging also. Es handelte sich um ein Drama über einen Propheten des Alten Testaments. Es war ein miserables Stück, und von der Aufführung konnte nichts Besseres berichtet werden.
In der großen Pause hatte ich genug, ging in das naheliegende Cafe, Ceylons Teestuben genannt, das Lieblingslokal eines gewissen Adolf Hitler, von dem ich nur wußte, daß er Massenversammlungen im Zirkus Krone veranstaltete. Und schrieb sehr kurz und bündig meinen Verriß, der wohl schon um zehn Uhr im Briefkasten landete.
Ein paar Tage später erschien Professor Kutscher mit unseren Kritiken. Umständlich und nicht ohne Wichtigtuerei erklärte er, mit dem Prädikat „Sehr gut" hätte er keine auszeichnen können, was mich wunderte, denn ich zumindest fand meine Kritik doch sehr gut. Als „Gut" würdigte er auch nur wenige. „Genügend" war etwa ein Drittel, der Rest war „Ungenügend".
Alle Namen wurden genannt, nur der meine nicht. Er nannte ihn auch nicht, als er fortfuhr, ein einziger Student habe es nicht einmal für nötig befunden, das Stück zu Ende anzusehen, das sei unerhört, und gerade deshalb versage er es sich, den Missetäter namentlich zu nennen.
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Da platzte mir der Kragen und ich unterbrach den Professor
„Das können Sie ruhig tun!" unterbrach ich ihn, respektlos und verletzt, „diesen Verriß habe ich geschrieben!", und verließ den Raum. Eine Woche später kehrte ich freilich noch einmal zurück, platzte mitten ins Seminar, unterbrach den redenden Kutscher und verkündete mit triumphierender Stimme: „Sie werden ja inzwischen erfahren haben, daß die Tragödie ,Ihres Dichters' " - ich sagte wirklich „Ihres" - „nach der dritten Aufführung abgesetzt wurde. Und das bedeutet, daß Ihre Wertung meiner ganz richtigen Kritik völlig ,ungenügend* war."
Ich ließ das Wort „ungenügend" förmlich auf der Zunge zergehen. Und verschwand - diesmal für immer. Ich sehe noch Kutschers offenen Mund und die Mienen der anderen Studenten.
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Auch Kritik konnte man nicht lernen
Übrigens wußte ich schon: Auch Kritik konnte man nicht lernen, und später begriff ich auch, daß man überhaupt Journalismus nicht lernen kann, vom Schreiben gar nicht zu reden.
Mein Benehmen Kutscher gegenüber war natürlich völlig unmöglich, aber recht hatte ich schließlich doch. Trotzdem war ich verärgert.
Ein Abend bei einer Hitler Rede ... mußte ich lachen
Und so beschlossen Freunde, mich aufzuheitern und verschleppten mich am Abend in den Zirkus Krone, wo dieser Adolf Hitler sprach, obwohl dort „Juden der Eintritt verboten" war.
Ich weiß nicht mehr, wovon und worüber er sprach, nur daß er ein miserables Deutsch sprach und daß ich ihn sehr komisch fand und immerzu lachen mußte.
Das taten übrigens sehr viele, was Hitler nur zu noch lauteren und sehr heiseren Wutausbrüchen veranlaßte. Abschließend meinte ich, man müsse sich Hitler öfter anhören. „Ein vorzüglicher Clown", stellte ich fest. Ach, wenn ich doch recht behalten hätte wie im Falle Kutscher!
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Neue Freunde - Klaus und Erika Mann ....
Auf irgendeinem Faschingsfest - es gab deren unzählige - lernte ich die Geschwister Klaus und Erika Mann kennen, letztere ein bezauberndes Mädchen, nicht eigentlich schön, aber von einem seltsamen Liebreiz.
Wir wurden Freunde für eine Nacht, oder vielleicht auch für zwei - das heißt, wir tanzten und amüsierten uns. Und irgendwann sagte Klaus, ich solle doch am nächsten Tag, vielleicht war es auch der übernächste, zu ihnen nach Hause kommen.
Und ich erinnere mich noch genau, daß ich es tat, ohne mir eigentlich darüber klarzuwerden, daß ich dabei vielleicht den damals schon berühmten Thomas Mann kennenlernen könnte.
Ich lernte ihn auch kennen, er war ebenfalls kostümiert, er war gerade im Begriff, mit seiner Frau zu irgendeiner Faschingsfestlichkeit zu gehen.
Seine Kinder nannten ihn „Zauberer". Wie sie mir erklärten, hatte das mit einem Kostüm zu tun, das er einmal getragen hatte, nämlich das eines Zauberers; an dem Abend, an dem ich ihm vorgestellt wurde, trug er übrigens ein anderes - ich habe längst vergessen, welches.
Ich gefiel Thomas Mann wohl, oder vielleicht auch seiner Frau oder beiden - wer weiß das heute noch? -, und sie sagten, ich solle öfter kommen, und das tat ich gern. Viel von diesen Besuchen ist mir nicht mehr in Erinnerung.
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Der Anfang unserer Bekanntschaft war eine Enttäuschung
Die erste Begegnung mit Thomas Mann war für mich, ich muß es gestehen, eine Enttäuschung. Ich kannte natürlich alles, was er bis dahin publiziert hatte, wirklich alles.
Es war übrigens nicht gar so viel, „Die Buddenbrooks", „Königliche Hoheit", „Tod in Venedig" und „Betrachtungen eines Unpolitischen". Er war für das breite deutsche Publikum auch noch nicht der „Dichterfürst", der er später werden sollte.
Für mich aber war er es. Und obwohl ich natürlich Bilder von ihm kannte, glaubte ich, er würde irgendwie - das Wort irgendwie, das ich hasse, ist hier am Platze - wie ein Dichterfürst wirken.
Das tat er nun ganz und gar nicht. Er wirkte eher wie ein Großkaufmann oder wie ein Arzt oder ein Anwalt. Er war auch während der wenigen Minuten, die ich damals mit ihm verbringen durfte, sehr steif, sehr förmlich, man möchte fast sagen unnahbar.
So, wie Thomas Mann war, hatte ich ihn mir nicht vorgestellt
Jawohl, unnahbar ist das rechte Wort. Später, viel später, als ich ihn gut kennenlernen sollte, prägte ich einmal das Wort: „Wenn Thomas Mann das Zimmer betritt, rollt ein Eisberg herein."
Dabei war er nie unliebenswürdig, geschweige denn schwierig. Und vor allem gab er sich nicht wie so viele bedeutende Männer bedeutend, will sagen, er ließ zwischen den Zeilen nie vermuten, wer er nun eigentlich war.
Ich hätte damals nicht zu sagen vermocht, und kann es auch heute noch nicht, wie ich mir eigentlich vorstellte, daß Thomas Mann sein würde. Ich weiß nur: so, wie er war, hatte ich ihn mir nicht vorgestellt.
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Und dann lernte ich Bruno Walter kennen
Einmal lernte ich den sich gerade verabschiedenden Bruno Walter kennen, den Generalmusikdirektor der Oper, oder vielleicht war er auch Operndirektor.
Es ist erstaunlich, daß ich bis dahin eigentlich selten, wenn überhaupt in die Münchner Oper gegangen war. Das tat ich nun.
Und zwar ging ich hauptsächlich zu den Mozart-Aufführungen, die Bruno Walter im Residenztheater veranstaltete, im Kleinen Haus neben der Großen Oper, in dem sonst Schauspiele aufgeführt wurden. Er spielte mit sehr kleinem Orchester und spielte bei den Rezitativen selbst das Cembalo.
Die Künstler, die sangen, waren exquisit. Ich denke noch heute an Maria Ivogün, an ihren Mann Karl Erb, der allerdings meist Oratorien sang, an den Bariton Schipper, an Hermine Bosetti und Delia Reinhardt.
Es war mir sofort klar: Hier wurde vor relativ wenigen Zuschauern und Zuhörern ein neuer Mozart-Stil entwickelt. Oder vielleicht war er gar nicht so neu, vielleicht hatte ihn Gustav Mahler in Wien zuerst geschaffen, oder sollte man nicht besser sagen: Mozart wiederentdeckt?
Jedenfalls waren für mich die Mozart-Aufführungen Bruno Walters, zu denen man immer Karten bekam, Ereignisse und standen weitaus höher in meiner Gunst als die Berliner Mozart-Aufführungen - die von Richard Strauss nicht ausgenommen.
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Bruno Walter bekam den bayrischen Antisemitismus zu spüren
München war zwar eine musikliebende Stadt, aber schon begann Bruno Walter den starken bayrischen Antisemitismus zu spüren.
Daran war zweifellos Hitler nicht schuld. Die Münchner waren Antisemiten - im Unterschied zu den Berlinern. Und viele, vor allem diejenigen, die nichts von Musik verstanden, fanden es wohl unerträglich, daß der Jude Walter eine so entscheidende Rolle in „ihrem" Musikleben spielte. Er ging ja auch bald darauf nach Berlin und New York.
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Das Theater interessierte mich mehr als Philosophie und Oper
Freilich, nicht die Oper war es, die mich neben der Philosophie am meisten interessierte, sondern nach wie vor das Theater. Ich ging zweimal, dreimal jede Woche ins Theater, fast immer in die Kammerspiele, damals noch in einem langgestreckten, kinoartigen Saal in der Augustastraße untergebracht, wo vorzüglich gespielt wurde - fast so gut wie bei Reinhardt, wenn auch ganz anders, weniger aufwendig, fast frugal, was die Ausstattung anging, und sehr leise.
Reinhardt spielte die Zeilen, der Direktor der Kammerspiele, Otto Falckenberg, ließ zwischen den Zeilen spielen. Dies sei keine Wertung. Bei allem Respekt vor Falckenberg: Reinhardt war wohl bedeutender und vor allem vielseitiger.
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Und dann eine neue (weibliche) Bekanntschaft
Und dann ... Ich hatte die junge Dame in der „Akropolis" kennengelernt, einem der vielen Schwabinger Lokale, die ich spätabends frequentierte.
Ich möchte aus verschiedenen Gründen ihren Namen nicht nennen - ich habe ihr das auch einmal versprochen. Sie war nicht eigentlich schön, aber ungemein anziehend und, wie wir es damals nannten: apart.
Sie hatte eine eigene Art, Worte zu betonen, ihre etwas tiefe Stimme schien immer zu fragen. Sie fragte auch immerfort: „Warum?" Und wenn das Wort nicht fiel, lag es in der Luft. Sie war eine vorzügliche Schauspielerin, was eigentlich nicht übersehen werden konnte, aber in München doch nicht genügend anerkannt wurde.
Ich verliebte mich. Ich liebte sie. Und ich hatte Grund zu der Annahme, diese meine Liebe beruhe auf Gegenseitigkeit. Ich verbrachte viele Nächte mit ihr. Ich lernte ihre Rollen mit ihr - es erschien mir ganz undenkbar, daß ich je wieder eine andere Frau auch nur ansehen, geschweige denn lieben könnte. So naiv war ich trotz meiner „Erfahrungen". Ich sagte ihr das auch einmal, nein, ich sagte es ihr hundertmal.
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Ich war 18 und meine Welt ging unter
Zuerst fiel mir nicht auf, daß sie manchmal nach der Vorstellung keine Zeit für mich hatte. An einem ihrer spielfreien Abende wanderte ich ziellos durch die Straßen Münchens und landete immer wieder - wie ich dachte zufällig, aber es war wohl kein Zufall - vor dem Haus, in dem sie wohnte.
Und sah, diesmal wirklich zufällig, daß sie einem Taxi entstieg und im Haus verschwand, nicht allein, sondern mit einem jungen Mann, an den sie sich schmiegte. Die Situation war eigentlich ganz unmißverständlich, aber ich wollte wohl nicht verstehen.
Auch nicht, als der Mann noch nach Stunden nicht das Haus verlassen hatte, auch nicht, als der Morgen bereits dämmerte. Erst als sich das gleiche wiederholte - ich hatte nun die Gewohnheit angenommen, vor ihrem Haus Wache zu beziehen -, begriff ich das Entsetzliche.
Sie betrog mich! Die Welt ging unter. Ich war immerhin schon über achtzehn Jahre alt.
Ich wollte sie nicht mehr sehen. Wenn ich sie traf, sah ich durch sie hindurch. Ich wollte nicht mehr mit ihr sprechen und tat es auch nicht. Sie war zuerst verblüfft, dann doch etwas verletzt. Es kam ihr wohl gar nicht in den Sinn, daß sie meine Welt zerstört hatte. Ich blieb unversöhnlich, auch während der nächsten Jahre.
Traf ich sie auf irgendeiner Gesellschaft in Berlin, wohin sie bald zog und wo sie großen Erfolg hatte, schnitt ich sie. Gelegentliches Zureden von gemeinsamen Freunden - selbst Max Reinhardt meinte einmal lächelnd, man solle doch nach so langer Zeit wieder miteinander sprechen - fruchteten nichts.
Sechs oder sieben Jahre später .....
Die Versöhnung oder Aussprache oder wie immer man es nennen will erfolgte dann mindestens sechs oder sieben Jahre später, morgens gegen drei Uhr im Berliner Sportpalast während eines Sechstagerennens.
Ich saß - wie es dazu kam, werde ich noch erzählen - auf der Pressetribüne. Die Halle war fast leer. Sie ließ mich durch einen der uniformierten Diener, die unser Presseheiligtum bewachten, herausrufen. Ich kam, wir schüttelten uns die Hände und schlenderten den Gang entlang, der um die Radrennbahn führte, und redeten von allem, hauptsächlich von ihren Erfolgen, aber nicht von den alten Münchner Zeiten.
Plötzlich tauchte in ziemlicher Entfernung ein jüngerer Mann auf, Programm und Bleistift gezückt. „Ach Gott!" stöhnte sie. „Nicht einmal hier hat man Ruhe vor Autogrammjägern!" Sie war eben eine berühmte Schauspielerin geworden.
Der Junge wandte sich, ohne sie eines Blickes zu würdigen und offenbar nicht ahnend, daß sie ein Star war, an mich: „Würden Sie so liebenswürdig sein . . .?"
Ich war eben ein bekannter Sportjournalist geworden.
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Notgedrungen von München nach Heidelberg
München war mir durch den „Zwischenfall" unerträglich geworden. Ich wartete das Ende des Semesters ab, sprach mit meinem Vater, sagte, daß ich Philosophie studieren wolle, und fuhr nach Heidelberg.
Dort arbeitete ich nun wirklich. Das war nicht zuletzt das Verdienst eines heute viel zu wenig gelesenen Gelehrten, des erst etwa in Mitte der Vierzig stehenden Friedrich Gundolf.
Der große, dunkelhaarige, schlanke Mann, mit einem Gesicht, das man nicht nur als durchgeistigt bezeichnen konnte - ich fand es schön -, faszinierte mich. Er war, als ich in sein Seminar über die Romantiker eintrat - übrigens eine große Ehre, denn er hielt die Zahl der Teilnehmer absichtlich klein -, in Fachkreisen bereits als der bedeutendste deutsche Literaturhistoriker - sicher seit dem Tod seines Lehrers Erich Schmidt - bekannt.
Obwohl eigentlich nur sein „Goethe" - für mich immer noch das aufschlußreichste Buch über den Dichter - jenseits der gelehrten Welt gelesen wurde.
Er las nur ein- oder zweimal pro Woche - als ich nach Heidelberg kam, gerade über Kleist; dann war da das Seminar, ferner Vorlesungen bei anderen Professoren über Literatur und Philosophie.
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Ich war wie ein Schwamm, der alles in sich aufsog.
Ich konnte nicht genug bekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben arbeitete ich - und das verschaffte mir Genugtuung. Es gab Nächte, in denen ich nur drei bis vier Stunden schlief, obwohl ich allein war. Ich war geradezu eifersüchtig auf den Schlaf, der, wie ich fand, mir die Zeit stahl, die ich für Wichtigeres brauchte.
Das alles war das Verdienst von Gundolf. Er war mein „Korsett" geworden. Ich mußte ganz einfach lernen und wissen - ich hätte ihm sonst wohl kaum unter die Augen treten können. So jedenfalls kam es mir vor. Wir unternahmen lange Spaziergänge, die jeweils damit begannen, daß ich ihn „nur" nach Hause begleiten sollte.
Er wohnte auf halber Höhe des Schloßberges. Aber wir gingen dann weiter, oft stundenlang. Wir redeten fast immer über Literatur, das heißt, er redete und ich hörte zu. Manchmal stellte ich Fragen, und es kam wohl vor, daß er plötzlich stehenblieb und mich verwundert anblickte: „Seltsam, daß ich nie auf den Gedanken verfiel, daß sich hier eine Frage stellt." Ich wußte nicht, ob ich ihn amüsierte oder interessierte. Ich hoffe, eher das letztere.
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Profesor Gundolfs Rat : „Schreiben Sie nie für Zeitungen!"
Ich lernte unendlich viel in den wenigen Semestern, die ich in Heidelberg verbringen durfte. Oft blieb ich auch während eines Teils der Ferien dort, natürlich Gundolfs wegen und wohl auch, weil ich meine Doktorarbeit schnell hinter mich bringen wollte.
Gundolf prophezeite mir eine Karriere als ernsthafter Schriftsteller oder vielleicht auch an der Universität. Erstaunlicherweise warnte er mich nur vor einem: „Schreiben Sie nie für Zeitungen!"
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1924 - Curt Riess-Steinam als frischgebackener Doktor Phil.
Nachdem ich Heidelberg als frischgebackener Doktor verlassen hatte, sah ich ihn nie wieder, obwohl ich die feste Absicht hatte, es bei erster Gelegenheit zu tun.
Er starb ja auch ziemlich früh, 1931, und so blieb ihm erspart, die Verbrennung seiner Bücher zu erleben und seine eigene Ächtung.
Ich wunderte mich ein wenig, daß man ihn nicht „ausgespart" hatte, denn er war immerhin der Lehrer des unter den Nazis für die Kulturbelange zuständigen Ministers gewesen.
Jawohl, Goebbels war ein Schüler Gundolfs, und ein begeisterter, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Dessen sogenannte Rasse spielte damals für ihn noch keine Rolle.
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Anmerkung aus April 2021 :
In keinem seiner vielen Bücher hat Curt Riess seine Promotion nochmal erwähnt. Auch in der sonstigen Literatur taucht sie nirgendwo auf. Eigentlich weiß "googgle" immer alles, aber auch da wird es dünn. Irgend etwas daran stimmt nicht. In den Jahren nach 1920 war es eine Ehre, sich mit einem " Dr." im Namen Ansehen und Vorteile zu verschaffen. Der Hinweis auf diese Promotion ist hier auf dieser Seite einmalig und kommt nie wieder vor. Warum nicht ????
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Übrigens mochte Gundolf den Studenten Goebbels nicht
Übrigens mochte Gundolf den Studenten Goebbels nicht, erwähnte ihn mir gegenüber sogar ein- oder zweimal als „unsympathischen jungen Mann". Immerhin, den Namen hatte er nicht vergessen, obwohl es etwa zwei oder drei Jahre her war, daß Goebbels bei ihm belegt hatte.
Ich selbst erlebte Goebbels also nicht mehr in Heidelberg, das sollte erst viel später in Berlin der Fall sein. Indessen sah ich die wenigen Freunde von Gundolf oft - vor allem den in kurzen Abständen immer wieder erscheinenden Stefan George. Ich wußte nicht viel mit ihm und dem Kreis um ihn anzufangen. Das hatte nicht nur mit meiner Interesselosigkeit für Lyrik zu tun.
Ein damals sehr namhafter Schriftsteller, Emil Ludwig
Einen anderen, damals sehr namhaften Schriftsteller, Emil Ludwig, der gelegentlich in Heidelberg um der einen oder anderen Vorlesung willen auftauchte, traf ich oft in einer kleinen Konditorei an der Hauptstraße, in welchem er sich mit einem alten, etwas kauzigen Professor - oder vielleicht nannte man ihn nur so - unterhielt.
Der las für Ludwig Unmengen von geschichtlichen und biographischen Werken und machte Auszüge, die Ludwig dann in seinen Büchern über Bismarck, Napoleon, Goethe und andere verwertete.
Ludwig, damals gerade stark in Mode, erschien stets in einem gewissen Erregungszustand in besagter Konditorei. Er konnte keine Zeitung lesen, ohne dort etwas zu finden, was ihn als Vorzeichen kommenden Unheils in Nervosität versetzte.
Und wie recht er hatte und wie unrecht wir, die wir uns über ihn mokierten! Wir waren so gewöhnt an seine Ausbrüche, daß, als er nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau völlig die Fassung verlor, wir ihn nicht recht ernst zu nehmen vermochten. Noch einmal: Wie recht hatte er doch!
Recht hatte er auch, als er nach Lektüre meines Dramas „Die Einsamen", das auf Gundolf einen gewissen Eindruck gemacht hatte, mir riet: „Zerreißen Sie das so schnell wie möglich!" Das tat ich zwar nicht, aber irgendwie ist das Werk dann doch der Nachwelt verlorengegangen. Wichtig nur für mich - ich hatte zu schreiben begonnen.
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Die Inflation hatte angefangen
In jenen Tagen hatte längst etwas anderes angefangen, ja befand sich eigentlich schon im Jahre 1923 auf dem Höhepunkt, was ich nicht recht verstand, was andere, ältere und gescheitere Leute ebenfalls nicht begriffen - man nannte es die Inflation. Sie sollte mein Leben von Grund auf ändern.
Vorläufig geschah einmal nichts. Jedenfalls mir nicht. In Heidelberg bekam ich nicht so recht mit, was die Inflation für die kleinen Leute bedeutete, und daß die Preise in den Restaurants und Cafes anfangs sehr langsam und später rapid anstiegen, war für mich nicht von besonderem Interesse; mein Vater erhöhte meinen Monatsscheck.
Vater Riess war Unternehmer und vorausschauend
Er hatte sehr früh entdeckt, daß eine Inflation herrschte, will sagen, daß die Mark sich immer schneller entwertete, und zwar auf eine sehr einfache Weise: Er stellte fest, daß er für den Preis, zu dem ein Maßanzug verkauft wurde, nicht einmal mehr einen Meter des englischen Tuches einkaufen konnte, von dem er für einen Anzug drei benötigte.
Es war also, wie er argumentierte, etwas faul im Staate Dänemark, und er beschloß, seine Waren nur noch gegen Dollar zu verkaufen, vielmehr gegen so viele Mark, wie sie eben gerade dem herrschenden Dollarkurs entsprachen.
Man wird mir kaum zum Vorwurf machen, daß ich nichts von dem Sinn der Inflation verstand - niemand mit Ausnahme von einigen gewitzten Bankiers und Kaufleuten tat das.
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Irgendwie lebte ich in einem "Elfenbeinturm"
Ich bemerkte nicht, daß das „Volk", will sagen die übergroße Mehrzahl derjenigen, mit denen ich Kontakt hatte, sehr schnell verelendete, ohne daß die Leute recht begriffen, warum.
Ich sah nur, daß es - zum Beispiel - meinen Eltern weiterhin gut ging, nicht besser als früher, denn wir waren keine Inflations-Gewinnler wie etwa die deutschen Großindustriellen, die mächtigen Bankiers, aber auch nicht schlechter.
Und es begann sich bei mir der Gedanke einzunisten - es war noch keine Überzeugung, geschweige denn ein Entschluß -, es sei vielleicht doch besser, in solcher Zeit Geld zu verdienen, also Kaufmann zu werden, gescheiter jedenfalls, als sich der Literatur zu widmen.
Aber da war doch Gundolf, da war die Universität, da waren die unzähligen Bücher, die ich lesen wollte, ja mußte, da war schließlich meine Doktorarbeit.
Als ich sie beendet hatte - ich sagte ja schon, daß ich sie mit äußerster Schnelligkeit bewältigte, also ununterbrochen an ihr Tag und Nacht arbeitete -, war ich körperlich fertig.
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Mein Vater schickt mich ins Traumland aller Europäer.
Und fester denn je entschlossen, daß man in einer solchen Zeit Kaufmann werden mußte.
Aber mein Vater, der mich besser kannte als ich mich selbst, wollte mir noch eine Frist setzen. Ich sollte mich, bis ich meine endgültige Berufswahl traf, ein wenig in der Welt umsehen.
Gewählt wurden die Vereinigten Staaten, um diese Zeit das Traumland aller Europäer. - Das war schon 1924.
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hier ein Link auf die Promotion
1924 - Profesor Gundolf