Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil I - "VON DER LATERNA MAGICA BIS ZUM TONFILM"
Texte, Gedanken, Auszüge und Teile aus einem Buch aus 1956
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Widmung (von Heinrich Fraenkel 1956)
Allen denen, die dem Film zum Licht geholfen, sei dieses Buch gewidmet, den Lebenden und den Toten unter den Wegbereitern, die alles von Anfang an mitgemacht haben: die Fortschritte und die Rückschritte, die Irrwege, die Abwege und die Triumphzüge.
Viele von ihnen sind am Wege geblieben, manche aber haben den Weg gewiesen zu neuen Zielen, die doch nur der Anfang waren zu neuen Wegen oder die Wegscheide zu abermals neuen Zielen.
Ihnen sei dieses Buch auch gewidmet: den Erfindern und den Technikern, die den Gedanken lebensfähig machten; den Autoren und den Regisseuren, die ihm Form und Inhalt verliehen; den Darstellern, die dem Werk Gestalt und Gesicht gaben und den lebendigen Atem ihrer schöpferischen Künstlerschaft; den kühnen Vorläufern und Neuerern und den fleißigen Nachläufern, die das neu Errungene festhielten.
Vor allem aber dem Publikum, das zugleich ihrer aller Nutznießer und Gönner ist, den Millionen und aber Millionen in aller Welt, die tagtäglich ihre Groschen und Silberstücke zur Kinokasse tragen, weil sie den Film lieben und kaum minder davon besessen sind als jene, die ihn erdenken und gestalten und vollenden.
H. F. (1956)
Teil I - Das VORWORT aus 1956 :
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DER GANZE FRATZ IST KEINE SECHZIG
Vom schöpferisdien Sprachgeist / Von Filmstars und Kinokassen / Von Heldenverehrung, Mechanisierung und Kalorienzufuhr fürs Herz / Von Trudchen Müller, Karl Schulze und den Großeltern / Von Reizmitteln und Ersatzmitteln / Vom Segen des Halbdunkels / Von Ruhmesadlern und Pleitegeiern
Die "Kinematographie"
Es mag anmaßend scheinen, beweisen zu wollen, daß der Film populärer ist als das Telephon; immerhin ließe sich geltend machen, daß es Jahrzehnte gedauert hat, bis uns das Telephon als Fernsprecher mundgerecht gemacht wurde, während wir es sehr viel eiliger hatten, ein Wortmonstrum wie "Kinematographie" zu überwinden.
"Kino", "Kintopp" und "Lichtbild"
Wie schnell das neue Medium sich die Gunst des Volkes errang, ist vielleicht eben dadurch beweisbar, daß der Volksmund alsbald einprägsame und treffende Worte schuf, wie etwa "Kino", "Kintopp", "Lichtbild". Hier hat der schöpferische Sprachgeist, ewig wach und ewig jung, bessere Arbeit geleistet als jedwedes Dichterkollegium, das man etwa beauftragt hätte, dem neuen Begriff ein neues Wort zu prägen.
Der „Filmstar"
Aber es gibt da noch ein anderes Wort, das für die Herstellung und den Vertrieb von Filmen sehr bedeutungsvoll wurde; und wer immer es zuerst gebrauchte, war gewiß ein sprachschöpferisches Genie. Man soll mit solchem Prädikat sparsam umgehen, aber ich würde es ohne Zögern demjenigen verleihen, der das Wort „Filmstar" geprägt hat.
Denn hier ist gewiß der Volltreffer eines sprachschöpferischen Gleichnisses, welches dreist in die Sterne greift, um das vollendete Sinnbild von unendlicher Größe und weltweiter Ferne zu bieten: unfaßbar groß, schauerlich erhaben, unbegreiflich fern und doch scheinbar so nahe im milden Glanz und freundlichen Gefunkel des allgegenwärtigen und zuverlässigen Nachbarn.
Hier hat einer wahrlich in den Himmel gegriffen, um sich ein Gleichnis herunterzuholen, geschaffen für schmückende Adjektive wie „glitzernd", „blendend", „leuchtend", „funkelnd"; hier ist, fix und fertig und unfehlbar, was immer der Sternschöpfer seinen Sternguckern zu bieten hat, um sie massenweise an seine Kinokassen zu ziehen.
„Sternschöpfer"?
Wir haben zwar im Deutschen kein gebräuchliches Wort dafür, wohl aber haben wir den Begriff; wir haben ihn, wo immer Menschen an Kinokassen stehen, und die Amerikaner haben auch ein Wort dafür: „Star-builder". Die Sterne (in der Filmwelt) müssen also „aufgebaut" - besser gesagt: sie müssen gezüchtet werden? Zweifellos ist es nicht zu leugnen, daß zu solchem Zweck eine sehr große, sehr komplizierte, sehr kostspielige und weltweit verästelte Organisation geschaffen wurde und daß die Herstellung und der Vertrieb von Filmen fest im „StarSystem" verankert ist.
Da dieser Gesichtspunkt für die Geschichte, die ich erzählen will, von grundlegender Bedeutung ist, müssen wir der Sache sofort auf den Grund gehen, wir müssen sie von allen Seiten durchdenken, und da ich selbst nicht viel dagegen einzuwenden habe, müssen wir die Debatte eben dadurch in Gang bringen, daß wir einen Gegner zitieren, der grundsätzlich und sehr entschieden gegen das Starsystem ist.
Eine kleine Geschichte vom Unverständnis
„Was ist das für ein Unfug", (sagt der Herr) - „was ist das für ein grober und unverantwortlicher Unfug, irgendeinem Frauenzimmer das Zehn- bis Zwanzigfache eines Ministergehalts zu zahlen, nur weil sie eine hübsche Figur hat und vielleicht auch ein bißchen schauspielerisches Talent!"
Man könnte ihm natürlich antworten, daß unsere Wirtschaft wesentlich durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert wird und daß es unter solchen Umständen sinnlos ist, darüber zu streiten, ob für irgendeine Ware oder Dienstleistung ein unverhältnismäßig hoher Preis gezahlt wird.
Nicht anders als jeder Marktpreis wird sich auch die Gage eines Filmstars ziemlich genau eben jener Summe anpassen, die er im gegebenen Moment „wert" ist.
Filmgesellschaften sind keine Wohltätigkeitsinstitute; sie würden einem Star keine 150.000 Mark zahlen, wenn sie ihn zum gleichen Zeitpunkt und für den gleichen Film für 145.000 Mark bekommen könnten! Sie würden sie auch nicht bezahlen, wenn sie dabei nicht auf ihre Kosten kämen, wenn sie sich eine solche Stargage nicht leisten könnten.
Reklamerummel und Größenwahn
„Ha", hohnlacht jetzt unser Gegner. „Sie können es sich leisten! Damit ist nichts bewiesen, als daß in der Filmindustrie genügend Geld gemacht wird, um so ziemlich jeden Unfug zu finanzieren! Oder wollen Sie mir etwa einreden, daß es irgendeinen Menschen gibt, der zehn- oder gar zwanzigtausend Dollar pro Woche ,wert' ist? Das ist doch alles nur der Rummel, der von ein paar größenwahnsinnigen Reklamehengsten künstlich entfacht und mit riesigen Spesen geschürt wird!"
Gemach, gemach. Hier ist die Antwort nicht ganz so einfach. Vielleicht hat der gestrenge Herr hier doch einen soliden Haken gefunden. Denn den Reklamerummel müssen wir natürlich zugeben, und daß er „künstlich" ist, liegt ja wohl in der Natur des Reklamerummels, denn der muß ja schließlich irgendwie „gemacht" werden. Die Frage ist nur, was unser Gegner darunter versteht.
Wen interessieren die Stories wirklich ?
Wir werden ihm sagen, daß er gefälligst seine Einwände etwas präziser formulieren soll, und er wird uns dann wohl mit schneidender Tonschärfe erwidern:
„Von Schauspielern verlange ich, daß sie ihre Rollen spielen. Aber wie viele Nerzmäntel und Strandpyjamas Miß GloriaGlory ihr eigen nennt, interessiert mich nicht; und noch weniger interessiert mich, ob Herr Hanno Held durch sein klassisches Profil oder seine Grübchen berühmt ist und ob er sich nun wirklich von seiner fünften Frau scheiden läßt. Wer zum Teufel will denn so etwas wissen?"
Die Kunst, das Interesse zu stimulieren
Darauf können wir getrost antworten, daß es eine ganze Menge Leute wissen wollen. Viele Millionen wollen das ganz genau wissen; sie können von solcher Wissenschaft gar nicht genug bekommen, und hier stoßen wir nun wirklich auf eine der Wurzeln jenes seltsamen Gewächses, besser gesagt: einen der Grundpfeiler jenes seltsamen Gebildes, mit dem wir uns befassen wollen.
Zugegeben, jenes weltweite und manchmal etwas hysterisch anmutende Interesse wird mit allen Mitteln moderner Werbekunst und Verkaufstechnik stimuliert. Aber um stimuliert werden zu können, muß das Interesse ja schon vorhanden gewesen sein, und wie künstlich immer der Stimulierungsprozeß sein mag, ein so lebhaftes Interesse, eine so leidenschaftliche Anteilnahme so zahlloser Menschen muß doch bis zu einem gewissen Grade echt und natürlich sein.
Man wird hier vielleicht einwenden, daß heutzutage ein tüchtiger Werbefachmann durchaus in der Lage ist, ein nagelneues Interesse zu wecken, bevor er sich an die kostspielige Arbeit begibt, es zu stimulieren; aber wie tüchtig er auch sein mag und wie großzügig sein Werbe-Etat und seine Spesenkonten dotiert sein mögen, er kann nie mit ganz und gar künstlichen Mitteln Erfolg haben.
Über den Kern einer echten Publikumswirkung
Er muß versagen, wenn das künstlich geschaffene und stimulierte Interesse nicht einen soliden Kern echter Publikumswirkung hat, und daran hat es der Filmindustrie gewiß nie gemangelt.
Daran hat es keinem „Schausteller" je gemangelt; denn schon lange bevor das Unterhaltungsgeschäft - „Show-Business", wie es die Amerikaner nennen - zu einer Großindustrie wurde, zu jeder Zeit, in jedem Land und schon in grauer Vorzeit hat jedwede „Schaustellung" von Menschen das Publikum fasziniert und ein durchaus persönliches Interesse erweckt für eben jene Menschen, die sich zur Schau stellten.
„Na schön", wird jetzt unser gestrenger Gegner einwenden (etwas besänftigt durch unsere Bereitwilligkeit, ihn ausreden zu lassen), „ich hatte gewiß nichts dagegen, daß begeisterte Zuschauer der Düse die Pferde ausspannten oder den Joseph Kainz auf den Schultern trugen. Man darf nur solche ehrliche Kunstbegeisterung nicht mit dem krankhaften und künstlich aufgepeitschten Interesse vergleichen, das heutzutage die sensationslüsterne Masse an den Privatangelegenheiten ihrer Filmhelden bekundet."
Die Massennachfrage nach Heldenverehrung
Da haben wir's! Er hat es ausgesprochen. Das entscheidende Wort ist natürlich „Held". Hier haben wir einen der Punkte, auf die es ankommt. Rundheraus und kurz gesagt: die Hauptaufgabe des Filmstars in der modernen Welt ist die Befriedigung einer durchaus begreiflichen und berechtigten Massennachfrage nach Heldenverehrung.
Das ist ein natürliches und wesentliches Bedürfnis. Das hat es immer gegeben und wird es immer geben. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Sein Herz, nicht anders als sein Magen, verlangt gebieterisch eine auskömmliche und möglichst regelmäßige Kalorienzufuhr. Und da die meisten Leute kein Übermaß an eigenen gefühlsbetonten Erlebnissen haben, sind sie um so mehr auf etwas Zufuhr und Anregung von außen angewiesen; denn nur so können sie einen Ersatz für die eigene Unfähigkeit finden, ihr Gefühlsöfchen so regelmäßig zu beheizen wie ihre Verdauungsorgane.
Wankelmütige und treulose Heldenverehrer
Das Bedürfnis danach ist heute größer denn je. Doch je mehr unser Bedarf und Verbrauch an Heldenverehrung wächst, um so mehr verliert er an Tiefe. Je vielfältiger und mannigfacher die uns jeweils zur Verehrung dargebotenen Helden, um so wankelmütiger und treuloser werden wir Heldenverehrer.
Das liegt an unserem ständig beschleunigten Lebensrhythmus, an dem stetig sich steigernden Tempo und Umfang unserer Verkehrsmittel und unseres Nachrichtenwesens und an dem sich daraus ergebenden Egalisierungsprozeß, der schon längst nicht mehr an den staatlichen, völkischen und sprachlichen Grenzen haltmacht.
Unsere Urgroßeltern und die „guten alten Zeiten"
Unsere Urgroßeltern mögen ihr Lebtag nicht sehr weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinausgekommen sein; sie wußten wohl kaum (und wollten vielleicht gar nicht wissen), was in der Nachbarstadt geschah, geschweige denn in fernen Ländern und jenseits des Weltmeeres.
Aber was immer in ihrer eigenen kleinen Welt geschah, war ihnen nicht minder innig vertraut als einem Kinde der Inhalt seines Spielzeugkastens und der paar Bilderbücher, die es sich immer und immer wieder vorlesen läßt.
Nun liegt mir gewiß nichts ferner, als von der „guten alten Zeit" zu schwärmen; ich habe sogar begründete Zweifel, ob sie wirklich so sehr gut war. Ich will mich auch keineswegs daran versuchen, die Frage zu ergründen, ob es unseren Vorvätern gelungen ist, aus ihrer kleinen Welt ein etwas größeres Glücksquantum zu quetschen, als es uns in unserer großen Welt gelingt. Eines jedenfalls kann man auch ohne Rätselraten und mit einiger Gewißheit sagen: die Urgroßeltern hätten wochenlang damit zu tun gehabt, nur diejenigen Mitteilungen zu verdauen, die wir in einer einzigen Nummer einer unserer Sonntagszeitungen zu überblättern pflegen.
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Wandhorcher und Schlüssellochgucker
Aber wir haben ja nicht nur die Presse; wir haben den Rundfunk und das Fernsehen, um uns zu Wandhorchern und Schlüssellochguckern in einem wahrhaft weltweiten Umfang zu machen. Was immer irgendwo geschieht und halbwegs wichtig und interessant scheint, wir wissen es sofort; es wird uns brühwarm und in allen Einzelheiten mitgeteilt und mit fachmännischem Kommentar verbrämt und erläutert.
Klatsch und Tratsch aus aller Welt
Kein Zweifel: in der Versorgung mit Nachrichten und Klatsch aus aller Welt sind wir heute besser bedient als vor wenigen Jahrhunderten die Könige und Handelsfürsten, die sich eigene Botschafter und Agenten leisten konnten, um sie in den wichtigsten Vorzimmern der damaligen Welt die Ohren spitzen zu lassen.
Von der Neugierde zu den Gefühlen
Wir haben also gut funktionierende und stetig verbesserte Mittel, um unsere Neugierde regelmäßig zu kitzeln und prompt zu befriedigen. Was aber geschieht für unsere Gefühle? Nun, das eine oder andere wird ja ohnehin mitgekitzelt und mitbefriedigt, während wir, Tag für Tag, lesen, hören und fernsehen, was uns die Welt an Neuigkeiten und interessanten Ereignissen zu bieten hat.
Schließlich ist ja die Neugierde selber eines unserer wesentlichen Gefühle und der Schlüssel zu vielen anderen, auch zu denen, die mehr zu Herzen gehen als in den Kopf steigen, die uns also eher das Herz warm als den Kopf heiß machen.
Hier hat der Film seine ureigene Domäne, und hier haben wir es ganz besonders mit jenem berühmten „Starsystem" zu tun, das uns schon in so heftige Debatten mit unserem gestrengen Kritiker verwickelt hat.
Zurück zum „Starsystem" und der Aufregung darüber
Da ist er wieder, kaum mehr zu bändigen. Das Wort „Starsystem" hat ihn in Hitze gebracht. Er platzt vor Wut, wenn er nicht sofort etwas Dampf ablassen darf. Sie dürfen, Herr Professor.
„Die ureigene Domäne des Films! Das Starsystem als Regulator menschlicher Gefühlswelt! Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre: diese systematische Abwertung und Verbilligung eines jeden wertvollen Gefühls, einer jeden echten menschlichen Beziehung! Heutzutage lieben die Leute einander ja nicht mehr um ihrer selbst willen, sie verlieben sich in die zweitklassige Imitation irgendeines ebenso talmihaften Filmstars. Was sie am Liebespartner suchen, ist Gloria Glory, auf Hochglanz poliert und Hanno Helds sagenhaftes Profil. Ein und dasselbe Stück Talmi zuerst als Reizmittel und dann als Ersatzmittel benutzt - das ist abscheulich, das ist unsagbar widerwärtig!"
Er ist ganz außer Atem. Wir können also in aller Ruhe untersuchen, ob er sich unnütz aufgeregt oder ob er uns wirklich etwas zu sagen hat.
Der Einfluss der Lieblingsstars
Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß Trudchen Müller und Karl Schulze und viele Millionen ihresgleichen in vielen Ländern sich durchaus von ihren Lieblingsstars beeinflussen lassen. Wenn Gloria Glory ihre Frisur ändert, dann tun Millionen Mädchen in aller Welt das gleiche; und viele von ihnen haben sich gewiß in ihren Freund nur deshalb verliebt, weil er doch nun einmal - zumindest bilden sie sich's ein - diese gewisse Ähnlichkeit mit Hanno Held hat: mit dessen unwiderstehlich männlichem Charme, der tiefen Stimme und dem bezaubernden Grübchen, das auf der linken Backe erscheint, wenn er ein Mädchen so frech und doch so nett anlächelt.
Der vielgeliebte Hanno - das sei schnell in Parenthese eingeflochten - hat übrigens keineswegs das klassische Profil, das ihm unser gestrenger Kritiker angedichtet hat. Der hat das offenbar verwechselt. Er hat wahrscheinlich an den seligen Valentino gedacht. Er weiß noch nicht, daß die Filmfabrikanten schon seit vielen Jahren klug genug sind, in ihren Stars nicht so sehr das klassische Schönheitsideal als die charmante Persönlichkeit zu betonen; denn das eine ist dem Durchschnittsmenschen ohnehin unerreichbar, das andere aber ist ungleich wirkungsvoller, eben weil es lebensnäher ist, also immerhin erreichbar scheint.
Kluger Betrug oder törichter Betrug
Ein Glück, daß unser Kritiker noch immer außer Atem ist; sonst würde er gewiß einwerfen, daß ein kluger Betrug gefährlicher, also noch schlimmer ist als ein törichter Betrug.
Aber ist es denn ein Betrug? Ist es wirklich eine „systematische Abwertung und Verbilligung" echter Gefühle und Beziehungen? Ist es denn nicht eine unleugbare Tatsache, daß Trudchen Müller und viele Millionen ihrer Schwestern in aller Welt ein bißchen hübscher aussehen, eben weil sie ihren Lieblingsstars nacheifern?
Zugegeben, daß Trudchens Winterfell keineswegs Nerz ist, sondern Plüsch, und daß ihre neue Gloriafrisur in der Vorstadt zurechtgestutzt wurde und gewiß nicht von einem erstklassigen Friseur. Wir wollen sogar zugeben, daß für Trudchens höchst persönliche und ureigene Rundungen ein weißer Sweater vielleicht nicht ganz das richtige ist, obschon er eben jenem feschen Stil nachkonfektioniert ist, den Gloria Glory modern gemacht hat und selber so ungemein reizvoll zur Schau trägt.
Aber gibt sich Trudehen nicht die allergrößte Mühe, ihrem Traumbild nachzueifern?
Und ist nicht eben dieser Eifer schon die halbgewonnene Schlacht? Kann Trudchen, obschon nie und nimmer ganz so reizvoll wie Gloria - kann sie sich nicht mit dem vernünftigen englischen Sprichwort trösten, daß ein halber Laib immerhin besser ist als gar kein Brot?
Es ist weniger als nichts, es ist Talmi!
„Es ist kein halber, es ist kein viertel, es ist kein hundertstel Laib! Es ist überhaupt nichts! Es ist weniger als nichts, es ist Talmi! Und nicht einmal das! Es ist Talmi aus zweiter Hand!"
Da ist er wieder. Er scheint nicht mehr außer Atem zu sein. Aber jetzt müssen wir ihm ein für allemal den Mund verbieten, denn der Kerl hat ja recht.
Oder vielmehr: er hat genau so recht oder unrecht wie jemand, der nicht zugeben will, daß die Dinge selten ganz weiß oder ganz schwarz sind und daß es wenig Fragen gibt, die man mit einem glatten Ja oder Nein beantworten kann.
Etwas von der richtigen Gloria wissen wollen . . .
Er hat natürlich ganz recht mit seiner Behauptung, daß Trudchens Gloria-Imitation Talmi ist. Aber was wissen wir denn von der richtigen Gloria ? Vielleicht, bei aller Echtheit ihres Nerzmantels, ist auch sie Talmi; und ich meine jetzt natürlich den Menschen Gloria, nicht ihr Schattenbild auf der Leinwand, das ja ein Produkt sehr vieler Bemühungen ist: Glorias eigener Persönlichkeit und Schauspielkunst; der Erfahrung und Kunst ihres Regisseurs und Kameramannes; des Geschickes der Beleuchter, des Tonmixers und anderer technischer Spezialisten; des Geschmacks und der Erfahrung ihrer Modistin, ihres Friseurs, ihres Schminkmeisters und nicht zuletzt der unermüdlichen Arbeit der Werbeabteilung, die mit alter Erfahrung, neuen Ideen und riesigen Geldmitteln der Weltöffentlichkeit eben jenes Idealbild der Gloria Glory darbietet, das im Atelier von einem hochqualifizierten Kollektiv von Künstlern und Technikern gestaltet wird.
Über den „imaginären" Gesamteindruck
Ist nicht gerade das - eben weil es nachher vieltausendfach und vor Millionen von Zuschauern auf die Leinwand projiziert wird -, ist das nicht das einzig Wesentliche? Bei einem Gemälde kommt es ja nicht auf einzelne Farbtupfen an, sondern auf den Gesamteindruck, den uns das fertige Bild vermittelt. Wer würde leugnen, daß dieser durchaus „imaginäre" Gesamteindruck viel echter und wirklicher ist als die Farbkleckse auf der Leinwand, deren Echtheit und Wirklichkeit wir buchstäblich ertasten können?
Genau so könnten wir das Scheinbild der GloriaGlory für „echter" erklären als die wirkliche Gloria, und zwar das Scheinbild auf der Leinwand sowie das im Bewußtsein der von der Werbeabteilung gesteuerten öffentlichen Meinung, und genau so ließe sich argumentieren, daß es nicht auf Trudchen Müllers wirkliche Erscheinung ankommt - so wie wir sie „objektiv" sehen -, sondern einzig und allein darauf, wie Trudchen sich selbst und ihrem nächsten Freundeskreis erscheint.
Der Spagat zwischen Täuschung und Wirklichkeit, das Scheinbild
Betrug? Selbsttäuschung? Wer von uns könnte sich wohl anmaßen zu entscheiden, wo hier die Täuschung aufhört und die Wirklichkeit beginnt und wie die zahllosen sich überschneidenden Zwischentöne so komplizierter menschlicher Beziehungen zu definieren wären ?
Sicher ist hier nur eines: sowohl Trudchen Müller wie Karl Schulze lassen sich in hohem Maße von den Scheinbildern der Gloria Glory und des Hanno Held anregen; und zwar nicht nur von dem Scheinbild, das sie auf der Leinwand zu sehen bekommen, sondern auch von dem, welches sie vom Privatleben der beiden sich zu eigen gemacht haben - ein Scheinbild, wohlgemerkt, das von den Experten der Werbeabteilung nicht minder sorgfältig stilisiert und retuschiert ist wie das auf der Leinwand von den Künstlern und Technikern im Atelier, im Schneideraum und in der Kopieranstalt.
Der Preis für die Flucht aus dem ereignisarmen Alltag
Wie künstlich immer diese Scheinbilder sein mögen - die auf der Leinwand und die aus dem Privatleben, die ein so dankbares Objekt für Heldenverehrung bieten -, für Trudchen Müller und Karl Schulze sind diese Scheinbilder wesentlich; sie schließen eine sonst gewiß sehr fühlbare Lücke in Karls und Trudchens Leben.
Denn vermutlich haben die beiden einen recht ereignisarmen Alltag, so eintönig wie die Arbeit, die sie werktags leisten müssen. Das eben ist ein Teil des Preises, den wir für unsere vielgerühmte Mechanisierung zu bezahlen haben.
Karls Großvater war vielleicht ein Handwerker, dem die Mannigfaltigkeit seiner Aufträge erheblich mehr Abwechslung bot als dem Enkel der ewig gleiche Lauf des Fließbandes; und Trudchen findet weder im Alltag der Hausarbeit noch in der zum Überdruß wiederholten Tipperei des gleichen Geschäftsbriefes viel geistige und seelische Anregung. Die müssen die beiden sich anderswo holen.
Ruhm und Glanz fürs Unterbewußtsein
Aber das ist keineswegs der volle Preis, den wir dafür bezahlen müssen, daß unser hochmodernes Nachrichtensystem Tag und Nacht auf vollen Touren läuft und uns jederzeit brühwarm auftischt, was immer in der großen Welt geschieht.
Denn die weitaus meisten dieser Ereignisse betreffen immer und immer wieder jene kleine Minderheit von Zeitgenossen, die es zu Macht und Einfluß gebracht haben, die also berühmt oder doch zumindest berüchtigt sind. Aber Trudchen und Karl haben weder Macht noch Einfluß. Sie sind keineswegs prominent, werden es niemals werden und bekommen doch tagtäglich als Leser, Hörer und Zuschauer den Ruhm und den Glanz der Erfolgreichen in ihr Unterbewußtsein gepaukt.
Ab und zu in eine Traumwelt flüchten
Nun ist Trudehen ein durchaus vernünftiges Mädchen, und ihre Träume, einmal selbst ein Filmstar und eine große Dame zu werden, hat sie längst begraben. Sie hat sich mit ihren bescheidenen Lebensumständen abgefunden, und auch ihr Karl träumt schon längst nicht mehr davon, Generaldirektor des Großkonzerns zu werden, in dem er angestellt ist; der ihm gerade zugefallene Vorstandsposten seines Sportklubs macht ihn schon stolz und glücklich.
Kein Zweifel, Karl und Trudchen sind vernünftige und durchaus realistisch denkende Zeitgenossen, aber trotzdem fühlen sie ab und zu das Bedürfnis, in eine Traumwelt zu flüchten, wo all der Pomp und Glanz und Ruhm, der ihrem eigenen Leben fehlt, von den Scheinbildern auf der Leinwand mit so müheloser Anmut errungen wird.
Was auch der Fernsehkasten nicht ändern wird
Dem Karl und seinem Trudchen und sehr vielen Millionen ihresgleichen kann also der Film recht viel bieten, wahrscheinlich viel mehr, als ihnen selbst bewußt ist; und daran wird sich wohl kaum etwas ändern, auch wenn in jeder menschlichen Behausung ein Fernsehkasten steht.
Denn die jungen Leute und ganz besonders die jungen Paare werden immer das Bedürfnis haben, ab und zu „auszugehen"; und wie in aller Welt könnten sie denn einen unterhaltsameren und genußreicheren Abend verbringen als im Kino?
Das Erlebnis "Kino" geniessen
Da sitzen sie in bequemen Sesseln, nebeneinander oder gar Hand in Hand, denn alsbald wird es dunkel. Das ist freilich keineswegs eine finstere, unbehagliche Dunkelheit, es ist ein nettes, schummriges Halbdunkel, genau so abgetönt, daß man ungestört das besonders angenehme Gefühl eben jener Einsamkeit (oder Zweisamkeit) genießen kann, das durch die Größe des überfüllten Raumes noch genußreicher wird.
Inmitten dieser Menschenmasse kann sich unser Pärchen ungestört fühlen, als wäre es wirklich allein; und während die beiden auf eine so ungemein glückliche Art von vielen ähnlichen Pärchen isoliert sind, können sie sich trotzdem verbunden fühlen; denn der individuelle Genuß wird noch gesteigert durch die kumulativ ansteckende Wirkung eines Genusses, den sie alle gemein haben: einer Schau, deren Handlung, ohne allzu große Konzentration zu verlangen, sie doch alle in Bann hält und in jedem dieser vielen Pärchen einen Gefühlston anschlägt, der genau auf ihren eigenen Seelenzustand abgestimmt ist.
Die Gesamtwirkung einer Fülle von Genüssen
Hier ist eine Fülle von Genüssen, deren Gesamtwirkung kaum zu überbieten ist. Kein Wunder, daß die Sache Erfolg hatte. Kein Wunder, daß aus dem Gedanken, „lebende Bilder" auf die Leinwand zu projizieren, sich ziemlich bald eine Großindustrie mit weltweiten Bindungen entwickelte.
Rückblick auf die letzten 50 Jahre (vor 1956)
Wenn wir heute auf die letzten fünfzig oder sechzig Jahre zurückblicken, scheint es uns gewiß kein Wunder; aber wer immer es damals voraussah, galt bestimmt als wundergläubig - damals, als vor ein paar improvisierten Stuhlreihen auf einer wahrhaft „zappelnden" Leinwand Filmchen vorgeführt wurden, die immer „verregnet" waren, kaum zehn Minuten liefen und von einem Ansager erklärt werden mußten.
Seitdem hat der Film gewiß einige Fortschritte gemacht, auch Rückschritte zwischen den Fortschritten; auch Wandlungen hat er durchgemacht und ganze Epochen entdeckt, durchlaufen, vergessen, neuentdeckt; und was uns heute wie ein Wunder erscheint, ist eigentlich nur die Tatsache, daß sich das alles in knapp sechs Jahrzehnten abgespielt hat.
Wer immer von uns etwa so alt ist wie unser Jahrhundert, fühlt sich doch noch keineswegs als Greis; wir können uns getrost einbilden, noch „in den besten Jahren" zu sein, wir wackeln doch noch lange nicht mit dem Kopf, und trotzdem haben wir den Film so ziemlich von Anfang an mitgemacht.
Vom Jahrmarktwitz zur Weltindustrie
Wir haben gesehen, wie sich ein mechanisches Spielzeug von einem Jahrmarktwitz zu einer Kunstform und Weltindustrie entwickelte - einer Kunstform mit viel Ambition, noch mehr Prätention und mancher wesentlichen und ureigenen Leistung - und einer Industrie, die bald die Welt umspannte und sowohl das Sorgenkind wie der Augapfel vieler Finanzminister wurde; ein Devisenverdiener allerersten Ranges und oft genug auch ein subventionsbedürftiges Zuschußunternehmen; eine Industrie voller Widersprüche, ein Fabrikbetrieb, bei dem es nicht nur gilt, Rohfilmpreis, Ateliermiete, Gagen und Gehälter zu kalkulieren und mit dem Absatzgebiet auf eigenen und fremden Märkten in Einklang zu bringen, sondern vielmehr ein Produktionskalkül, bei dem man auch die Gunst des Wetters und die Stimmung der Hauptdarsteller in Rechnung stellen muß, und ein Absatzkalkül, das wilden Schwankungen unterliegt und bei dem es, je nach der Güte des Produkts und der Aufnahmebereitschaft fremder Märkte, um alles oder nichts gehen kann; ein Geschäft also, bei dem man sehr schnell reich werden und nicht minder schnell Kopf und Kragen verlieren kann, und doch eine Industrie, die für das Weltprestige (und sogar den Welthandel) des Herstellungslandes von vitaler Bedeutung sein kann, eine Industrie also, über die man sich schon oft und in vielen Parlamenten die Köpfe erhitzt hat, eben weil der Ruhmesadler manchmal dicht neben dem Pleitegeier die Flügel schlägt; ein Geschäft also, an dem sich schon viele die Finger verbrannt haben und das doch immer wieder angefaßt wird, oft genug auch zu Ruhm und Lohn; eine Sache, von der man nicht mehr lassen kann, wenn man einmal davon besessen ist, eine ganz verrückte Sache, zwischen großer Kunst und letztem Kitsch schwankend, aber immer interessant, oft beglückend, manchmal zum Verzweifeln, nie langweilig.
Und der ganze Fratz ist kaum sechzig Jahre alt, hat sicher noch sehr viel vor sich, aber schon ein tolles Leben hinter sich. Das wollen wir uns einmal ansehen.
Anmerkung aus 2016 :
Das da oben aus 1956 war wirklich ein einziger (langer) Satz !
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