Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil I - KAPITEL 02
"STIEFKINDER DES GLÜCKS"
Von kurzatmigen Erfindern und lungenstarken Großkonzernen / Von verkannten Erfindern und einem, der abhanden kam / Von der Portokasse des Filmmagnaten / Vom blinden Optiker und tauben Akustiker / Von Patentprozessen und Patentlösungen
Der Pfarrer Hannibal Goodwin machte die entscheidende Erfindung
Der Amerikaner H. Goodwin hatte mit seiner Erfindung eines brauchbaren Zelluloidträgers und einer hauchdünnen belichtungsfähigen Schicht den Filmstreifen selbst und dadurch eigentlich erst die wirkliche Entwicklung der Kinematographie möglich gemacht. Man könnte ihn also getrost für einen der entscheidenden Pioniere der Filmproduktion halten und zweifellos für den Pionier der Rohfilmproduktion.
Aber der gute Hannibal Goodwin - übrigens Pfarrer von Beruf, obschon Chemiker aus Neigung - war zwar mit viel technischer Begabung und viel Verstand und Geduld gesegnet, aber keineswegs vom Glück begünstigt.
Die Photofirma Eastman steigt ganz groß ein
Sein Unglück war, daß, kurz nach der Patentanmeldung seiner eigenen Erfindung, es der damals schon recht großen Photofirma Eastman in Rochester (unweit New York) gelang, einen eigenen, nicht minder brauchbaren Zelluloidträger und eine eigene nicht minder hauchdünne und lichtempfindliche Schicht, also einen eigenen Rohfilm zu entwickeln.
Und wie es von einem großen und nunmehr rasch wachsenden Konzern nicht anders zu erwarten war, wurde die Massenproduktion dieses nützlichen Filmstreifens sofort in Angriff genommen.
Der Eastman-Prozeß dauerte 27 Jahre
Der gute Hannibal Goodwin strengte sofort einen Patentprozeß an, aber der wurde nicht nur jahre-, sondern jahrzehntelang verschleppt. Um gegen Riesenkonzerne zu prozessieren, muß man einen ebenso langen Atem haben wie der lungenstarke Gegner; der arme Hannibal Goodwin war aber leider sehr kurzatmig; er starb schon im Anfangsstadium des Prozesses, und die Firma, die einen Teil seiner Ansprüche übernommen hatte, kam in Schwierigkeiten, wodurch wiederum, wie wir gleich sehen werden, ein anderer Pionier, ein gewisser Latham, in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Jedenfalls dauerte es siebenundzwanzig Jahre, bis es (1914!) im Eastman-Prozeß zum Happy-End kam, bis also die Erben des seligen Pfarrers Goodwin und der anderen Beteiligten mit einem Trinkgeld von ein paar Dollarmillionen abgefunden wurden.
Die Geschichte der Familie Latham
Und da wir gerade bei den Stiefkindern unter den Pionieren sind - die gibt es zu Dutzenden, aber wir wollen es bei drei oder vier bewenden lassen-, so sei noch ganz schnell der Familie Latham gedacht, die eigentlich mit ihrem schon in der Frühzeit vollendeten Vorführungsapparat nicht nur viel Ruhm und Ehre, sondern auch sehr viel Geld hätte verdienen müssen. Aber sie packte die Dinge nicht richtig an, hatte nicht im rechten Moment die rechte Beziehung und hatte viele Geldsorgen und Patentschwierigkeiten, zumal im entscheidenden Moment ihre Geldleute auch den seligen Goodwin vertraten und sich durch den Eastman-Prozeß übernommen hatten.
Das Messtersche Malteserkreuz gab es noch nicht
Aber die Lathams hatten nicht nur finanzielle, sondern auch technische Schwierigkeiten. Es fehlte ihnen das Messtersche Malteserkreuz, und mangels einer so sinngemäßen Schaltung mußte ihr Vorführungsapparat in jenem „Pionierjahr" 1895 unvollkommen und unzureichend bleiben; und eben deshalb mußten sie die großen Gewinne einbüßen, die sie vorher mit einigen von Edison gekauften „Guckkasten-Apparaten" gemacht hatten, als sie die gute Idee auswerteten, einen damals sehr aktuellen Boxkampf vorzuführen.
Die Aufnahmen waren zwar ebenso primitiv wie die Vorführung, aber die Idee eines „Aktualitätenfilms" war ebenso neu wie gut; und noch besser und "richtiger ??" war der Gedanke, daß sich damit noch erheblich mehr Geld verdienen ließe, wenn man die Sache in einem großen Saal auf die Leinwand projizierte und dadurch eine Massenkundschaft an die Kasse holte, anstatt die Herrschaften einzeln vor dem Guckkasten antreten zu lassen.
Edison war strikt gegen eine Art von Projektion
Das an diesem Vorgang geschichtlich Interessante ist heute nur noch die Tatsache, daß Edison durchaus nicht für die Idee zu haben war und es entrüstet ablehnte, für die technische Verbesserung der Projektion etwas zu tun. Das hieße ja - so meinte er - „die Henne schlachten, die unsere goldenen Eier legt"; es wäre ein Wahnsinn, das gute Geschäft der Guckkasten zu ruinieren, indem man die Filme projizierte und einem Massenpublikum anböte, denn die Auswertungschance würde ja dadurch viel zu schnell erschöpft.
Wie viele Vorführungen könnte man denn außerhalb New Yorks anbieten? Vielleicht zehn - so meinte Edison -, vielleicht günstigenfalls ein Dutzend im Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten, vielleicht fünfzig in der ganzen Welt.
Sie haben den Erfolg nicht nutzen können
Aber die Lathams ließen sich durch den Pessimismus des berühmten Erfinders nicht entmutigen. Mit ihren technisch, sehr unzureichenden Methoden gingen sie unverzagt daran, einen Film herzustellen und zu projizieren, und da sie nun einmal mit einem Boxkampf ihren großen Guckkasten-Erfolg gehabt hatten, so mußte es wieder ein Boxkampf sein. Es wurde also der Weltmeister James Corbett engagiert, mit einem geeigneten Gegner sechs Runden von je einer Minute zu boxen und ihn genau am Ende der sechsten Runde k.o. zu schlagen.
Der Boxer leistete das einwandfrei, nur die Aufnahmen und die Projektion ließen leider viel zu wünschen übrig. Immerhin wurden die Sechsminutenfilmchen öffentlich vorgeführt und brachten den Lathams einen Teil ihrer vielen Spesen ein. Aber dann kamen diese Pioniere nicht mehr recht weiter. Es fehlte ihnen an Geld und vor allem an der technischen Qualifikation. Andere kamen ihnen zuvor, und die Lathams gerieten in Vergessenheit.
Ein trauriges Ende des Professor Latham
Jahrzehnte später hörte dann einer der ganz großen Film-Moguls, daß der alte Professor Latham noch am Leben wäre; er ließ ihn kommen, durchaus bereit, dem verehrten Pionier einen Ehrensold von 1.000 Dollar im Monat auszusetzen oder auch, mit dem entsprechenden Propagandarummel, ihm einen größeren fünfstelligen oder kleineren sechsstelligen Scheck als einmalige Ehrengabe zu überreichen. Er fragte aber den alten Latham erst, wieviel er denn brauche, um sorgenfrei leben zu können. „Etwa fünfzehn Dollar pro Woche", meinte nach einigem Nachdenken der in der letzten Zeit vom Schicksal nicht gerade verwöhnte alte Herr. Er bekam seine fünfzehn Dollar, aber da der Mogul sich genierte, eine solche Zahlung durch die Bücher laufen zu lassen, bekam er sie aus der Portokasse.
Louis Aime Augustin Le Prince und sein Patent
Zu den Filmpionieren, denen das Schicksal am schlimmsten mitgespielt hat, gehört zweifellos Louis Aime Augustin Le Prince, Sohn eines schon mit dem alten Daguerre befreundeten französischen Offiziers. Kein Wunder, daß der junge Le Prince Photograph wurde und schon Mitte der siebziger Jahre - noch ein junger Dreißiger - anfing, sich mit kinematographischen Experimenten zu befassen.
Er ging dann nach Amerika, wobei er zehn Jahre lang daran arbeitete, seinen mit einem Doppelobjektiv versehenen Apparat zu verwirklichen; im Januar 1888 beantragte er ein (im November genehmigtes) amerikanisches Patent „für die Herstellung von Bildern, welche die Natur und das Leben in lebendig bewegter Form erscheinen lassen".
Stoff für einen Detektivfilm oder einen Krimi
Er soll dann den Apparat erheblich verbessert und auch durch die Vermeidung des Doppelobjektives vereinfacht haben. Genaueres weiß man nicht und wird man nie erfahren, denn jetzt fängt die Geschichte an, tragisch zu werden und gewissermaßen den Stoff für einen Detektivfilm zu liefern, und zwar für einen, der nicht mit einem „Happy-End", sondern mit einem großen Fragezeichen schließt.
Le Prince ging nach Europa zurück, um auch dort die Patente für seinen Apparat anzumelden. Er besuchte zunächst seinen Bruder in Rouen und fuhr von dort mit großem Gepäck nach Dijon, mit sehr großem Gepäck, denn er hatte seine ganze Apparatur bei sich. An einem schönen Septembertag des Jahres 1890 bestieg er, in glänzender Stimmung und von den Segenswünschen seiner Familie begleitet, den Pariser Schnellzug - und ward nicht mehr gesehen.
Er war und blieb spurlos verschwunden und mit ihm seine ganze Apparatur, das gesamte Ergebnis seiner Lebensarbeit. Die Polizei hat das Rätsel nicht zu lösen vermocht, und da ein Selbstmord völlig unbegründet und ausgeschlossen war (und keineswegs das Verschwinden der Apparatur erklärt hätte), so lag die Vermutung nahe, daß der Erfinder von einem seiner Konkurrenten aus dem Wege geräumt wurde; denn zu diesem Zeitpunkt standen ja in mehreren Ländern eine ganze Reihe von Erfindern fast unmittelbar vor dem ersehnten Ziel.
William Friese-Greene hatte das erste Patent
Freilich besteht gegen keinen dieser Männer auch nur der Schatten eines Verdachts, ein solches Verbrechen begangen zu haben. Es handelt sich nur um vage Vermutungen, die durch nichts begründet waren, als durch das Einleuchtende des Motivs, und die begreiflicherweise von den Freunden des auf so mysteriöse Weise verschwundenen Erfinders verbreitet wurden.
Deren Behauptung freilich, daß Le Prince drauf und dran war, sich die absolute Priorität der Erfindung zu sichern, ist ohnehin nicht stichhaltig, denn als er im September 1890 verschwand, waren immerhin schon fünfzehn Monate vergangen, seit dem Engländer William Friese-Greene das erste Patent für einen Aufnahmeapparat und Projektor erteilt worden war: ein noch sehr primitiver, aber doch im wesentlichen nach modernen Begriffen konstruierter Apparat, der den neuen, aus Amerika importierten Rohfilm verwendete und mit dem der Erfinder schon im Januar 1889 im Hyde-Park einen Film von etwa 100m Länge gedreht hatte.
Der Schwärmer William Friese-Greene
Hätte er nicht die immerhin historisch einwandfrei verbriefte Priorität, könnte man auch Friese-Greene zu den Stiefkindern unter den Pionieren zählen; man muß es dennoch.
Er war mehr ein naiver Schwärmer als ein Geschäftsmann, war zwar eine genialer Techniker, aber viel zu sprunghaft, um seinen Anfangserfolg zu konsolidieren und geduldig auszubauen. Er wollte zu viel und er wollte es zu schnell.
Er wollte den Tonfilm, den Farbfilm und sogar den stereoskopischen Film, und da er sich fast dauernd in finanziellen Nöten befand und seine Schaffenskraft mit zahllosen anderen auf schnellen Gelderwerb gerichteten Plänen zersplitterte, ist ihm nichts richtig gelungen - nichts außer jener Patentnummer 10301 mit dem stolzen Datum des 21. Juni 1889, das auf seinem Grabmal in Highgate steht, gleich unter der Inschrift „Der Erfinder der Kinematographie".
Mehr über das Ende des Erfinders Friese-Greene
Es ist übrigens auf demselben Friedhof, auf dem auch Karl Marx beerdigt ist - ein sehr schönes und teures Grabmal von bleibendem Wert, entworfen von dem berühmten Bildhauer Sir Edwin Lutyens.
Aber auch sonst hat sich die englische Filmindustrie bei der Beerdigung des Erfinders nicht lumpen lassen. Man schrieb das Jahr 1921, es gab also schon eine beträchtliche Filmindustrie und, allein in England, Tausende von Kinotheatern und Dutzende von Lichtspielpalästen.
So entbehrt das Ende des Erfinders Friese-Greene, der in den letzten Jahrzehnten seines Lebens oft genug weder Brot noch Kohle im Hause hatte, nicht einer gewissen ironischen Pointe. Unwillkürlich wird man an den alten Professor Latham erinnert, dem man bereit war, ein fürstliches (um nicht zu sagen generaldirektoriales) Trinkgeld ins Grab mitzugeben. Auch Friese-Greene hatte, was man in Süddeutschland „eine schöne Leich" nennen würde.
Dazu noch eine Legende
In vielen Büchern und filmgeschichtlichen Werken steht über Friese-Greene - sofern der Name überhaupt erwähnt wird - die hübsche Geschichte, daß die englische Filmindustrie, sich plötzlich des alten Pioniers erinnernd, ihm ein großes Bankett gab und daß ihn bei dieser Gelegenheit vor Aufregung der Schlag getroffen habe. Das stimmt nun leider nicht ganz.
Richtig ist, daß der alte Herr (der ja nicht mehr viel zu tun hatte) in eine große Verbandstagung ging, wo er eigentlich nichts zu suchen hatte und wo es bestimmt nichts zu essen und zu trinken gab und keine Tischreden, sondern nur Sitzungsprotokolle, Ansprachen, Resolutionen, Abstimmungen und Debattenreden. Dort ergriff der kranke alte Mann plötzlich das Wort und redete ziemlich irre; aber der Vorsitzende kam nicht mehr dazu, durch einen der galonierten Diener den unbekannten Störer hinausweisen zu lassen; denn der brach plötzlich zusammen und war tot, und bei dieser Gelegenheit - es mußte ja die Identität festgestellt werden - machte man zwei interessante Entdeckungen: es handelte sich um den Erfinder der Kinematographie, und er hatte einen Schilling, acht Pence in der Tasche!
Zur selbigen Stunde beschlossen die vollzählig anwesenden Führer der Industrie, dem mit einer so hochdramatischen Pointe verschiedenen Erfinder ein Ehrenbegräbnis zu stiften, und dabei ließen sie sich, wie gesagt, nicht lumpen. Es wurde an nichts gespart, es war alles da, was gut und teuer war; allein die Kosten der Blumenspenden hätten genügt, um den toten Erfinder der Kinematographie jahrelang am Leben zu erhalten.
Erfinder der Kinematographie ?
Nun, das steht zwar auf seinem Grabmal und ist auch, sofern man sich ausschließlich an die Daten der Patenturkunden hält, einwandfrei richtig. Aber Friese-Greene war gewiß nicht der einzige Erfinder der Kinematographie und keineswegs der bedeutendste.
Die Sache „lag in der Luft", und nachdem der Eastmansche (bzw. Goodwinsche) Rohfilm gegen Ende der 1980ziger Jahre die letzte wesentliche Voraussetzung geschaffen hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit - sehr kurzer Zeit -, wann die vielen Erfinder zum Ziel kommen würden, die seit Jahren, unabhängig voneinander, ihre Apparate zu vollenden trachteten.
Skladanowsky oder die Lumiere Brüder ?
Heute ist es nur noch eine akademische (und ziemlich belanglose) Frage, ob der Berliner Skladanowsky den Pariser Brüdern Lumiere oder diese dem großen Thomas Alva Edison um ein paar Monate den Rang abgelaufen haben.
Auch die innerdeutsche Streitfrage, ob Skladanowsky schon, unabhängig von Oskar Messter, sein eigenes Malteserkreuz entwickelt hat - die Amtwort ist, daß ihm das nicht, gewiß nicht zur Vollendung gelang - oder ob Messter der alleinige Urvater dieser für eine regelmäßige und „flimmerfreie" Projektion unerläßlichen Vorrichtung sei : auch diese leidige Streitfrage wurde längst aus der Welt geschafft, und zwar durch eine Ehrenerklärung, die etwa vierzig Jahre später der alte Messter dem noch älteren Skladanowsky gab; es ist ein erfreulicher Gedanke, daß dieser jahrzehntelang fast vergessene Pionier noch vor seinem Tode zu wohlverdienten Ehrungen kam.
Als entwicklungsgeschichtlich wesentliches Faktum bleibt festzuhalten, daß Messters Malteserkreuz unter dem Namen „deutsche Schaltung" schon in den neunziger Jahren von Lumiere und den Amerikanern übernommen wurde und überhaupt erst einen Vorführungsapparat nach modernen Begriffen ermöglichte.
Wer war der Erste ?
An wesentlichen Daten bleibt bemerkenswert, daß Skladanowskys erste öffentliche Filmvorführung, „Der Biograph", schon im Frühjahr 1895 vereinbart, erst am 1.11. im Berliner Wintergarten anlief, doch noch früh genug, um der ersten öffentlichen Vorführung des Lumiereschen Cinematograph zuvorzukommen, die am 28. Dezember in Paris im Grand Cafe am Boulevard des Capucines stattfand.
Immerhin konnten die Brüder Lumiere mit Recht geltend machen, daß sie das „Premierenprogramm" schon im März 1895 in Lyon, wenn auch in einer Privatvorstellung, vorgeführt haben.
Die Amerikaner wissen es natürlich besser . . .
In fast allen amerikanischen Büchern freilich ist zu lesen, daß die allererste öffentliche Filmvorführung in Koster & Bials Variete in New York am 20. April 1896 stattfand, angekündigt als „Thomas A. Edisons neuestes Wunder, das Vitascope" (also der Nachfolger von Edisons berühmtem „Guckkasten"-Apparat, dem Kinetoscope).
Doch da wurde schon wieder etwas geschummelt
Es ist nicht ohne eine gewisse ironische Pointe, daß einer der bei dieser historischen Gelegenheit vorgeführten Minutenfilmchen den Titel trug »Kaiser Wilhelm reviewing his troops« - genau derselbe Streifen, der sechs Monate vorher unter dem Titel „Kaiserparade" im Berliner Wintergarten lief; die ironische Pointe ist freilich die, daß in den gleichen dicken Büchern, in denen jene New Yorker „Premiere" als historisches Ereignis seitenlang beschrieben wird, allenfalls noch Lumiere Erwähnung findet, während die Leistung der Messter, Skladanowsky, Friese-Greene und anderer Pioniere entweder überhaupt nicht erwähnt oder vollkommen bagatellisiert wird; denn da gibt es nur einen einzigen Erfinder der Kinematographie, Thomas Alva Edison, den „Zauberer von Menlo Park".
In Amerika ist Edison der "Größte"
Nicht als ob man den gewaltigen Anteil dieses genialen Amerikaners an der Erfindung und Entwicklung der Kinematographie unterschätzen dürfte. Er war zwar jahrelang in dem Irrtum befangen, eine Vorführung von 40 (anstatt 16!) Bildern pro Sekunde anzustreben, und mußte - genau wie Lumiere - auf das Messtersche Malteserkreuz warten, um eine wirklich einwandfreie Projektion zu erzielen; aber er hat doch, als endlich durch Goodwins und Eastmans Rohfilm die endgültige Voraussetzung geschaffen war, die Dinge mächtig vorwärtsgetrieben, nicht zuletzt durch den großen Namen und die fast unbegrenzten Mittel, die er (im Gegensatz zu den meisten anderen Pionieren der Filmtechnik) einsetzen konnte.
Der Engländer Wordsworth Donisthorp
Edison war übrigens viel mehr an akustischen als an optischen Forschungen interessiert und hat jahrelang die Vorarbeiten zum Kinetoscope und Vitascope mehr als eine Zugabe zu seiner Lieblingserfindung, dem Phonographen, betrachtet. Zudem war seine erstaunliche Arbeitskraft durch eine solche Fülle anderer Projekte in Anspruch genommen, daß er jahrelang immer nur sporadisch auf die zunächst von dem Engländer Wordsworth Donisthorpe bei ihm angeregten Versuche zurückkam, „Bewegungsbilder" herzustellen und zu projizieren.
„Das Projekt von Zimmer 5"
In Menlo Park war dieser verhältnismäßig nebensächliche Komplex zunächst auf ein einziges Zimmer („Room 5") beschränkt und hieß im Kreise der Mitarbeiter „Das Projekt von Zimmer 5".
Der mit vielen anderen, zunächst für ihn vordringlichen Problemen überlastete Meister nahm sich jahrelang nur selten etwas Zeit, im Zimmer 5 persönlich einzugreifen und die Vorarbeiten zu überwachen, die dort von einem seiner Assistenten gemacht wurden, einem jungen Engländer namens Dickson, der sich später im Unfrieden von Edison trennte. Einer der Kündigungsgründe war übrigens Edisons Ärger, daß sein Angestellter in seiner Freizeit den Lathams technische Hilfe leistete.
Edisons Versäumnis mit dem Patent in England
Richtigzustellen bleibt noch ein nicht uninteressantes Versäumnis, von dem in vielen historischen Werken die Rede ist und viel Wesens gemacht wird: es heißt da, daß Edison, sei es aus Zerstreutheit, sei es, weil er die 30 Pfund Patentanmeldegebühren sparen wollte, es versäumt habe, seine Apparatur in England patentieren zu lassen, und daß er sich dadurch um ein Vermögen geschädigt habe.
In Wirklichkeit lagen die Dinge etwas anders. Denn Edison war zwar einer der genialsten Erfinder, aber bestimmt kein „zerstreuter Professor", im übrigen beschäftigte er ein ganzes Büro von Patentanwälten, und auf lumpige 150 Dollar kam es ihm gewiß nicht an.
Der wahre Grund für das Versäumnis der englischen Patentanmeldung dürfte der sein, daß Edison wußte, das Patent würde nicht bewilligt werden. Edison war über das Friese-Greene-Patent genau informiert, denn der Engländer hatte ihm schon Jahre vorher seine Pläne zur Begutachtung eingeschickt; er tat das im etwas naiven Impuls der Bewunderung für den großen „Zauberer", vielleicht auch in der Hoffnung auf eine Mitarbeit des berühmten Kollegen.
Was freilich dabei für ihn positiv herauskam, war lediglich eine dürre Empfangsbescheinigung des Sekretariats und, Jahre später, viel fruchtloser Ärger und langwierige Patentstreitigkeiten. Das erheblich wesentlichere, wenn auch negative Resultat dürfte eben jenes Versäumnis gewesen sein, das Edison-Patent in England anzumelden.
Edison und Joseph Plateau, die Wegbereiter des Films
Als wesentliches Fazit bleibt die historische Tatsache, daß Edison zwar gewiß nicht der, aber doch neben Lumiere der wichtigste Erfinder der Kinematographie geworden ist, zumal seit er sein Lieblingskind, den Phonographen, unter Dach und Fach hatte.
Daß der schwerhörige und in späteren Lebensjahren fast taube Edison einen so großen Teil seiner Arbeitskraft der akustischen Bereicherung der Menschheit widmete, scheint von der gleichen tragischen Bedeutsamkeit wie die hingebende Lebensarbeit des Joseph Plateau, der, von der Sonne geblendet und durch seinen eigenen Wissensdrang zu ewiger Nacht verurteilt, dennoch zu einem der hervorragendsten Wegbereiter wurde für das in Jahrtausenden ersehnte Ziel, uns das lebendige Bild zu schenken.
Vorerst noch ein Jahrmarktscherz für Halbwüchsige
Wieviel aufopfernde Arbeit mußte geleistet, wie viele Enttäuschungen erlitten werden, wie viele Fortschritte, Hemmschuhe, Irrwege und abermalige Fortschritte waren zu verzeichnen, bis das Ziel endlich erreicht wurde - auch dieses Ziel erst als Schwelle zu neuem Beginnen und zu neuen, noch längst nicht erreichten Zielen.
Mitte der neunziger Jahre war man aus dem Gröbsten heraus, das technische Problem war halbwegs gelöst und das neue Ausdrucksmittel geschaffen; um die Jahrhundertwende hatte man sich schon einigermaßen daran gewöhnt, ohne freilich ahnen zu können, welch erstaunliche Entwicklung binnen weniger Jahrzehnte den sehr bescheidenen Anfängen folgen sollte.
Denn zunächst war es gewiß nicht viel mehr als eine Kreuzung zwischen einer technisch-wissenschaftlichen Spielerei und einem Jahrmarktscherz für Halbwüchsige.