Schlager, Lieder, Musik und der Film - die Bedeutung .....
Auf diesen Seiten wird die biografische Aufarbeitung der Zusammenhänge von Kultur und Politik der Jahre 1918 bis 1945 skizziert. Ab etwa der Hälfte der Seiten wird dem Film die größere Aufmerksamkeit gewidmet als der Musik bzw. den Liedern. Manche Filmlieder wurden zu Gassenhauern - aber erst, nachdem der Tonfilm den Durchbruch hatte. Viele Verweise und Zitate aus den dicken Film-Büchern von Curt Riess und auch von Heinrich Fraenkel kennen unsere Leser bereits. Weitere Bücher sind zum Verständnis der End-Zeit bis April 1945 von großem Informationsgehalt.
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1929
Stresemann stirbt - Heinrich Himmler wird Reichsführer der SS - Blutige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei am 1. Mai in Berlin - »Schwarzer Freitag« an der New Yorker Börse löst weltweite Krise aus - Literatur-Nobelpreis an Thomas Mann - Toscanini geht, vom italienischen Faschismus vertrieben, nach USA - Remarque >lm Westen nichts Neues< - Weltumfahrt des Luftschiffes »Graf Zeppelin« (49.000 km) - Die Abendkleider sind jetzt vorne kurz und hinten lang
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DIE »GOLDENEN« ZWANZIGER LIEGEN IM STERBEN
Noch ist was los, und wenn's auch noch so überflüssig verrückt ist. Der Hochdruck explodiert in albernsten Rekorden. In Berlin produziert sich der Dauerredner Parlatur, der darauf aus ist, den Rekord einer Amerikanerin zu brechen, die 43 Stunden ohne Unterbrechung gequasselt hatte.
Ob er diese Vorgängerin von Gisela Schlüter überrundet hat, ist nicht überliefert. Kurz vorher hatte der Fakir Jolly im selben Lokal in einem Glaskasten 43 Tage und Nächte verbracht, ohne Nahrung zu sich zu nehmen.
Exzesse. Ausnahme-Erscheinungen. Nur die krasse Seite des Sensations-Berlin. Zur Lage in Deutschland bemerkt Golo Mann:
- »Man kann nicht sagen, daß die Normalität der Jahre 1924 bis 1929 bloßer Schein war und keine echte Möglichkeit des Dauerns dahinter ... So hat die Weimarer Republik die melancholischen Tatsachen ihrer Herkunft überstanden, den Versailler Vertrag, die beschränkten, aber häßlichen Bürgerkriege der ersten Jahre, den Ruhreinfall, die Inflation, das blinde Wüten der Kommunisten, das hochmütige Abseitsstehen der Armee, die verdrossene Widerspenstigkeit der oberen Stände, Bürokratie, Justiz, Universität - all das hat sie schlecht und recht überstanden und, zu ihrer eigenen Überraschung, noch eine Periode leidlicher Gesundheit überlebt. Als aber dann 1929 der zweite Wirtschaftsruin - der schwarze Freitag - kam, und alle Furien der Demagogie losbrachen - da war es zu viel.«
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Gehen wir ein Jahr zurück nach 1928.
Der amerikanische Wirtschaftsführer und Finanzmann Owen D. Young hatte den sogenannten »Young-Plan« ausgearbeitet, der geringere Jahreszahlungen der deutschen Reparationen festsetzte. Sie sollten im ersten Halbjahr 1928 676,9 Millionen Reichsmark betragen, bis 1965 auf 2 352,7 Millionen steigen und von da an bis 1988 auf 897,8 Millionen sinken. 1990 wäre die Reparationsschuld endgültig abgetragen gewesen.
Viktor Reimann:
»Bedenkt man aber, daß Deutschland, als der Young-Plan vorlag, bereits drei Millionen Arbeitslose zählte, die Sieger ihm aber immer noch weitere 60 Jahre Reparationszahlungen auferlegen wollten, so daß seit 1918 praktisch drei Generationen daran zu tragen gehabt hätten, dann ist auch der Aufstieg radikaler Parteien am rechten und am linken Flügel zu verstehen.«
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1929 - Zwei Drittel waren deutsche Schlager
Unaufhaltsam steigen aber auch die Umsätze der Unterhaltungsmusik. 1907 hielt die E-Musik noch 63 Prozent, 1929 hat die U-Musik einen Marktanteil von 75 Prozent erobert. 1926 kaufen die Deutschen 4,2 Millionen Platten, 1929 sind es 30 Millionen (ein Rekordumsatz, der erst in den fünfziger Jahren wieder erreicht und überrundet wird).
Und - da können heutige Schlagerfabrikanten nur wehmütig seufzen - der Anteil deutscher Schlager beträgt trotz schärfster internationaler Konkurrenz zwei Drittel!
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Da müssen doch die Verlage und Plattenkonzerne dran gedreht, quasi ein Schlager-LSD in die Versorgungssysteme der Weimarer Republik gegossen haben!!!
Manipulation oder auch nur Werbung im heutigen Sinn war gar nicht möglich. Schon Paul Lincke hatte gesagt: »Wenn das Publikum nicht will, können 1.000 Kapellen das gleiche Lied spielen - es wird nie ein Schlager daraus werden.«
In den Zwanziger Jahren entschied dann eine vielfache Anzahl, rund 30.000 Kapellen, ob ein Lied überhaupt ins Programm aufgenommen wurde. Die Kosten für die Salonorchester-Notenausgaben mußten sich ja amortisieren. Wenn ein »Schlager« dann wirklich ein Schlager wurde, dann höchst demokratisch. Und dann wurde er damals auch nicht bloß eine Eintagsfliege oder ein Wegwerf-Hit
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1929 - DER GROSSE KNALL BRINGT DIE WEICHE WELLE
Am 24. Oktober 1929 wird durch den Kurssturz an der New Yorker Börse die Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Das Geld war »billig«, d. h., es war für Kredite und Spekulationen zu viel Geld auf dem Markt (eine Schwemme, an der nicht zuletzt Deutschland unfreiwillig durch seine Reparationen Schuld hatte).
Rose Kennedy berichtet über ihren Mann Joseph, den Senior des Kennedy-Clans:
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- »Während die Kurse an der Börse in die Höhe schnellten und die Zeitungen Erklärungen bekannter Politiker und Wirtschaftler über eine grenzenlose Prosperität in einer >neuen Ära< brachten, betrachtete Joe die Szene nüchtern und kritisch und kam zu dem Schluß, der ganze Aufschwung sei eine Seifenblase, die über kurz oder lang platzen werde.
- Er begann, sein Geld aus dem Markt zu ziehen. Zur Zeit des berühmten Börsenkrachs von 1929 befand sich der Hauptteil seines Vermögens in sicherem Bargeld auf zuverlässigen Banken. So hatte er nicht nur seinen Reichtum vor der Katastrophe bewahrt, sondern war auch in der Lage, >in Baisse zu spekulieren<. Deshalb strich er, als die Kurse an der Börse fielen, große Gewinne ein.«
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Zusätzlich eine ungewöhnlich schwere Agrarkrise
Zum Aktienknall kam noch eine ungewöhnlich schwere Agrarkrise, die den heute märchenhaft anmutenden Theorien von W. St. Jevons neue Nahrung gab, der Ernteergebnisse und Konjunktur mit der Tätigkeit der Sonnenflecken in Verbindung brachte.
Nach dem Zusammenbruch kommt die weltweite Depression, häufen sich die Pleiten von Konzernen und Banken, breitet sich lähmende Verzweiflung aus, sind Selbstmorde von reich und arm an der Tagesordnung. Deutschland wird von dieser Sturmflut relativ spät, dafür am gründlichsten getroffen.
Die großen, kurzfristigen Kredite werden zurückgezogen, die Absatzmärkte schrumpfen, die Exportziffern stürzen, die Steuereinnahmen gehen erschreckend zurück, die Kosten für die Unterstützung der Arbeitslosen steigen um so gewaltiger, das Defizit in der Staatskasse ebenfalls.
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Die zunehmende "Weltflüchtigkeit der Filmschlager"
Und nun geschieht im Schlager etwas sehr Seltsames, eine Entwicklung, die viel »passender« (wenn sie nur einige Jahre gewartet hätte) dem totalen Diktat der Nazis in die Schuhe zu schieben wäre.
Selbst ein rigoroses Werk wie >Wir tanzen um die Welt< (Deutsche Revue-Filme 1933-1945, Hanser, 1979) muß einräumen, daß »die zunehmende Weltflüchtigkeit der Filmschlager kollektive Empfindungen der Kriegsgeneration ausdrückte und für viele Menschen psychischen Schutz bedeuten konnte.« (Lothar Brox).
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Die "Weiche Welle"
Weiche Welle. Flucht vor der bevorstehenden Katastrophe in das Stimmungslied, in illusionären Optimismus, in eine Traumwelt, die den trostlosen Alltag kaschiert. Das wird uns nun immer wieder begegnen.
So verzeichnet ein Katalog des Ufaton- und des Wiener Boheme-Verlags 1927 neben 24 Foxtrots nur 4 Tangos und 4 Slow-Fox, 1931 neben 29 Foxtrots bereits 27 Tangos, 15 Slow-Fox und 8 Langsame Walzer. Man trägt wieder Gefühl, gibt sich nicht nur dem wohlfeilen Rausch des süßen schwülen Liebestangos hin.
9 Millionen Klavierausgaben von "Zwei Herzen im Dreivierteltakt"
Ab 1930, bereits mitten in der "allerschwärzesten" Depression, werden allein von dem Robert-Stolz-Walzer "Zwei Herzen im Dreivierteltakt" über 9 Millionen Klavierausgaben verkauft. Wenn heutige Radikal-Soziologen mit ihrer Verknüpfungs-Theorie zwischen »von oben« ausgelöstem Chaos und Schlager-Einlullung recht hätten, müßte ein früher Onkel des Big Brother aus Orwells >1984< einem willenlosen Kollektiv das Stolz-Sedativum zwangsverschrieben haben ...
- »Der Illusionismus der Schlager überzieht als dünner Lack einen großen Katzenjammer. Alle Vorwürfe, die sich gegen die Oberflächlichkeit wenden, verfehlen deshalb ihr Objekt. Wer Schlager analysiert, stößt Schritt für Schritt an Unzufriedenheit und Einsamkeit. Schlagergeschichte ist Sozialgeschichte, auch wenn es vielen nicht gefällt«
schreibt Wilfried Berghahn in den Frankfurter Heften 1962.
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UND WIE WAREN DIE ZWANZIGER NUN EIGENTLICH WIRKLICH?
Die Zwanziger Jahre - ein Jahrzehnt, dessen spezifisches Flair ungezählte Definitionsversuche immer nur ausschnittweise in den Griff bekamen. Ein Jahrzehnt, das zwar manche Familienkrankheiten mit unseren späten 19siebziger Jahren teilt (nicht nur Tanzwut, Flucht in die Droge, sektiererischen Mystizismus, wirtschaftliche Gratwanderung), das aber eben etwas »mehr« war. Oder wie Robert Gilbert die Wiederbelebung des Kabaretts der Zwanziger nach dem Zweiten Weltkrieg (auch seine eigenen Beiträge dazu) apostrophierte:
- »Aber es war ja nur das Echo von dem, was damals in Berlin gewesen war. Es fehlte, sagen wir mal, der >absolute Geist<, der hinter den Dingen stecken sollte.«
Die brillanteste Zusammenfassung der geistigen Strömungen dieser Ära gab Franz Werfel in seinem Stück >Spiegelmensch< bereits 1920:
- Eucharistisch und thomistisch,
- Doch daneben auch marxistisch,
- Theosophisch, kommunistisch,
- Gotisch kleinstadt-dombau-mystisch,
- Aktivistisch, erzbuddhistisch,
- Überöstlich taoistisch,
- Rettung aus der Zeit-Schlamastik
- Suchend in der Negerplastik,
- Wort und Barrikaden wälzend,
- Gott und Foxtrot fesch verschmelzend.
Die brillanteste Formulierung - gewiß.
Die visionärste, treffendste aber (Rosa Valetti sang, Friedrich Hollaender komponierte) fand Walter Mehring ebenfalls 1920 in seinem Text >Berlin Simultan<:
- Das Volk steht auf! Die Fahnen raus!
- Bis früh um fünfe kleine Maus!
- Im Ufafilm
- Hoch Kaiser Wil'm.
- Die Reaktion flaggt schon am Dom,
- Mit Hakenkreuz und Blaukreuzgas
- Monokel kontra Hakennas'
- Auf zum Pogrom
- Beim Hippodrom
- Is alles Scheibe -
- Bleibt mir vom Leibe -
- Mit Wahljeschrei
- Und Putsch
- Eins zwei drei
- Rrrrutsch
- mir den Puckel lang Puckel lang.
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WIE RICHARD WAGNER ZUM BEGRÜNDER DES DEUTSCHEN TONFILMS WURDE
Übergänge fließen. Die Freizügigkeit der Zwanziger überlebt in die ersten Jahre des neuen Jahrzehnts. Definitiv ist der Siegeszug des Tonfilms.
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Und das kam so ...
1928 sieht der UFA-Generaldirektor Ludwig Klitzsch in New York die ersten amerikanischen Tonfilme. Zumal nach >Singing Fool< (da geht es ihm nicht anders als Hans Albers) ist er tief bewegt. Nicht nur das.
Der gebürtige Sachse, bislang künstlerisch unbelasteter Geschäftsmann, wird zum düster brütenden UFA-Hamlet: Sein oder Nichtsein. Stummfilme, waren sie nur gut oder spektakulär genug, ließen sich weltweit exportieren. Der Tonfilm setzt Sprachgrenzen.
Aus dem Export-Giganten UFA droht ein Regional-Zwerg zu werden. Im Oak-Room, dem eleganten Restaurant des New Yorker Plaza-Hotels, teilen die begleitenden UFA-Herren seine Weltuntergangs-Stimmung.
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Die Kapelle spielt ein Musikstück.
Wie könnte ein Sachse einen Sachsen auch im entlegensten Teil der Welt nicht erkennen!
- »Das ist doch >Tannhäuser<«, ruft Klitzsch. Lange vor Ernst Stankovski geht nun das >Erkennen Sie die Melodie<- Rate-Karussell rund. Der zweite Satz aus der Unvollendeten von Schubert; ein Potpourri aus >Zar und Zimmermann<, das Scherzo aus dem >Sommernachtstraum<; ein Walzer von Johann Strauß.
- Fast das gesamte Repertoire ist deutsch. Nach der Götterdämmerung dämmert es Klitzsch morgendlich leuchtend: »Americans love German music«.
Und dann - so will es die Überlieferung - prägt er den entscheidenden gewichtigen Satz:
- »Die geistige Musikalität des deutschen Volkes wird den gerechten Anteil an der Entwicklung des Tonfilms haben!«
Und damit sind die Weichen für die Zukunft der UFA und die Zukunft des deutschen Films überhaupt gestellt.
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»DAS CHANSON, NACH DEM DER STOFF GEBIETERISCH VERLANGTE« (1929-1933)
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- »Während andere Firmen sich noch schwerfällig über Vor- und Nachteile einer solchen Investition den Kopf zerbrachen, war die UFA in gut einem halben Jahr die führende Tonfilm-Gesellschaft in Deutschland geworden.«
Werner Sudendorf (>Marlene Dietrich<, 1977)
- »Das dreidimensionale Tönen werde ich mir nie im Leben als eine künstlerische Bereicherung einreden lassen. Es ist vielmehr ein hahnebüchener Kitsch, ganz genau entsprechend jenen Postkarten, auf denen Esel aufgeklebte Schwänze aus Haaren haben.«
Axel Eggebrecht
- »Das Publikum wird den Kinos fernbleiben, wenn der organisierte Lärm die Leinwandruhe zerstört. Aus dem Krachfilm kann dann leicht ein Filmkrach werden!«
Luis Trenker
Daß der Trenker, der schon damals die Berge ruaf'n hörte (als einziges Menschenkind, denn sie rufen ja unhörbar für alle anderen immer nur »Luis, Luis«), sich die Ruhestörung verbat, ist verständlich.
Die krasse Fehlprognose des Kritikers und Film-Dramaturgen Eggebrecht ist peinlicher. Was ihn nicht hindern wird, etwa zusammen mit Willi Forst Maupassants Novelle >Bel ami< zu einem (Ton-)Film-Stoff umzuarbeiten.
Oder wie Konrad Adenauer einmal sagte: »Was interessiert mich mein Gerede von vorgestern« ...
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Beinahe ein Stummfilm geworden >Melodie des Herzens<
Der Beginn des deutschen Tonfilms war in der Tat leicht lächerlich. Willy Fritsch dreht den Stummfilm >Melodie des Herzens< weit hinten in Ungarn - die Geschichte eines Honved-Husaren, der gar zu gern ein Pferd haben möchte.
Ein typisches Beispiel für das Gaukelspiel der Traumfabrik. Denn Willy Fritsch kann Pferde nicht ausstehen, die Pferde ihn auch nicht.
Da helfen nur Tricks. Der filmisch »geliebte« Gaul wird Tritt für Tritt mit Hafer angelockt - und schlägt, kaum daß Fritsch in seine Reichweite kommt, trotzdem aus. Doch dann steigert sich die Katastrophe noch.
Kabel aus Berlin: Die Produktion soll auf Tonfilm umgestellt werden. Als Willy Fritsch zum ersten Mal das Monster einer frühen Tonapparatur sieht, zuckt er zusammen: »Die ist ja noch schlimmer als der ekelhafte Gaul.«
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DAS EREIGNIS MARLENE DIETRICH
DAS EREIGNIS MARLENE DIETRICH - ODER WIE DER »BLAUE ENGEL« VERNEBELT WURDE
Theater-und Film-Erinnerungen, »Memoiren« - da stehen vor der Wahrheit die kleinen kosmetischen Korrekturen, die süßen Schwindeleien, die läßlichen Lügen - und manchmal die ganz dicken Hämmer.
Schwer, sich durch Halb-, Dreiviertel- und Überhaupt-nicht-mehr-Wahrheiten durchzufinden. Gerade die leicht geschürzte Muse nutzt ihre Enthüllungen genau so raffiniert (oder auch plump) als Tarnung.
Eine der gröbsten Fälschungen ist die »Entdeckung« von Marlene Dietrich für den >Blauen Engel<. Peter Kreuder übertreibt kaum, wenn er meint:
- »Von hundert Leuten, die Marlene kannten, haben sie mindestens zweihundert entdeckt.«
Selbst der große Emil Jannings genierte sich in seinen Lebenserinnerungen 1951 nicht, zu behaupten:
- »Da erinnerte ich mich an eine junge, fast unbekannte Schauspielerin, die in der Revue >Zwei Krawatten< auftrat und mich mit seltsam verschleiertem Blick angesehen hatte, als ich sie ansprach.«
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Und so "unbekannt" war Marlene Dietrich 1929:
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- Am 17.1.1929 hat der Tonfilm >Ich küsse Ihre Hand, Madame< Premiere. Hauptrolle: Marlene Dietrich (»Beweis einer ungewöhnlichen Filmbegabung, seltsame, lockende Sprache der stillen Lässigkeit«).
- Am 29.4.1929 startet der Stummfilm >Die Frau, nach der man sich sehnt<. Hauptrolle (neben Fritz Kortner): Marlene Dietrich (»Ihre Filmbegabung ist unmittelbar überzeugend«).
- Am 22.9.1929 dann der Tonfilm >Das Schiff der verlorenen Menschen<. In einer der Hauptrollen: Marlene Dietrich (»Zwischen Schiffsballen und Scheinwerferlicht lag die Dietrich in blasser Schönheit«).
- Rezensionen aus »Der Montag Morgen«, »Berliner Börsen-Courier«, »Berliner Tageblatt«. Noch bevor sie für den >Blauen Engel< ins Gespräch kommt, ist sie im »Tageblatt« bereits »die« Dietrich.
- Sicher hat sie Josef von Sternberg in der Georg Kaiser-/Mischa Spoliansky- Revue >Zwei Krawatten< gesehen, ebenso wie Hans Albers und Rosa Valetti. Daß »Fräulein Dietrich« (sie war verheiratet und hatte eine Tochter), wie er schreibt, »nicht den schüchternsten Versuch unternahm, mein Interesse zu erregen«, lag nicht an ihrer Gehemmtheit, sondern an der massiven Faulheit und dem Desinteresse dem Metier gegenüber.
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Marlene Dietrich mochte ihre Nase nicht
Sternberg aber muß auch eine Kopie von >Die Frau, nach der man sich sehnt< gesehen haben. Da ist die Lola-Lola in ihren Grundzügen schon skizziert, sogar bis in manche typische Dietrich-Einstellungen.
Regisseur Kurt Bernhard kann sich noch heute an die Gründe für ihre moderne "Coolheit" erinnern:
- »Weil sie ihre Nase nicht schön fand und nicht wollte, daß man sie im Profil fotografiert, folgte sie ihren Partnern nur mit den Augen, wo jeder normale Filmschauspieler sich ihnen zugewandt hätte.«
Vielleicht aus diesem Grund will sie selbst sich partout auch nicht an ihre Anfänge erinnern und schreibt in ihren verschwiegenen Memoiren >Nehmt nur mein Leben<:
- »Mein >Filmleben< begann mit dem Film >Der blaue Engel<. Im Gegensatz zu dem, was in vielen Büchern, die über mich geschrieben wurden, berichtet wird, war ich damals keine >bekannte< Schauspielerin. Ich war absolut unbekannt, ein Niemand, eine von Hunderten von Amateuren, Studenten und hoffenden Schauspielerinnen. Ich war eine Schülerin der Reinhardt-Schule - das war alles.«
Es macht halt viel mehr her, aus dem Nichts gleich nach ganz oben, als die behäbigere Realität. Die alte Dame Dietrich ist noch immer ganz schön kokett.
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Josef von Sternberg gehört der Ruhm
Josef von Sternberg gehört der Ruhm, aus der interessanten Schauspielerin, der Vertreterin der »Neuen Sachlichkeit«, bereits im ersten gemeinsamen Film den internationalen Mythos Marlene geschaffen zu haben. Nach der Premiere am 30. März 1930 überschlagen sich die Reaktionen.
Der Berliner Starkritiker Herbert Ihering schreibt im »Berliner Börsen-Courier«:
- »Das Ereignis: Marlene Dietrich. Sie singt und spielt fast unbeteiligt, phlegmatisch. Aber dieses sinnliche Phlegma reizt auf. Sie ist ordinär, ohne zu spielen. Alles ist Film, nichts Theater. Zum ersten Mal kommt eine Frauenstimme im Tonfilm mit Timbre, Klangfarbe, Ausdruck heraus. Außerordentlich.«
Und Heinrich Mann sagt im Dezember 1930 dem französischen Journalisten Raoul Ploquin: »Wenn sie in dem Film zum letzten Mal den berühmten Refrain "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt" singt, verdeutlicht sie mit einer erschreckenden Intensität die Philosophie des Werkes.« (Revue du Cinema«, Paris, 1. 12. 1930).
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