Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil I - KAPITEL 12
"BABELSBERG UND FRIEDRICHSTRASSE"
Von laufenden Bändern und großzügigem Kalkül / Von kostspieligem Leerlauf und von angebundenen Geldgebern / Von zu kurzen Kapital- und Kreditdecken / Von Generaldirektoren und prolongierten Wechseln / Von Filmklubs und Premierenfieber
Es ist aber nur die „Untere" Friedrichstraße
Daß es bei uns anders war, ist schon daraus ersichtlich, daß ich mindestens zwei Ortsbezeichnungen brauche, um in der Überschrift anzudeuten, was in der deutschen Stummfilmgeschichte dem Begriff Hollywood entsprach.
Auch diese reichen eigentlich nicht aus; ich müßte mindestens noch Geiselgasteig nennen und erwähnen, daß wir es nicht mit der Berliner Friedrichstraße als Ganzem zu tun haben, sondern nur mit der „Unteren" Friedrichstraße, also etwa von der Leipziger Straße bis zum Belle-Alliance-Platz.
Dafür in den USA auch die Westküste erwähnen
Ein Kenner der amerikanischen Filmindustrie könnte einwenden, daß auch dort nicht alles in Hollywood konzentriert ist und daß die großen Filmgesellschaften die Zentralen ihrer Verleih- und Vertriebsorganisationen in New York haben, wo sich auch die Stammbüros ihrer eigenen und anderer großer Konzerne befinden, die nicht nur in New York, sondern in jeder größeren Stadt der Vereinigten Staaten ihre Kinopaläste unterhalten.
Doch New York ist nicht „Hollywood"
Das ist richtig. Aber daß es in einigen New Yorker Wolkenkratzern und in den oberen Stockwerken einiger New Yorker Kinopaläste eine Menge von Filmbüros gibt, bedeutet noch keinen filmhistorischen Begriff, wie er etwa in den Worten „Hollywood" und „Untere Friedrichstraße" zum Ausdruck kommt. Beide Begriffe sind von der Struktur der Filmindustrie bedingt, und jeder der beiden gibt eine Teilantwort auf die Frage, die ich am Schluß des vorigen Kapitels stellte.
Man hat natürlich auch von Hollywood gelernt . .
Hat die deutsche Filmindustrie von Hollywood ebensoviel gelernt wie die amerikanische Filmindustrie von den führenden deutschen Regisseuren und Technikern, die man durch den unwiderstehlichen Wink mit dem vierstelligen Wochenscheck herüberholte?
Die Antwort ist: ja und nein. Man hat natürlich auch von Hollywood gelernt, in dem gleichen Sinne, in dem alle schaffenden Künstler immer und überall voneinander lernen; aber was man nie von Hollywood lernen konnte, war die Produktionsroutine, die eben nur in Hollywood möglich war, wo fast die gesamte Riesenindustrie sich auf ein halbes Dutzend Mammutkonzerne konzentrierte, deren jeder auch die teuersten Filme auf dem riesigen Absatzgebiet des Heimatmarktes amortisieren konnte und zum Überfluß noch eine weltweite Vertriebs-Organisation zur Verfügung hatte.
Der Einheitsbrei aus Hollywoods Filmfabriken
Man konnte daher die Filme am laufenden Band herstellen, was qualitativ den sattsam bekannten Nachteil hatte, daß sie fast alle „über den gleichen Kamm geschoren" waren, und daß man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für künstlerische Experimente wenig Zeit und Lust hatte. Denn man war ja - und gerade das ist für die Beantwortung unserer Frage entscheidend - in einen fast reibungslos und dauernd auf hohen Touren laufenden Fabrikbetrieb eingespannt.
Hollywood - eine ausgereifte Produktionsmethode
Es war eine Produktionsmethode, die es ermöglichte, jeden Leerlauf zu vermeiden und zahlreiche Künstler und Techniker unter langfristigen Verträgen zu halten und jederzeit zu beschäftigen.
Man konnte die allgemeinen Kosten sehr großzügig kalkulieren, denn man disponierte auf sehr lange Sicht, und man arbeitete in eigenen Ateliers und mit eigenem, längst aufeinander eingespieltem Personal.
Man konnte es sich getrost leisten, hier und da etwas verschwenderisch zu sein, denn man machte ja unfehlbar erhebliche Einsparungen, indem man etwa einen besonders teuren „Bau", nachdem er für einen Film „abgedreht" war, in der nächsten Woche mit geringfügigen Änderungen für einen anderen Film benutzte.
Nur die UFA war mit Hollywood ebenbürtig
In Deutschland konnte allenfalls die UFA so großzügig und auf so lange Sicht disponieren. Die paar anderen halbwegs „groß" fundierten Firmen - wie etwa die Emelka, die Phöbus, die Terra - mußten in erheblich bescheidenerem Maße wirtschaften, denn sie hatten oft nicht viel mehr als das Mindestmaß einer Kapital- und Kreditdecke, die es gestattete, etwa vier oder fünf Filme zu finanzieren und für die zwei nächsten auf die Einnahmen aus den ersten beiden angewiesen zu sein.
Eine „Umlaufzeit" von mindestens fünfzehn Monaten
In einer Industrie, in der man mit einer „Umlaufzeit" von mindestens fünfzehn Monaten rechnen muß, um für die ersten Ausgaben die ersten Einnahmen eines Filmes zurückzubekommen - in einer solchen Industrie müßte es für jedes solide kaufmännische Kalkül unsinnig erscheinen, das Wagnis einer Produktion zu unternehmen, solange nicht für mindestens vier Filme, also etwa die Jahresproduktion einer kleinen Firma, die Finanzierung gesichert ist.
Kann man von Künstlern Vernunft verlangen ?
Aber die Mehrheit der kleineren und mittleren Fabrikanten hat kaum je so vernünftig kalkuliert. Sie arbeiteten fast alle mit viel zu teuren Krediten, denn die sehr hohen Zinsen waren bei dem hohen Risiko der Geldgeber nur zu begreiflich.
Oft genug kosteten die Finanzierungsverhandlungen mehr Zeit (und mehr Gehirnakrobatik) als die Herstellung des Films. War dann der letzte Drehtag endlich durchgestanden und die letzte Rechnung an die Kopieranstalt bezahlt (oder durch Wechsel akkordiert), dann begann das, was man in der Unteren Friedrichstraße die „Verschnaufpause" nannte, bis man an die komplizierten Finanzierungsverhandlungen des nächsten Films gehen konnte.
Und während der „Verschnaufpause" . . . .
Inzwischen liefen die General(un)kosten der kleinen Firma weiter; es gab also kostspieligen Leerlauf oder es mußte eingearbeitetes Personal entlassen werden, das dann vielleicht zum nächsten Film nicht mehr verfügbar war. Alles in allem also eine nicht gerade rationelle Arbeitsweise.
Aber mit dieser Methode wurden in den zwanziger Jahren sehr viele deutsche Filme hergestellt, und man konnte noch von Glück sagen, wenn man dabei nicht zu Mitteln greifen mußte, die in der Unteren Friedrichstraße die „Anbindungsmethode" genannt wurden.
Die „Anbindungsmethode" . . . .
Der „Angebundene" war dabei einer der Geldgeber, vorzugsweise derjenige, der schon am meisten in den Film investiert hatte. Dem sagte man, daß leider noch zwei Drehtage nötig seien, um den Film fertigzustellen, und wenn das dafür noch offene Defizit von 10.000 Mark nicht innerhalb achtundvierzig Stunden gedeckt werden könnte, dann sei der ganze Film in Gefahr, weil das Atelier nächste Woche schon anderweitig vermietet wäre und zwei der Hauptdarsteller langfristige andere Engagements hätten.
Man könnte es auch Erpressung nennen . . .
Wer würde nicht, um 100.000 Mark zu retten, noch weitere 10.000 nachschießen? Die Geldgeber seufzten, aber sie zahlten; übrigens entsprachen die ihnen gemachten Angaben meistens der lauteren Wahrheit; abgesehen davon, daß sich am allerletzten Drehtag noch die Notwendigkeit von Überstunden und ein zusätzliches Defizit von 4.000 Mark ergeben würde; man würde dann im letzten Moment einen Boten zur Bank des „angebundenen" Geldgebers schicken müssen, um zu vermeiden, daß die Atelierlampen ausgingen, bevor eine der wichtigsten Szenen des Films abgedreht war.
Einige Filme waren (unter diesen Umständen) sogar erstaunlich gut
So, oder doch so ähnlich, sind in den zwanziger Jahren eine ganze Menge deutscher Filme zustande gekommen, und manche von ihnen waren durchaus nicht so schlecht, wie es unter solchen Umständen zu erwarten gewesen wäre.
Einige waren sogar erstaunlich gut, obgleich (oder weil) die verantwortlichen „Generaldirektoren" ihre wesentliche Gedankenarbeit nicht so sehr dem Drehbuch und den Regieeinfällen widmen konnten als der Prolongierungsmöglichkeit der jeweils fälligen Wechsel und der Beschaffung neuer Kredite.
Spötter sprachen von den „Usancen der Branche"
Das waren nun einmal, wie man teils spöttisch, teils entschuldigend zu sagen pflegte, die „Usancen der Branche"; es war die despektierlichere der sonst durchaus respektablen Komponenten, die man mit dem Begriff „Untere Friedrichstraße" verband.
Denn zu einem Begriff war im Laufe der Jahrzehnte das Quartier der deutschen "Filmindustrie" geworden: zu einem jedermann nicht minder geläufigen Begriff wie etwa der des Hausvogteiplatzes als Standort der "Konfektion".
Und daß eine ganze Reihe von Konfektionären vom Hausvogteiplatz zur Unteren Friedrichstraße herüberwechselten und einige dort großen Erfolg hatten, das sei nur am Rande und ohne jeden Zynismus vermerkt.
Wenn Film-„Magnaten" aus Konfektion und Pelzhandel hervorkommen
Ich will hier nicht versuchen, etwaigen soziologischen oder psychologischen Ursachen solcher Berufsverkettung oder Seelenverwandtschaft auf den Grund zu gehen, aber es ist jedenfalls eine unleugbare Tatsache, daß nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern (vor allem in Amerika) einige der erfolgreichsten Film-„Magnaten" aus der Konfektion und dem Pelzhandel hervorgingen.
Über die Standortbildung verschiedener Industrien und über die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Ursachen solcher räumlichen Konzentration sind schon viele tiefschürfende Untersuchungen veröffentlicht worden.
Die räumliche Konzentration war zwangsläufig
In der Filmindustrie war jedenfalls schon von Anfang an und durchaus nicht nur in Deutschland eine starke Neigung zu räumlicher Konzentration ersichtlich.
Denn der Berliner "Unteren Friedrichstraße" entspricht ein gewisser Abschnitt der "Champ Elysees" in Paris und der Wiener "Neubaugasse" sowie fast die gesamte "Wardour Street" in London.
Für Zöglinge eines Mädchenpensionats kaum geeignet
Daß es sich hier überall um Stadtviertel und Straßenzüge handelt, die der Oberin eines Mädchenpensionats für den täglichen Spaziergang ihrer Zöglinge kaum geeignet erscheinen würden, sei nur am Rande und lediglich als eine sozial-topographische Tatsache vermerkt.
Aus der „Oberen" Friedrichstraße wird die "Untere Friedrichstraße"
Für die deutsche Filmindustrie geht der „Standort" Friedrich-Straße bis ins vorige Jahrhundert zurück, nur daß es damals noch nicht die „Untere", sondern die „Obere" Friedrichstraße war, Nummer 95, zwischen dem Stadtbahnhof und der Dorotheenstraße.
Dort hatte sich 1897 die Messter-Projektographengesellschaft angesiedelt, aber schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts folgte auch diese Pionierfirma des deutschen Films den vielen anderen - wie etwa Gaumont, Duskes, Urban, Deutsche Bioskop usw., die sich in der „Unteren" Friedrichstraße zwischen dem Halleschen Tor und der Leipziger Straße ansiedelten.
In der Zeit des großen Aufschwungs von 1910-1914 . . .
. . . wuchs die Zahl der dort ansässigen Firmen um mehr als das vierfache, nämlich von vierundzwanzig auf hundertvier, wobei es sich meistens um neugegründete Vertriebsgesellschaften handelte.
Dann kam die Scheinblüte der Nachkriegszeit, die in dem einen Jahre 1919 für nicht weniger als sechzig Neugründungen zusätzliche Büroräume in der Unteren Friedrichstraße beanspruchte.
1923 - die Seifenblasen zerplatzten
Mit dem Ende der Inflation zerplatzten sehr viele dieser buntschillernden Seifenblasen, und nach der Stabilisierung der Mark im Spätherbst 1923 gab es auch in der "Unteren Friedrichstraße" einen sehr gesunden Schwund in der Zahl der Filmgesellschaften und Generaldirektoren.
Der neue Aufwärtstrend bis 1929
Dann ging es wieder langsam aufwärts, und bis 1929, also bis zum Ende der Stummfilmzeit, gab es wieder etwa 250 Filmgesellschaften, die fast alle in der Unteren Friedrichstraße oder einer ihrer Querstraßen angesiedelt waren.
Viele, viel zu viele von ihnen hatten freilich kaum etwas mehr aufzuweisen als einen hochtrabenden Firmennamen und eine prunkvolle Büroeinrichtung und natürlich auch mindestens einen „Generaldirektor", der den Anzahlungsvertrag für den Schreibtisch, den Perserteppich und die Pelzdecke auf der Bürocouch unterschrieb.
Die verschiedenen Adressen der UFA
Gewiß, es gab da viel Talmi ("Falschgold") und es war vielleicht eher ein Symbol als ZUFAll, daß die große UFA, nachdem sie bis 1927 in stolzer Einsamkeit am Potsdamer Platz domizilierte, sich nur etwa fünf Jahre lang in der Kochstraße (also dicht am „Filmviertel") ansiedelte, um sich dann zum Dönhoffplatz zurückzuziehen, also reichlich abseits von der auf so engem Raum zusammengerückten „Branche".
Könner, Kaufleute und Scharlatane
Aber seien wir nicht ungerecht. Es waren in der „Branche" auch jederzeit und von jeher Könner ihres Fachs und honorige Kaufleute, und unter denjenigen, denen man diese Prädikate beim besten Willen nicht zusprechen konnte, waren immerhin einige recht originelle Typen, denen man - vorausgesetzt, daß man kein Geld von ihnen zu fordern hatte - nie sehr lange gram sein konnte.
Auch sie hatten ihren Anteil an der eigenartigen Atmosphäre der „Unteren Friedrichstraße", in der fast in jedem Hause eine Filmgesellschaft zu finden war und in der man nicht nur kleinere Agenten und mittlere Hochstapler, sondern auch Industrielle von Format ein und aus gehen sah, nicht nur die ewig Gestrigen, sondern auch die Bannerträger neuer Ideen, nicht nur kleine Wichtigmacher, sondern auch große Künstler.
Die Geschäfte gehen schlecht, mein Lieber . . .
Wenn irgendwelche an sich bedeutungslose Vorgänge jahrzehntelang in der Erinnerung haften, dann sind sie wohl für das Milieu, in dem man sie erlebt hat, besonders bezeichnend.
Vielleicht war es also ein für die Atmosphäre der Unteren Friedrichstraße besonders charakteristischer Vorgang, daß ich einmal Paul Wegener dort begegnete, wie er, in düsteren Gedanken versunken, die Straße entlangschritt, neben sich einen bekannten Filmkaufmann, den er um Haupteslänge überragte und der achtungsvoll zuhörte, wie der große Tragöde ein über das andere Mal wiederholte: „Die Geschäfte gehen schlecht, mein Lieber, die Geschäfte gehen sehr schlecht."
Er sprach den Satz mit der gleichen Eindringlichkeit, mit der er, als Richard III. über die Bühne schreitend, vom „Winter unseres Mißvergnügens" sprach, und er schüttelte dabei gemessen seinen imposanten Charakterkopf. Dann verschwand er mit seinem Begleiter in Nummer 223, denn dort war der „Klub der Filmindustrie", in dem man zu Mittag aß.
Der „Klub der Filmindustrie" in Nummer 223
Dort trafen sich die Großen der Industrie (sofern sie es nicht vorzogen, im Bristol zu speisen), aber auch die Kleinen und die ganz Kleinen, die den Nachmittag damit verbrachten, stark über ihre Verhältnisse Romme oder Ekarte zu spielen.
Man traf dort Produzenten, Verleihchefs und Theaterbesitzer, die nach den Usancen der „Branche" Anspruch auf den beliebten Titel „Generaldirektor" hatten; man traf bekannte Regisseure und Schauspieler, aber man traf auch Menschen, deren wirtschaftliche Existenz so rätselhaft war, daß ich einmal einen sehr klugen Mann fragte, ob er mir vielleicht erklären könnte, wovon eigentlich der Y und der Z seit Jahren ihre Klubrechnungen und Spielverluste bezahlten sowie das Taxi, das sie jeden Nachmittag bestellten, wenn es endlich Zeit war, den Klub zu verlassen.
Wie rätselhafte Existenzen an Geld kommen
„Das ist doch sehr einfach", sagte der kluge Mann, „wenn einer der beiden sieht, daß an irgendeinem Tisch zwei Leute über die Balkanlizenz eines Films Verhandlungen führen, zu denen sie eigentlich gar nicht befugt sind, dann setzt er sich mit dazu; und wenn es zu einem Abschluß kommt, dann kriegt er seine zehn Prozent."
So war es wirklich. Denn in jenen „goldenen" Zeiten des Stummfilms konnte ein auf den Hauptmärkten längst abgespielter und amortisierter Film immer noch einige Drachmen, Pengö und Zloti bringen, wenn man griechische, ungarische und polnische Zwischentitel hineinklebte.
Das "prägnantes Gepräge" der „Unteren Friedrichstraße"
Von solchen Geschäften lebten und blühten und redeten ganze Heerscharen von Agenten; sie lebten nicht schlecht, sie blühten keineswegs im Verborgenen, sie redeten nicht sehr leise und sie trugen das ihre dazu bei, der „Unteren Friedrichstraße" ihr mehr oder minder erfreuliches, aber jedenfalls prägnantes Gepräge zu geben.
Gearbeitet wurde "draußen" in den Ateliers
Die Filmschaffenden selbst - wenn sie nicht gerade Arbeit suchten - sah man natürlich nur selten in den Büros der Friedrichstraße, denn sie waren tagsüber im Atelier und hatten dann kaum Zeit, zum Mittagessen in die Stadt zu fahren.
Sie aßen in der Atelierkantine, in der man einen Herrn in mittelalterlicher Ritterrüstung mit einer Dame im hypermodernen Gesellschaftskleid bei der Erörterung der Frage finden konnte, ob die Seezunge dem Wiener Schnitzel vorzuziehen sei.
In den Klub gingen die Filmschaffenden nur am Abend, aber dann freilich nicht in den „Klub der Filmindustrie" in der Friedrichstraße, der normalerweise nur tagsüber geöffnet war.
Noch ein Klub, der Klub „Bühne und Film" . . .
Sie gingen in den Klub „Bühne und Film" oder in den „Bühnenklub" oder auch zu Schwanecke, also zu dem von einem allgemein beliebten Schauspieler (dem Vater der bekannten Schauspielerin Ellen Schwanecke) gegründeten Klubrestaurant, das die polizeiliche Erlaubnis hatte, die ganze Nacht offen zu bleiben.
Dort traf man nur „Leute vom Bau", und nach einer großen Theater- oder Filmpremiere fanden sich dort so ziemlich alle zusammen, die mit der Uraufführung etwas zu tun gehabt hatten.
Warten auf den Morgen - Lob oder Verriß
Sie aßen dort und debattierten stundenlang über die Erfolgsmöglichkeiten der Premiere. Dann mußte man natürlich nochauf die Morgenzeitungen warten, denn wer würde nach einer Premiere schlafen gehen, ohne zu wissen, ob man eine gute Presse hatte oder „verrissen" wurde.
Man mußte also bis etwa drei Uhr morgens warten, denn da bei Schwanecke auch die Männer der Presse verkehrten, verstand es sich von selbst, daß schon die ersten Nummern der Morgenzeitungen, noch naß von Druckerschwärze, mitgebracht wurden.
Neun Stunden Zeitunterschied - Berlin - Hollywood
Da hatten wir es in Hollywood bequemer, wenn wir mit nicht minderer Spannung auf die Nachrichten über die Berliner Premiere einer deutschen „Version" eines von uns gedrehten Films warteten.
Wir lebten da im Vorteil eines Zeitunterschieds von neun Stunden, bekamen also schon am frühen Nachmittag den Kabelbericht über die Aufnahme der Siebenuhraufführung.
Wenn wir uns zum Nachmittagstee setzten, kam der kurz vor Mitternacht aus Berlin gekabelte Bericht über die Zahl der „Vorhänge" nach der Neun-Uhr-Aufführung und die sonstige Reaktion des Publikums, und zum Dinner hatten wir bereits den Bericht über die Pressestimmen in den Berliner Morgenzeitungen des nächsten Tages.
Eine Premiere in Hollywood wurde ganz anders ausgezogen
In Hollywood selbst wurde eine Premiere natürlich ganz anders „aufgezogen" als in Berlin, wo sich damals allenfalls ein paar Dutzend Zaungäste oder Autogrammsammler vor dem Seiteneingang des UFA-Palastes einfanden, um die zur „Verbeugung" zitierten Hauptdarsteller vorfahren zu sehen.
In Berlin war ja auch die größte und sensationellste Filmpremiere immer nur eines von sehr vielen Ereignissen, welche die Reichshauptstadt zu bieten hatte; in Hollywood war es jedesmal "das" Ereignis, alos immer die größte und sensationellste Premiere aller Zeiten.
Und die Premieren in Hollywood waren stets ausverkauf
Daß sie stets ausverkauft waren, verstand sich von selbst, und zwar ausverkauft, nicht „ausverschenkt", wie das bei unseren Premieren in Deutschland so häufig der Fall war.
Denn obwohl die Eintrittskarte mindestens 10 oder 15 Dollar kostete - die Einnahme galt immer irgendeinem populären und reichlich propagierten Wohltätigkeitszweck -, war es für jeden halbwegs prominenten Angehörigen der Industrie Ehrensache, nicht nur zu Premieren der eigenen Firma, sondern auch zu denen der Konkurrenz zu gehen.
Vor allem aber - nicht nur sehen, sondern gesehen werden
Man wollte ja auch wirklich den neuen Film so schnell wie möglich sehen, und vor allem wollte man gesehen werden.
Dazu war reichlich Gelegenheit, denn die Zaungäste hatten sich zu Hunderten, manchmal sogar zu Tausenden eingefunden. Der Vorplatz des Kinopalastes war feenhaft beleuchtet. Jeder Star bekam, sowie er (oder sie) aus dem Wagen stieg, sofort das Mikrophon hingehalten, um ein paar mehr oder minder geistreiche Begrüßungsworte zu sagen, und das Ganze wurde natürlich nicht nur über den Rundfunk gesendet, sondern auch gefilmt; und selbstverständlich wurde dieser Filmstreifen so schnell entwickelt und kopiert, daß er schon ein paar Stunden später, also nach Schluß der Premiere und nach den Verbeugungen und Dankreden, vorgeführt werden konnte.
Hollywood, das war eben die alleinige Filmstadt
Ganz so wichtig hat man den Film bei uns in Deutschland und in Berlin nie genommen und auch sonst nirgends in der Welt, außer eben in Hollywood, denn nur dort waren die Filmleute die Hauptpersonen in einem Ausmaße, in dem das bei uns in Europa unvorstellbar wäre.
Nur dort war es möglich und ganz selbstverständlich, daß das Vorhandensein der großen Produktionsstätten und die Anwesenheit fast sämtlicher filmschaffender Persönlichkeiten der Stadt und Umgebung ihr Gepräge gab.
Babelsberg war jahrzehntelang ein Begriff
Berühmte Produktionsstätten hatten wir ja ebenfalls, und auch an Persönlichkeiten fehlte es nicht, es waren nur nicht so viele wie in Hollywood, sie waren nicht gar so weltberühmt und sie spielten nicht ganz so eine große Rolle im Stadtbild wie im Bewußtsein ihrer Zeitgenossen.
Immerhin, Babelsberg war jahrzehntelang ein Begriff, den jedermann in Deutschland (und jeder Filmfreund in der ganzen Welt) mit den größten deutschen Filmen verband.
Berlin hatte viele Produktionsstätten
Dabei war Babelsberg keineswegs die einzige große Produktionsstätte in Deutschland, nicht einmal die einzige der UFA, die auch in Tempelhof einen sehr großen Komplex (mit vier Hallen) unterhielt; und auch damit waren die in Berlin für die Filmproduktion vorhandenen Möglichkeiten keineswegs erschöpft.
Es gab Filmateliers in Berlin-Johannistal und Berlin-Weißensee, und eine Zeitlang hielt das aus der ehemaligen Zeppelinhalle in Staaken (bei Spandau) erstandene Atelier den Größenrekord der Welt, zumindest im Hinblick auf die Bauhöhe für einen einzelnen Großfilm.
Und dann noch die Münchener Bavaria-Ateliers
Die Gesamtanlage freilich konnte keinen Vergleich mit den Münchener Bavaria-Ateliers aushalten, die zunächst in Schwabing und später in Geiselgasteig entstanden, von Anfang an in großem Stil geplant waren und mehrfach erheblich erweitert wurden.
Die UFA-Stadt Babelsberg war ein Begriff
Trotz alledem, wenn man in der Stummfilmzeit der zwanziger Jahre (und übrigens auch in der Tonfilmzeit der nächsten zehn Jahre) an den deutschen Film dachte, so verband man damit unfehlbar den Begriff der UFA-Stadt Babelsberg.
Denn dort gab es nicht nur eine der größten und modernsten Produktionsstätten der Welt, sondern auch die Patina einer für Filmbegriffe geradezu ehrwürdigen Tradition: die Vorgeschichte der Filmstadt Babelsberg reicht ja fast zum Beginn des Jahrhunderts zurück, und sie ist mit einer der wenigen Firmen verbunden, die sogar aus dem vorigen Jahrhundert stammen.
Es war die alte Bioskop, die bei der UFA-Gründung im Jahre 1917 „gewogen und zu leicht befunden wurde" - jedenfalls für die geforderte Abfindung von drei Millionen - und die dann auf dem Umweg über die Fusion mit der Decla des Herrn Pommer doch noch in die große UFA-Familie kam.
Von der Chausseestraße nach Babelsberg umziehen
Einer der Aktivposten jener uralten Bioskop war das große Gelände bei Babelsberg, das man erworben hatte, als Guido Seebei, einer der Pioniere deutscher Kamerakunst, vorschlug, die muffigen alten Atelierräume in der Chausseestraße zu verlassen und „ins Grüne" zu ziehen.
Babaleber - Platz für jede Menge Häuserfassaden und Kulissen
Auf eben jenem Gelände entstanden später die vielen Fassaden, Ecken, Halbfassaden und sonstigen Baukomplexe, die immer wieder mit entsprechend kleinen Änderungen benutzt werden konnten, ähnlich wie die berühmte „Wiener Straße", die nicht weniger als 85m lang und 14m breit war, in einen veritablen „Denkmalsplatz" einmündete und immer herhalten mußte, wenn man eine historische Straße benötigte.
Wurde ein Straßenbild unseres eigenen Jahrhunderts gebraucht, stand auch eine moderne asphaltierte Großstadtstraße zur Verfügung, 90m lang, 2m breit, mit einer geschlossenen Häuserfront und einem 45m breiten und 18m hohen Prachtgebäude, dem sogenannten „Palais Palm".
Das wurde mit entsprechend kleinen Änderungen immer verwendet, wenn eine Szenenfolge bei sehr feinen Leuten spielte, und da das beim Film nicht gerade zu den Seltenheiten gehört, wurde dieses Palais fleißig benutzt.
Ein sehr schöner Garten gehörte natürlich auch dazu nebst Springbrunnen, Teichen, Grotten und gleichermaßen nützlichen Aufnahmemöglichkeiten.
4 Hallen mit 20m Deckehöhe und weitere
Wenn man bedenkt, daß die Filmstadt Babelsberg außerdem noch drei sehr große Atelierhallen von 20m Höhe und vier „mittelgroße" (13m hoch) enthielt nebst Versenkungen, die als Wasserbassins benutzt werden konnten, wenn man ferner an die umfangreichen Werkstätten denkt und an den Fundus von über 10.000 Möbelstücken, 8.000 Kostümen und 2.000 Perücken, und wenn man sich schließlich der musterhaften technischen Ausstattung erinnert, muß man respektvoll zugeben, daß nicht nur die Kopieranstalt (die Afifa), die bei weitem größte in Europa, sondern daß die Gesamtanlage der Filmstadt den Vergleich mit keiner anderen Produktionsstätte der Welt zu scheuen brauchte, nicht einmal mit Hollywood, nur daß es dort eben ein halbes Dutzend „Babelsbergs" gab und bei uns nur das eine. In annähernd ähnlicher Großzügigkeit gab es allenfalls noch Geiselgasteig.
Dem deutschen Film zur Blüte verholten
Immerhin waren es angemessene Arbeitsstätten für die vielen hervorragenden Könner und für die sehr vielen guten Handwerker ihres Fachs, die dem deutschen Film zur Blüte verholten hatten, stets bestrebt, jene schwierige Synthese zu finden zwischen einem Industrieprodukt, an dem die Geldgeber, und einem Kunstwerk, an dem die Hersteller und ihr anspruchsvolles Publikum ihre Freude haben könnten.