"Das gibt's nur einmal" - die Film-Fortsetzung 1945 bis 1958
Der Schriftsteller Curt Riess (1902-1993 †) hatte 1956 und 1958 zwei Bücher über den Deutschen Film geschrieben. Als Emigrant in den USA und dann Auslands-Korrspondent und später als Presseoffizier im besetzten Nachkriegs-Berlin kam er mit den intessantentesten Menschen zusammen, also nicht nur mit Filmleuten, auch mit Politikern. Die Biografien und Ereignisse hat er - seit 1952 in der Schweiz lebend - in mehreren Büchern - wie hier auch - in einer umschreibenden - nicht immer historisch korrekten - "Roman-Form" erzählt. Auch in diesen beiden Filmbüchern gibt es jede Menge Hintergrund- Informationen über das Entstehen der Filme, über die Regisseure und die kleinen und die großen Schauspieler, das jeweilige politische Umfeld und die politische Einflußnahme. Die einführende Seite dieses 2. Buches finden Sie hier.
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HINTER DEN KULISSEN DER DEFA
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Hilde Körber provoziert die Russen mit deren eigenen Ideen
Hilde Körber war die zweite Frau Veit Harlans, hatte sich von ihm schon Mitte der dreißiger Jahre getrennt und ging ihrem Beruf als Schauspielerin weiterhin nach.
Nach dem Zusammenbruch begnügte sie sich nicht mehr damit, nur Schauspielerin zu sein, sondern wollte eine aktive Rolle in der Politik spielen. Sie wurde Abgeordnete der CDU im Berliner Parlament.
Sie arbeitete aktiv in verschiedenen Kommissionen mit, und sie gehörte zu jenen mutigen Künstlern, die sehr energisch gegen den Versuch des Ostens protestierten, die Künstler politisch auszurichten - nämlich kommunistisch.
Als die Spaltung Berlins sich immer klarer abzeichnete, als zum Beispiel die Volksbühne sich als sowjetisch gesteuertes Instrument erwies, rief Hilde Körber die Freie Volksbühne im Westen ins Leben, und sie unterzeichnete auch eine Eingabe an den amerikanischen General Clay, in der dieser gebeten wurde, Ostflüchtlingen im Westen Asylrecht zu gewähren.
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Das war den Herren der DEFA, vor allem den Russen, zu viel. Der Körber, die einen Vertrag als Nachwuchslehrerin bei der DEFA besaß, wurde mit sofortiger Wirkung gekündigt.
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Regisseur Erich Engel und der Film über die „Affäre Blum"
Sie sollte auch in einem Film „Affäre Blum" mitwirken. Der Regisseur Erich Engel hatte besonderen Wert auf ihre Mitwirkung gelegt. Jetzt plötzlich war diese Mitwirkung - aus künstlerischen Gründen natürlich - unerwünscht.
Erich Engel schwieg dazu. Es schwieg auch der Drehbuchautor R. A. Stemmle - vermutlich hatte man die beiden gar nicht gefragt. Immerhin, sie dürften aus der Zeitung etwas über diese Affäre erfahren haben.
Sie schwiegen trotzdem. Und dies war nicht ohne Ironie, denn der Film „Affäre Blum", den sie herausbringen wollten, gedachte ja genau das anzuprangern, was hier geschah: die Vergewaltigung des Individuums durch die große Maschinerie des Staates, das Unrecht, das Mächtige ungestraft tun dürfen, nur weil sie mächtig sind; es soll ein eminent politischer Film werden - und wird es.
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Rückblick auf den Regisseur Erich Engel in 1933
Erich Engel stand am Anfang einer großen Filmkarriere, als Hitler an die Macht kam. Er machte sie dann trotzdem, erstaunlicherweise, denn er lag den Großen des Dritten Reiches ebensowenig wie sie ihm. Freilich beschränkte er sich auf Lustspiele, auf leichte Sachen, die er meisterhaft zu inszenieren verstand. Seine großen Erfolge bis zum Kriegsschluß waren Filme mit Jenny Jugo.
Nach dem Kriege wurde Erich Engel zunächst einmal Chef der Kammerspiele in München. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Film ihn holen wird. Jetzt braucht er sich nicht mehr auf kleine Lustspiele zu beschränken, jetzt kann er einen Stoff inszenieren, mit dem er sich schon seit Jahren beschäftigt hat, genaugenommen seit fast dreißig Jahren.
Denn Mitte der zwanziger Jahre ist es gewesen, daß Erich Engel die Berichte des Mordprozesses Haas studierte. Und schon Jahre vor Kriegsende sagte er zu R. A. Stemmle: „Das ist der erste Film, den ich mache, wenn Hitler gestürzt ist!"
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1946 - Ohne Lizenz konnte man keinen Film drehen
Er würde schon 1946 daran gehen, den Film zu machen, aber er hat keine Lizenz. Und als er Erich Pommer von dem Film erzählt, schüttelt der nur den Kopf.
Nein, er glaubt nicht, daß ein Film über den "Mordprozeß Haas" das Richtige wäre.
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Ein DEFA Mann fährt nach München .....
Da erscheint eines Tages - Erich Engel ist noch immer in München - der Produktionsleiter der DEFA, Herbert Uhlig, bei ihm in München in der amrikanischen Zone - ja, das gab es damals noch.
Engel erzählt ihm seinen Stoff. Uhlig telephoniert mit Berlin. (Anmerkung : das mit dem Telefonat ist nicht glaubwürdig, weil 1946 Ferngespräche fast nur im militärischen Bereich möglich waren) Innerhalb von zwei Tagen ist die Sache perfekt.
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Eine amüsante Duplizität der Ereignisse: ungefähr um die gleiche Zeit - es mag auch ein paar Wochen früher gewesen sein - meldet sich ein sehr dürftig angezogener Herr mittleren Alters in dem Büro der DEFA. Er stellt sich als Kriminalkommissar Busdorf vor.
Er erzählt: „Ich habe viel Interessantes in meinem Leben mitgemacht ..." Da er sieht, daß Lindemann interessiert ist, fährt er fort: „Ich besitze das ganze Originalmaterial zu jener Haas-Mordsache in Magdeburg. Zeitungen, Unterlagen, alles!" - Busdorf bekommt für das Material fünftausend Reichsmark.
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Das Nachspiel in Ost-Berlin .....
Zwei Jahre später wird die Sache noch ein Nachspiel haben. Um diese Zeit ist Lindemann bereits verhaftet. Er sitzt in einer Einzelzelle im Polizeipräsidium, wird aber schließlich als Hilfsfriseur abkommandiert und darf andere Sträflinge einseifen.
Der sechste Mann, den er einseift, kommt ihm bekannt vor. Der flüstert - denn Unterhaltungen sind natürlich verboten: „Mensch, kennste mich nicht? Ich bin doch Kriminalkommissar Busdorf, der Euch die Haas-Akten verkauft hat!"
Es stellt sich heraus, daß der Mann in einem dieser Willkür-Urteile zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. In der Ostzone bzw. SBZ hat man ihm vorgeworfen, er habe die Stellung als Schußwaffen-Sachverständiger dazu ausgenutzt, im Dritten Reich Morde zu decken.
Das klingt für alle diejenigen recht unwahrscheinlich, die von Busdorf wissen, daß er durchaus kein Nationalsozialist war und einmal sogar mit Goebbels hart aneinander geriet.
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Eva Ingeborg Scholz und der DEFA Film „1-2-3 Corona"
Zwei Jahre vorher - also zu der Zeit, da die „Affäre Blum" geplant wurde, bringt die DEFA einen kleinen sehr charmanten Film „1-2-3 Corona" heraus, der nur von jungen Menschen gespielt wird.
Die nicht gerade welterschütternde Story:
Zwei einander feindliche Jugendbanden schließen Frieden, um die junge Seiltänzerin Corona, die von ihrem Zirkusdirektor ausgenutzt und mißhandelt wird, zu retten. Sie pflegen das Mädchen, das abgestürzt ist, und gründen einen Zirkus, damit sie wieder auftreten kann.
Als Seiltänzerin Corona erscheint zum ersten Mal vor der Kamera die blonde Berlinerin Eva Ingeborg Scholz, die noch nicht zwanzig ist. Sie hat nach dem Kriege ein ziemlich bewegtes Dasein führen müssen, spielte - unter anderem - die Rolle einer alten und mit einer großen Nickelbrille versehenen, sehr häßlichen Frau, um die Russen von sich abzulenken.
In dieser Rolle war sie ausgezeichnet, obwohl sie nicht eine Stunde Schauspielunterricht gehabt hatte. Dann wurde sie Wäscherin, Reinmachefrau bei amerikanischen Offizieren, handelte auf dem Schwarzen Markt mit Süßigkeiten, war da allerdings nicht erfolgreich und machte Bankrott.
Dann gab ihr Lindemann einen Vertrag, und sie bekam Schauspielunterricht bei der DEFA.
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Eva Ingeborg ... kann reiten ....
Aber ihre erste Rolle erhält sie nicht auf Grund der Ergebnisse der Schauspielstunden, sondern weil sie so ausgezeichnet reiten kann. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß der starke Erfolg des Films etwas mit den schauspielerischen Künsten der kleinen Scholz zu tun hat.
Die existieren damals noch nicht. Aber er hat wohl etwas mit der Scholz im allgemeinen zu tun. Ihr Gesicht vergißt man nicht so schnell. Sie ist ein sehr liebliches Mädchen - in gewissem Sinne genau das Gegenteil von dem, was die Knef im gleichen Alter war.
Sie müßte eigentlich sehr schnell nach oben kommen, denn sie ist nicht nur Persönlichkeit, sie hat schauspielerisches Talent. In den nächsten Jahren wird sie auf der Bühne Triumphe feiern, man müßte annehmen, daß der Film, der ja immer frisches Blut braucht, alles täte, um sich dieses Talent zu sichern. Aber nichts dergleichen. Die Scholz bekommt viele Jahre lang kaum eine echte Chance.
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In der DEFA toben die wildesten inneren Kämpfe.
Alfred Lindemann wird den großen Erfolg des „1-2-3 Corona" - Films nicht mehr erleben - das heißt, nicht mehr als Direktor der DEFA erleben. Denn dort gibt es Anfang März 1948 einen Riesenkrach. Denn in der DEFA toben schon seit einem Jahr die wildesten inneren Kämpfe.
Anfang November 1947 war der sowjetische Kinominister - so etwas gab es - persönlich nach Berlin gekommen. Schwerwiegende Verhandlungen hatten am 4. November 1947 begonnen und wurden am folgenden Tage fortgeführt. Die ganze nächste Nacht ging noch drauf. Und dann wurde beschlossen, die GmbH in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln.
Die Gründe hierfür lagen auf der Hand. Die GmbH war mit relativ geringem Kapital gegründet worden. Die Aktiengesellschaft würde eine Kapitalerhöhung nötig machen. Das Kapital - zehn Millionen - konnte nur von den Russen kommen.
Die DEFA, schon jetzt in den Händen der Russen, die 51 Prozent der Anteile besaßen, würde nun in noch viel stärkerem Maße russisch werden. Zwar hieß es in jener historischen Nachtsitzung, daß die Russen „nur" 55 Prozent haben sollten und die Deutschen 45 Prozent, aber das war wohl nur für den Anfang gedacht.
Problematischer mußte es schon anmuten, daß jetzt Russen in den Vorstand dieser angeblich deutschen Gesellschaft eintraten. Und das war das Todesurteil für Lindemann. Denn Maetzig und Klering, die beiden, mit denen zusammen Lindemann die DEFA gegründet hatte, schlugen sich sofort auf die Seite der Russen. Maetzig wollte nämlich künstlerischer Leiter der DEFA werden. Klering wollte einfach nur am Leben bleiben.
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8. März 1948 -
Das Schicksal schlägt zu - Lindemann wird verhaftet
Noch ist Lindemann der wichtigste Mann der DEFA - er leitet die Produktion, er übt die Funktion eines Generaldirektors aus. Aber schon wird Material gegen ihn gesammelt und an die offiziellen Stellen geschickt. Also von den Russen an die Russen.
Es gibt Krach. Eine Untersuchungskommission gegen Lindemann wird eingesetzt und man beschuldigt ihn, Unterschlagungen und Verschleierungen begangen zu haben. Er soll aus dem Vorstand heraus, aber er soll - und das ist recht lustig - weiterhin die Produktion leiten. Lindemann lehnt ab.
Daraufhin schaltet sich die ostzonale Partei ein, die Kommunistische Partei oder, wie sie sich nennt, die Sozialistische Einheitspartei, die SED. Sie beschließt: Lindemann muß gehen. Man bietet ihm sogar einen Abstand von sechzigtausend Mark an. Er lehnt ab. Daraufhin wird er hinausgeworfen. - Eine Aera endet.
Lindemann verklagt die DEFA. Es stellt sich heraus, daß zumindest Lindemann keine Unterschlagungen begangen hat. Das hilft ihm nicht, denn daraufhin wird er einfach verhaftet.
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DER VERSCHWUNDENE BUCHHALTER
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1947 - Erich Engel schießt ein Eigentor - mit der Steuer ...
Der Regisseur Erich Engel ist 1947 nach Berlin gekommen, um den Vertrag mit der DEFA abzuschließen. Die Verhandlungen ziehen sich hin, denn der Regisseur verlangt 120.000 Reichsmark für den Film.
Vergebens bedeutet ihm - der damals noch nicht verhaftete - Lindemann: „Du kriegst doch keinen Pfennig heraus, bei der Steuer!" Erich Engel bleibt hartnäckig.
Laut Lindemann bekommt er dann seine 120.000 Reichsmark, aber da er auch noch als Regisseur am Deutschen Theater in Berlin Gehalt bezieht, muß er - nach Lindemann - nicht nur die 120.000 Reichsmark als Steuer bezahlen, sondern darüber hinaus noch 16.000 Reichsmark aus eigener Tasche.
Vielleicht übertreibt Lindemann bei seinen Erzählungen da ein bißchen, aber es kann auch in etwa stimmen. Die Steuergesetze in jenen Tagen kann man am besten als "surrealistisch" bezeichnen.
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Die Story jener Affäre Haas - als Film jetzt die „Affäre Blum"
Worum handelt es sich nun eigentlich bei jener Affäre Haas, die als „Affäre Blum" verfilmt wird?
Die Geschichte beginnt im Oktober 1926. Der stellungslose Buchhalter Helling hat sich per Fahrrad von Magdeburg, dort lebt er, nach Klein-Rottmersleben begeben. Auf eines seiner vielen Stellungsgesuche in den Zeitungen von Magdeburg und Umgegend war ihm vom Bürgermeister von Klein-Rottmersleben der Posten eines Direktors in der dortigen Spar- und Darlehnskasse angeboten worden.
Er sollte sich an dem betreffenden Tage mit allen Referenzen in einem bestimmten Hause melden und fünfhundert Mark Bargeld als Kaution mitbringen. Seine Angehörigen erinnern sich ferner, daß er sein Scheckbuch eingesteckt hatte, aber sie erinnern sich nicht mehr der Adresse des Hauses.
Das ist bedauerlich, denn der stellungslose Buchhalter Helling kommt von seiner Fahrt nicht mehr zurück. Die Familie erstattet Vermißtenanzeige. Und dann dauert es einige Zeit, bis sie wieder etwas hört.
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Der Kriminalkommissar ten Holt aus Magdeburg ...
Es ist der Magdeburger Kriminalkommissar ten Holt, der bei ihr vorspricht und einen Scheck vorweist, der mit der Unterschrift Hellings versehen ist. Aber er ist drei Tage nach dem Verschwinden ausgestellt worden.
Es fällt nicht schwer herauszufinden, daß es sich um eine Fälschung handelt. Und der Waffenhändler, der ihn gelegentlich des Ankaufs eines Jagdgewehrs in Zahlung nahm, kann sich noch genau des Käufers entsinnen: es handelte sich um einen jungen Mann mit einem Schmiß auf der linken Wange.
Ein junger Mann Namens Richard Schröder wird verhaftet
Etwa zwei Tage, nachdem ten Holt der Familie den Scheck präsentiert hatte, wird Richard Schröder, ein junger Mann mit einem Schmiß auf der linken Wange, verhaftet und von dem Waffenhändler identifiziert.
Er erzählt eine recht harmlos klingende Geschichte darüber, wie er in den Besitz des Scheckbuches gekommen sein will. Ten Holt glaubt ihm. Denn dieser Schröder ist ihm, obwohl er sich in der Schecksache nicht ganz korrekt benommen hat, äußerst sympathisch.
Er war nach dem Kriege Freikorpskämpfer unter Lettow-Vorbeck. Er hat das zackige Benehmen leidenschaftlicher Militaristen. Er schlägt bei jedem Wort die Hacken zusammen. Den Schmiß hat er sich übrigens selbst mit dem Rasiermesser beigebracht - weil er, so getarnt, „dazuzugehören" hoffte.
Nun, Herr ten Holt, schon 1926 Mitglied der NSDAP, wovon er freilich nichts sagt, ist ebenfalls ein alter Freikorpskämpfer, und überhaupt sind ihm schneidige junge Leute auch aus anderen, privaten Gründen nicht unsympathisch.
Infolgedessen hält er es für völlig ausgeschlossen, daß Schröder, bei dem man übrigens nicht nur das Scheckbuch, sondern auch andere Gegenstände findet, die dem Vermißten gehörten, etwas mit dessen Verschwinden zu tun hat.
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Der Komissar sucht daher anderswo.
Er hört, daß der entlassene Buchhalter Helling Material gegen den Fabrikanten Rudolf Haas sammelte. Helling hatte sogar eine Anzeige wegen Steuerhinterziehung geplant. Vielleicht hat er auch nur versucht, Haas zu erpressen. Genaueres kann ten Holt nicht erfahren. Aber das genügt ihm. Denn Haas ist in Magdeburg durchaus kein Unbekannter. Er gehört zu den Prominenten der Stadt. Er ist nicht nur Fabrikant - und übrigens ein sehr angesehener Mann; er ist auch Sozialdemokrat und - das ist das Schlimmste! - Jude.
Dies alles spielt eine entscheidende Rolle im Denken und Planen des Kriminalkommissars ten Holt, wie später durch Akten eindeutig bewiesen werden wird. Auch sein Vorgesetzter, der Untersuchungsrichter Kölling, neigt zu der Überzeugung, einem Juden und Sozialdemokraten sei alles zuzutrauen!
Der junge Schröder hat auch sofort eine Geschichte parat, die zwar völlig unsinnig ist, ten Holt aber sehr einleuchtend erscheint.
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Die abenteuerliche Geschichte geht so :
Eines Abends habe ein Auto gehalten, ein Herr, der im Dunkeln nicht zu erkennen gewesen sei - auch den Chauffeur habe er nicht richtig sehen können - habe ihn gefragt, ob er, Schröder, bereit sei, ein Ding zu drehen. Der Mann habe ihn dann gebeten, in das Auto zu steigen. Das habe er getan. Nach einer Weile habe der Mann erklärt, es sei doch wohl nicht der rechte Moment, um das Ding zu drehen, und er solle wieder aussteigen. Die Nummer des Autos, das sofort losgebraust sei, habe er sich leider nicht gemerkt.
Neben Schröder im Fond des Wagens habe sich ein Mantel gefunden. Er griff sozusagen automatisch in die Tasche - und was fand er darin? Die Gegenstände, die man später bei ihm fand, unter anderem das Scheckbuch und die Uhr.
Ten Holt ist nun seiner Sache sicherer denn je. Helling hat Verdacht auf den Fabrikanten gehabt! Grund genug für diesen, ihn verschwinden zu lassen. Haas ist der große Unbekannte, in dessen Wagen sich ein Mantel mit dem Scheckbuch und der Uhr Hellings befand!
In Magdeburg haben gar nicht so viele Leute ein Auto. Und dazu noch einen Chauffeur! Kriminalkommissar ten Holt begibt sich zu Rudolf Haas. Der ist äußerst erstaunt, die Anschuldigungen zu vernehmen, und bestreitet jegliche Kenntnis der Tat. Er äußert sogar sehr unliebenswürdig, er habe keine Zeit für die Phantasien jedes albernen Kriminalkommissars.
Daraufhin wird er verhaftet. Auch sein Chauffeur wird verhaftet, weil er doch nach Schröder von der Sache gewußt haben muß.
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So beginnt die Antisemitismus Affäre Haas.
Eine solche Verhaftung wäre in einer Großstadt kaum vorstellbar. Man bedenke: ein angesehener, prominenter Bürger der Stadt wird verhaftet auf einige vage Aussagen eines Mannes, der offen zugibt, Diebstahl und Scheckfälschung begangen zu haben, ja, bei dem man sogar Gegenstände gefunden hat, die einem Vermißten, möglicherweise Ermordeten gehören.
Aber auch in Magdeburg könnte eine solche Verhaftung nicht vierundzwanzig Stunden aufrechterhalten werden, wäre nicht der Untersuchungsrichter Kölling ebenso überzeugt wie der Kriminalkommisar, daß von einem Sozialdemokraten und Juden nur das Schlechteste zu erwarten sei.
Bei ihm spielt (wir sind in 1926) der Antisemitismus noch eine weit größere Rolle als bei seinem Untergebenen. Er wird ein Exempel statuieren, über das man noch lange sprechen wird. Er wird vor allem diesem Herrn Haas zeigen, daß vor dem Recht alle gleich sind - reich oder arm.
Frau Haas wünscht Sprecherlaubnis mit ihrem Mann? Abgelehnt! Rechtsanwalt Dr. Braun wünscht Einsicht in die Akten? Abgelehnt! Rudolf Haas legt kein Geständnis ab? Dann wird er sitzen, bis er blau wird!
Sein Chauffeur behauptet, von der ganzen Sache nichts zu wissen, niemals nächtlicherweise angehalten zu haben, um einen Unbekannten einsteigen zu lassen, mit dem sein Chef ein Ding drehen wollte?
Nun gut, nach ein paar Wochen wird er sich das schon überlegen und den Mund aufmachen.
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Und auf einmal sind "alle" beisammen ...
Aber Frau Haas wird es müde zu warten. Auch hat Rudolf Haas mächtige Freunde. Der Oberpräsident der Provinz Sachsen, Otto Hörsing, ein Sozialdemokrat, fragt beim Kammergericht an: „Wie steht die Sache Flaas nun eigentlich?"
Kölling ist empört. Er trommelt alte Kameraden zusammen. Versammlungen werden abgehalten, in denen Richter Resolutionen gegen „Einmischung der Regierung" fassen. Die Rechtspresse klopft den Herren auf die Schulter. Ganz recht haben sie! Sich nur nichts gefallen lassen!
Längst ist der Fall über Magdeburg hinaus bekannt geworden. Auch in Berlin, Hamburg, Köln und München beschäftigt sich die Presse mit der Angelegenheit. Überall kommt es zu einer Spaltung der Meinungen.
Man braucht nur zu wissen, wie einer zum Fall Haas steht, um zu sagen, wo er politisch steht. Die noch kleine und unbedeutende nationalsozialistische Presse hat Schaum vor dem Mund.
Die Hugenberg-Presse stärkt den Herren Kölling und ten Holt den Rücken: „Nur weiter so!"
Das Berliner Tageblatt geht in Kampfstellung
Lediglich die liberale Presse äußert Zweifel, meint, es ginge ja schließlich nicht an, einen unbescholtenen Bürger wie Rudolf Haas monatelang in Untersuchungshaft zu lassen, ohne daß man wirkliche Beweise in Händen habe.
Einige Zeitungen, vor allem das Berliner Tageblatt - um diese Zeit ohne Zweifel das bedeutendste Blatt Deutschlands - gehen in Kampfstellung; sie fordern die Freilassung von Rudolf Haas.
Die Folge davon: Niemand in Magdeburg ist mehr seines Lebens sicher, der das Berliner Tageblatt liest. Die Händler besteilen es ab. „Unbekannte Missetäter" - so heißt es in Polizeiberichten - „entfernen das Berliner Tageblatt aus den Kiosken."
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Es beginnt ein veritabler Bürgerkrieg (in 1926) ........
Hier geht im Kleinen vor, was zur Zeit der Affäre Dreyfus im Großen in Frankreich geschah. Die Anti-Haasianer bekämpfen die Pro-Haasianer, beschimpfen sie als Bolschewisten, Juden oder Judenfreunde.
Aber die Herren Kölling und ten Holt sowie auch der Vorgesetzte Köllings, Landgerichtsdirektor Hoffmann, ebenfalls Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, erkennen: Ewig kann man Haas wirklich nicht im Untersuchungsgefängnis schmachten lassen, schon deshalb nicht, weil dieser sich infolge der Aufregungen ein schweres Herzleiden zugezogen hat.
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Und jetzt wird von der Justiz getrickst, was das Zeug hält
Man brauchte handgreifliche Beweise seiner Schuld. Kölling und Hoffmann beauftragen ten Holt, sie zu beschaffen. Schröder, der immer noch sitzt, aber unvergleichlich viel besser behandelt wird als etwa Haas oder dessen Chauffeur, muß heran. Kann er denn gar nichts Bestimmteres über den großen Unbekannten aussagen, der ihn angesprochen hat?
Schröder schüttelt bedauernd den Kopf, es sei zu dunkel gewesen. Die Unterhaltung zwischen ten Holt und Schröder findet in der Zelle Schröders statt, gerade als die anderen Untersuchungsgefangenen während der Mittagszeit im Hof auf- und abgehen dürfen.
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Der Zeuge Schröder wird manipuliert ..... oder :
Wie die Identifizierung von Haas „vorbereitet" wiurde.
Ten Holt bittet Schröder, mit ihm ans Fenster zu treten, deutet auf einen Mann und sagt: „Siehst du den Dritten in der Reihe?" Jawohl, er sagt schon Du zu ihm, wie später urkundlich nachgewiesen werden wird. „Das ist Haas. Und der Vorletzte ist der Chauffeur!"
„Jawohl!" äußert Schröder strammstehend.
„Sieh sie dir genau an, damit du sie wiedererkennst!"
„Wird gemacht!" läßt sich Schröder vernehmen. - Ein Mann - ein Wort.
Und nun kommt es zur sogenannten Identifizierung. Im Büro des Untersuchungsrichters Kölling werden ein paar Häftlinge und ein paar Justizbeamte aufgestellt. Auch Rudolf Haas und sein Chauffeur müssen mitwirken. Schröder wird hereingeführt. Kölling fordert ihn auf, die Männer zu mustern. Ist vielleicht der große Unbekannte darunter, der ihn im Auto mitgenommen hat?
Schröder schreitet nachdenklich die Reihe ab. Er bleibt dann - o Wunder! - vor Haas stehen. „Das ist der Mann!" Auch den Chauffeur vermag er dergestalt zu identifizieren. Ten Holt und Kölling reiben sich die Hände. Aber es ist noch zu früh.
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DIE AUFKLÄRUNG
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Triumph der Magdeburger Konspiranten.
Triumph der Rechtspresse. Ist Rudolf Haas jetzt nicht überführt? Gibt es überhaupt noch Zweifel an seiner Schuld? Ja, sagt die andere Seite. Es gibt mehr Zweifel denn je.
Selbst wenn ein Dieb und Scheckfälscher behauptet, in dem unbescholtenen Haas einen Mann zu erkennen, den er bis dahin nicht erkennen konnte, weil es zu dunkel war - was bedeutet das schon?
Daß Haas ein Mörder ist? Frau Haas, Oberpräsident Hörsing und Rechtsanwalt Dr. Braun konferieren. Hörsing beschließt zu handeln. Er läßt Kriminalkommissar Busdorf aus Berlin kommen. Busdorf ist einer der besten Kriminalisten Deutschlands, wenn nicht der Welt. Er hat zahllose Verbrechen aufgeklärt, besitzt internationalen Ruf. Eigentlich sollte der Magdeburger Untersuchungsrichter glücklich sein, einen so tüchtigen Beamten zur Verfügung zu haben.
Aber Kölling ist gar nicht glücklich. Im Gegenteil. Er erklärt, er müsse Herrn Busdorf ablehnen. Es handele sich um eine Magdeburger, nicht um eine Berliner Angelegenheit ...
Die Magdeburger Kollegen wollen also vertuschen ...
Busdorf lächelt grimmig. So ist das also? Die Herren wollen die Wahrheit nicht erfahren? Nun, er wird sie trotzdem herausbringen. Er macht sich an die Arbeit.
Später wird man sagen, daß es gar nicht eines solchen Mannes wie Busdorf bedurft hätte, den Fall aufzuklären. Jeder auch nur einigermaßen kompetente Kriminalbeamte hätte das gemacht.
Nichts anderes war notwendig, als den Spuren nachzugehen. Bei wem hat man denn Uhr und Scheckbuch des verschwundenen Buchhalters gefunden? Bei Schröder natürlich. Also sieht sich Busdorf dieser Schröder ein wenig genauer an.
Im übertragenen Sinne natürlich - denn in Person bekommt er ihn nicht zu Gesicht. Schröder sitzt ja noch in Untersuchungshaft, wenngleich ihm ten Holt täglich versichert, es könne nicht mehr lange dauern.
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Das Auffinden von Beweismaterial ist dermaßen einfach
Was Busdorf da an Informationen über den jungen Schröder findet, will ihm gar nicht gefallen. Und nun stellt er fest: Buchhalter Helling ist von seiner Fahrt aus Klein-Rottmersleben nicht zurückgekommen. In Klein-Rottmersleben ist auch sein Fahrrad verkauft worden.
Von wem? Von einem jungen Mann. Der hat es von wem? Von Schröder, ja, Schröder lebte in Klein-Rottmersleben, in einem kleinen, verkommenen Einfamilienhaus. Busdorf fährt nach Klein-Rottmersleben hinaus.
Hat denn die Magdeburger Kriminalpolizei niemals das Haus des verhafteten Schröder untersucht? Sie hat nicht. Busdorf gelingt es ohne Schwierigkeiten, mit einem Nachschlüssel die Haustür zu öffnen. Er geht von Zimmer zu Zimmer, sucht nach irgendwelchen Indizien. Er findet in einer Wand eine Revolverkugel. Er findet im Keller eine Stelle, die erst vor kurzem umgegraben worden ist.
Er besorgt sich eine Schaufel und beginnt zu graben. Nach einer halben Stunde liegt der Leichnam des vermißten Helling vor ihm. Er ist durch drei Schüsse getötet worden. Ein Schuß ist, wie man später feststellen wird, durch den Körper hindurch in die Wand eingedrungen. Es ist jene Kugel, die Busdorf bereits entdeckte.
Der Kriminalbeamte begibt sich mit seiner immerhin erstaunlichen Neuigkeit zum Untersuchungsrichter Kölling. Bricht der zusammen? Gibt er sich geschlagen? Keineswegs. Busdorf wird angeschnauzt. Wie kommt er dazu, in einem fremden Haus eine Leiche auszugraben? Das ist Hausfriedensbruch, Anmaßung von Amtsgewalt. Resigniert fährt Busdorf nach Klein-Rottmersleben zurück und gräbt den Leichnam wieder ein.
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Jetzt kommt Schwung und Bewegung in die Strafsache
Aber er verständigt natürlich Dr. Braun. Und der schlägt Krach. Das Berliner Tageblatt veröffentlicht Details über den grausigen Fund im Keller des Einfamilienhauses von Klein-Rottmersleben.
Über den Kopf von Richter Kölling hinweg bestimmt ein Vorgesetzter, daß zwei Kriminalbeamte aus Berlin ten Holt behilflich sein sollen. Es kommen also Kriminalrat Riemann und Kriminalkommissar Blaschwitz aus Berlin und graben den Leichnam wieder aus. Es wird festgestellt, daß es sich um Mord handelt.
Und Untersuchungsrichter Kölling erklärt nun seelenruhig: „Also hat dieser Haas einen Mord begangen!" In der Tat wird Anklage gegen Haas wegen Mordes erhoben.
Aber jetzt ist der Gang der Ereignisse nicht mehr aufzuhalten. Vergebens ersucht Kölling die Berliner Kriminalisten, „mit Takt" vorzugehen. Die Berliner kennen dieses Wort nicht, wenn es sich um Aufklärung eines Mordes handelt.
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Immer noch in 1926 - die Maniplation des Rechts geht weiter
Vergebens versucht ten Holt, die Berliner dazu zu bewegen, sein Schoßkind Schröder mit Glacehandschuhen anzufassen. „Der ist doch der Mörder!" sagt einer der beiden Beamten. Ten Holt fährt auf: „Sie haben ja keine Beweise!"
„Wir werden sie finden!" Sie finden sie. Sie stellen fest, daß die Freundin des jungen Schröder - bald nach dem Verschwinden Hellings - aus Klein-Rottmersleben fortgezogen ist.
Sie stellen fest, daß das junge Mädchen jetzt bei einem Zahnarzt in Köln arbeitet, Sie fahren zu ihr. Sie vernehmen sie. Die Vernehmung dauert nur ein paar Minuten.
Das Mädchen bekommt einen Weinkrampf. Sie gesteht alles, was sie weiß: daß ihr Freund Richard den Mord begangen hat, daß sie daraufhin mit ihm Schluß gemacht hat, weil man doch mit einem Mörder nicht leben kann ...
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Das Kartenhaus von ten Holt und Kölling bricht zusammen
Und nun bricht das ganze Kartenhaus der Herren ten Holt und Kölling zusammen. Landgerichtsdirektor Hoffmann distanziert sich von Kölling: „Sie haben mich nicht richtig informiert!". - Kölling distanziert sich von ten Holt: „Sie haben mich belogen!" Ten Holt hat aber niemanden, von dem er sich distanzieren könnte.
Schröder gesteht - ein wenig mehr als den Herren, die ihn so fürsorglich deckten, lieb ist. Er gibt nicht nur zu, den Mord begangen zu haben: „Ich brauchte Geld!" Und warum hatte er Haas beschuldigt?
„Ich hatte nicht die geringste Absicht, es zu tun. Ich kannte Haas gar nicht. Aber ten Holt drang ja immer wieder in mich, den Juden zu belasten ... Und Kölling ebenfalls ..."
Er erzählt, wie die Identifizierung von Haas „vorbereitet" wurde.
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Haas wird aus der Untersuchungshaft entlassen.
In einer sensationellen Schwurgerichtsverhandlung wird Richard Schröder wegen Raubmordes zum Tode verurteilt, später zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Hoffmann und Kölling werden in einem Verfahren vor dem "Richterlichen Disziplinargericht" in erster und zweiter Instanz zu schweren Strafen verurteilt. Kölling muß den Dienst quittieren, desgleichen natürlich ten Holt.
Landgerichtsdirektor Hoffmann wird strafversetzt, aber er nimmt das Urteil nicht an. Er tritt aus dem Staatsdienst aus und läßt sich als Rechtsanwalt am Landgericht Magdeburg nieder. Die damalige "Rechtspresse" feiert ihn als Heiden.
Warum eigentlich? Liegen nicht untrügliche Beweise dafür vor, daß sich dieser Hoffmann aufs übelste benommen hat? Tut nichts zur Sache ! Die heraufkommende "Nationalsoziaiistische Arbeiterpartei" überträgt ihm alle ihre Fälle - und es gibt deren mehr als genug.
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Der Kampf geht weiter - sogar bis nach 1933 im NS-Staat
Der Präsident des Kammergerichts Tigges, der die Berufungsverhandlung vor dem Disziplinarsenat in Berlin großartig geführt hat, wird unaufhörlich von der Nationalsozialistischen Presse angegriffen.
Warum eigentlich? Ist es nicht aktenkundig, daß Präsident Tigges sich einwandfrei aufgeführt hat? Tut nichts! Und als Hitler an die Macht kommt, wird Tigges entlassen.
Der ehemalige Landgerichtsdirektor Hoffmann wird jetzt als Landgerichtspräsident der vereinigten drei Landgerichte nach Berlin berufen. Auch der ehemalige Untersuchungsrichter Kölling erscheint wieder aus der Versenkung.
Dr. Braun, der Vertreter von Haas, wird aus der Anwaltskammer ausgestoßen. Sein Buch „Am Justizmord vorbei" wird auf dem Domplatz in Magdeburg verbrannt.
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