Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil II - KAPITEL 14
"RÜCKBLICK UND AUSBLICK" (aus der Sicht von 1957)
Von spät verwirklichten Erfinderträumen / Von Schlußpunkten und Wendepunkten / Von veralteten Moralbegriffen und sittlicher Reife / Von einer Monumentalität, die nicht mehr Selbstzweck war / Von einem Meisterwerk, das sich nicht um dramaturgische Grundgesetze kümmerte / Von der wachsenden Allmacht der Weltstars / Von Chaplin und einem Rezept für visuelle Komik / Vom Schwergewicht der UFA und Bavaria / Von schöpferischen Menschen und vom künstlerischem Anspruch / Vom Alltag und von Feierstunden.
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- Anmerkung : Wenn hier öfter von "Breitbild" gesprochen oder zitiert wird, ist jedesmal das neue "Cinemascope" gemeint. Das bei uns in Deutschland benutzte breite 35mm Normalfilm-Format mit 1:1.85 wurde weltweit nicht als Breitbild bezeichnet. (Der 35mm Standard Normalfilm hatte das Format 1:1,37.)
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Da es in der historischen Entwicklung keinen „Schluß" gibt
Versucht man, die Schlußbilanz einer geschichtlichen Entwicklung in einem gegebenen Zeitraum zu ziehen, dann wird man schnell an die Binsenwahrheit erinnert, daß es in der historischen Entwicklung keinen „Schluß" gibt, und zwar weder in der allgemeinen Weltgeschichte noch auf irgendeinem Sondergebiet, dessen Geschichte ohnehin mit der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung und mit der Sozial- und Kulturgeschichte des betreffenden Zeitraums verknüpft ist.
Die Epoche des Stummfilms dauerte fast 30 Jahre
Diese Entwicklung mag ihre Fortschritte, ihre Nebenwege, ihre Abwege und ihre Rückschritte haben, aber sie geht immer weiter, es gibt keine Schlußpunkte, es gibt allenfalls Wendepunkte.
Die Epoche des Stummfilms hat fast genau dreißig Jahre gedauert, aber erst ihr letztes Jahrzehnt brachte die Entwicklung zu einer ihr innewohnenden, eigenen Kunstform. Ihr Lebensfaden wurde auf dem Gipfelpunkt eben jener Entwicklung abgeschnitten, aber der Tonfilm war Ende und Anfang zugleich.
Und wieder sind dreißig Jahre vergangen
Seitdem sind wieder dreißig Jahre vergangen, und es wäre ebenso pedantisch wie unrichtig, die Ankunft an neuen Wendepunkten aus jenem numerischen Zufall abzuleiten. Die Gründe liegen tiefer, und sie sind "wesentlicher"(??).
Die sichtbaren Ergebnisse der technischen Entwicklung
Betrachten wir zunächst die sichtbaren Ergebnisse der technischen Entwicklung; und denken wir an den Traum, den schon in der Vorzeit der Filmgeschichte Männer wie Friese-Greene und Edison und andere Pioniere der Filmtechnik träumten. Sie dachten nicht nur an die Bewegungsbilder, die einige Jahre später durch ihre Pionierarbeit verwirklicht wurden.
Der Tonfilm, der Farbfilm und der „plastische" Film
Sie wollten zu ihrer Zeit schon den Farbfilm, den Tonfilm und sogar den „plastischen" Film; sie wollten alles, was erst sechs Jahrzehnte später verwirklicht wurde.
Die technische Vollendung ist uns so selbstverständlich geworden, daß uns weder die Plastik der Breitwand, noch die Reinheit des Tons, noch die Naturtreue der Farbe sonderlich bemerkenswert erscheint.
Ist das technische Optimum schon erreicht
Da aber die Breitwand nicht mehr viel breiter, die Farbe nicht viel naturgetreuer und der Ton (und die Synchronisationstechnik) nicht mehr viel sauberer werden kann, so ist anzunehmen, daß wir das technische Optimum schon erreicht haben oder ihm doch ziemlich nahe sind. Dann hätten wir also doch einen Schlußpunkt der Entwicklung?
Dann wären wir also doch nach etwa sechzig Jahren des Films und dreißig Jahren des Tonfilms am Ende des Weges? Nein, wir sind wieder am Anfang zu neuen Wegen.
Am Ende des Stummfilms . . . .
In meiner Chronik des Stummfilms habe ich jenen ersten Wendepunkt der Filmgeschichte ausführlich betrachtet: Man hatte die Technik gemeistert; man hatte gelernt, in Großaufnahmen und Fahraufnahmen viele Nuancen innerer und äußerer Bewegung zu erhaschen, und man hatte gelernt, zunächst hunderte und dann sogar tausende von Komparsen stundenlang in Bewegung zu halten und in sehr wirkungsvoll „lebendigen" Bildern zu erfassen.
Gigantomanie bei der Monumentalität der Großfilme
Man hatte eine fast kindliche Freude an solcher Meisterung der Quantität, und man suchte sich gegenseitig in der Monumentalität der Großfilme zu übertreffen. Sehr bald jedoch merkte man, daß man da an Grenzen kam, hinter denen es keinen Fortschritt mehr zu geben schien und daß es wirkungsvoller war, in die Tiefe zu gehen als immer mehr in die Breite und Weite.
Man erreichte eine zweite Stufe, indem man lernte, die Filmkamera nicht nur wie ein Photograph zu bedienen, der lediglich darauf bedacht ist, daß sein Objekt „gut getroffen" ist; sondern wie den Pinsel und die Palette eines eigenwilligen Künstlers, dem es mehr auf den Ausdruck eines Gedankens und Gefühls, auf die Verdichtung einer Stimmung und einer Atmosphäre ankommt als auf den mechanischen Abklatsch des Gegenständlichen.
Man ging in solchem Bemühen mit großem Eifer vorwärts, und da gerade der Expressionismus „modern" war, ging man bald zu weit und überschoß das Ziel, bis man merkte, daß mit ein paar schiefen Wänden und einigen ungewöhnlichen Kameraeinstellungen noch nicht die unbedingte Gewähr für ein Kunstwerk, wohl aber die Gefahr von pseudoliterarischer Maniriertheit gegeben war.
Man lernte, immer wieder neu zu lernen
Man erkannte, daß ein Kunstwerk mit sehr einfachen Mitteln gestaltet werden konnte, immer vorausgesetzt, daß damit ein lebendiger Gedanke und ein echtes Gefühl zum Ausdruck kam.
Man machte also weitere wesentliche Fortschritte, man lernte aus alten Fehlern, vergaß wieder, was man gelernt hatte, und lernte es erneut, erweitert und vertieft; und inzwischen kultivierte man die neue Technik, bis auch der Ton, die Breitwand und die Farbverfahren kein Problem mehr bargen, das nicht ebenso souverän gemeistert werden konnte wie die Technik des schwarz-weißen Stummfilms etwa vierzig Jahre vorher, als Lubitsch seine „Dubarry" und Griffith seine „Birth of a nation" schuf.
Die Zukunft hat schon begonnen - die Zukunft von 1957
Dann wären wir also wieder einmal an einer Wegscheide? Dann würde also die zukünftige Entwicklung wieder mehr in die Tiefe gehen als in die Weite und Breite?
Beide Fragen sind zu bejahen, und auch diese Zukunft - wenn ich das berühmt gewordene Wort meines Freundes Robert Jungk zitieren darf - hat schon begonnen.
In diesem Stadium der historischen Entwicklung ist der Film mehr denn je im Begriff, gewissermaßen seine Reifeprüfung zu vollenden.
Heute das „Moralgesetz von Hollywood" mißachten
Ich habe in früheren Kapiteln das „Moralgesetz von Hollywood" ziemlich ausführlich erörtert, denn das ist ein Begriff, der in der Filmgeschichte jahrzehntelang eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es ist ein Gesetz, das zwar offiziell noch immer seine Gültigkeit hat (und in Hollywood vom „Production Code Office" vertreten ist), aber es ist ein Gesetz, das immer häufiger und entschiedener mißachtet wird.
Bedeutet nun diese Mißachtung, daß die Filme neuerdings unmoralisch werden? Keineswegs. Eher das Gegenteil, daß nämlich der Film so hinreichend „erwachsen" ist, daß er sich nun vom Gängelband einer aus Furcht und Unsicherheit übernommenen Kontrolle freimacht und den Anschluß an eine Literatur findet, die keine moralisierende Einrede duldet, wenn es gilt, ein ernstes Thema ernsthaft zu behandeln.
Beispiel aus 1957 - "Stirb wie ein Mann"
Man denke etwa an den erst 1957 in Amerika herausgekommenen Film "Stirb wie ein Mann", dessen Thema schon als sehr „gewagt" empfunden wurde, als einige Jahre vorher der ursprüngliche Roman auf der Bühne erschien; trotzdem hat der Autor Calder Willingham sein Drehbuch eher verstärkt als gemildert, und auch der Schauspieler Ben Gazarra hat die von ihm auf der Bühne kreierte Rolle des „ Jocko" im Film noch hemmungsloser dargestellt; den zynischen Sadisten, den pathologischen Leuteschinder, den dandyhaften Leutnant, der die ihm unterstellten Kadetten aufs brutalste terrorisiert oder auch (im Falle eines ihm hörigen Homosexuellen) aufs subtilste quält.
Das wird in genau so erschreckender Weise lebendig, wie es der Autor gestaltet, um die Zustände in einer Kadettenanstalt der Südstaaten zu geißeln. Kein erfreuliches Thema, aber ein kompromißlos ernstes Kunstwerk, das früher kaum im Roman und auf der Bühne, aber ganz bestimmt nicht im Film möglich gewesen wäre; und eben das meinte ich mit der Behauptung, daß der Film letzten Endes „erwachsen" sei.
Es gibt noch mehr Beispiele des Erwachsenwerdens
Die Beispiele ließen sich vervielfachen. Man denke etwa an die grausam echte Analyse des erotisch gehemmten Neurotikers in "Junggesellen-Party"; oder an die skrupellose Erfolgssüchtigkeit in Burt Lancasters „Sweet smell of success"; oder an jenen Mut zur Häßlichkeit oder vielmehr den Mut zur Alltäglichkeit, der "Marty" zum Kunstwerk macht und in fast allen Werken des Dichters Paddy Chayevski und seines bedeutendsten Darstellers Ernest Borgnine zu finden ist.
Über die Anfänge der „Reifezeit"
Alle diese Filme stammen aus der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, aber wir können getrost noch weiter zurückgehen, um die Anfänge der „Reifezeit" festzustellen.
Es ist eine noch längst nicht abgeschlossene Entwicklung, und es wird noch etliche Jahre dauern, bis man einigen Abstand dazu gewinnt.
Wer immer um die nächste Jahrhundertwende eine neue Chronik des Films schreibt, wird wohl in der Terminierung unserer Epoche sehr großzügig sein können und ihre Anfänge in die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlegen, und er wird auch Filme wie "La Strada" oder "Bitterer Reis" oder "Fahrraddiebe" im gleichen Zusammenhang nennen.
Eine geistige Trümmerwelt, die "aus den Fugen" war
Also eben die Zeit des „Neoverismus" in Italien und seiner Ausläufer und Nachfolger in anderen Ländern; die Zeit, als man in Deutschland Trümmerfilme machte, als Carol Reed mit seinem „Dritten Mann" eine geistige Trümmerwelt gestaltete, und als man in Amerika mit einem Realismus eigener Art eine Welt zu schildern suchte, die (in Hamlets Sinne) „aus den Fugen" war.
Das war ein Realismus sehr neuer und eigener Art, und wir haben schon gesehen, daß er mit Schriftstellern, wie Steinbeck, Williams und Miller, verbunden war, mit Regisseuren, wie Kazan, Mann und Zinneman, und mit jungen Künstlern, die in eben diesem Kreis aufwuchsen und geschult wurden.
Es wurden viele literarische Abhandlungen über dies stilbildende Bemühen geschrieben, aber es ist eigentlich weiter nichts als die Fortführung der von Stanislawsky um die Jahrhundertwende im Moskauer Künstlertheater entwickelten Methode, die Schauspieler zu gründlichster Durchdenkung ihrer Rollen zu erziehen.
Die sprunghaft schnelle Entwicklung der Fernsehindustrie (von 1957)
Diese filmgeschichtlich bedeutsame Wende unserer Zeit ist aber nur teilweise durch die innere Reife erklärt, die aus dem seelischen und geistigen Klima der Nachkriegszeit erwachsen ist; es kam auch ein äußerer Anstoß dazu, es kam die sprunghaft schnelle Entwicklung der Fernsehindustrie, deren unvermeidliche Rückwirkung auf die Filmindustrie sich bald als sehr wesentlich erwies.
Eine äußerliche und eine innerliche Rückwirkung
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es sich hier um eine doppelte, um eine äußerliche und eine innerliche Rückwirkung handelte; die eine war leicht vorauszusehen und trat sofort ein, die andere war überraschend und konnte sich erst allmählich auswirken.
Es war begreiflich, daß die Filmindustrie sich der drohenden Konkurrenz durch besondere und große Filme zu erwehren suchte, wie sie der Fernsehschirm nicht bieten kann, aber es hat sich erst allmählich erwiesen, daß eben jene gefürchtete Konkurrenz der künstlerischen Entwicklung des Films neue Wege weisen konnte.
immer länger, immer bunter und immer breiter
Die erste Folge war also begreiflicherweise die, daß die Spitzenfilme immer länger, immer bunter und immer breiter wurden, eine Entwicklung, die weder zu bedauern noch als abgeschlossen zu betrachten ist, obschon ihr gewisse äußere Grenzen gesetzt sind, die zum Beispiel mit dem Todd-AO Film "In 80 Tagen um die Welt" erreicht zu sein scheinen: einem Werk, das seine Wirkung durchaus nicht nur aus der überbetonten Monumentalität und aus der Tatsache bezieht, daß Dutzende von weltberühmten Stars in winzigen Episodenrollen erscheinen.
"In 80 Tagen um die Welt" als Todd-AO Film
Wenn der Regisseur Michael Anderson sich damit begnügt hätte, dann wäre der Film nichts als eine protzige Monstre-Schau; daß es auch ein Kunstwerk geworden ist, liegt daran, daß Jules Vernes' zu seinen Lebzeiten so phantastisch utopischer und heute so rührend veralteter Roman sehr witzig ironisiert wird und daß vor allem David Niven als Phileas Fogg eine ungemein sympathische Persiflage des „spleenigen" Engländers bietet.
Über die Monumentalität von anderen Riesenfilmen
Es ist übrigens bezeichnend, daß auch in den anderen Riesenfilmen der neueren Zeit (ebenso wie in ihrem Vorläufer "Vom Winde verweht") die Monumentalität nicht Selbstzweck, sondern stofflich bedingt ist.
Was für den großen Bürgerkriegsroman der Margaret Mitchell galt - die Unmöglichkeit, für die filmische Gestaltung eines so gewaltigen Stoffes mit weniger als drei Stunden auszukommen - das gilt auch für "Krieg und Frieden" nach Tolstois Roman; es gilt auch für den Texas-Film "Giganten", der über seine „Story" hinaus ein gewissermaßen sozialgeschichtliches Bilderbuch der Entwicklung von der Prärie zur Ölindustrie bietet.
Es gilt schließlich sogar für große Operettenfilme, deren breit ausmalende Milieuschilderung nicht weniger betont ist als die Story und ihre Musik- und Tanzeinlagen. Wenn wir also die filmgeschichtliche Analogie der Monumentalfilme vor vierzig Jahren (deren Monumentalität vorwiegend Selbstzweck war), und der Riesenfilme von heute etwas genauer betrachten, dann ist zweifellos nicht nur technisch, sondern auch geistig ein Fortschritt festzustellen, und wenn solche auch in ihrem geistigen Anspruch bedeutsamen Riesenfilme der Konkurrenz des Fernsehens zu verdanken sind, dann ist das weder für das Publikum noch für den Chronisten zu beklagen.
Die Bewandtnis der Rückwirkung aus dem Fernsehen
Was aber hat es mit jener überraschenden innerlichen Rückwirkung für eine Bewandtnis? Wo sind die vorhin erwähnten neuen Wege, die über das Fernsehen der künstlerischen Entwicklung des Films gewiesen wurden?
Um das verständlich zu machen, gibt es viele Beispiele, aber es scheint am zweckmäßigsten, einen Film herauszugreifen, der auch aus anderen Gründen besonders beachtlich ist: den von Sidney Lumet inszenierten Film "Die zwölf Geschworenen".
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Sidney Lumet und "Die zwölf Geschworenen"
Der Regisseur war vorher dem großen Publikum so gut wie unbekannt, das gleiche galt für die meisten seiner Schauspieler, die, abgesehen von dem Star des Films, Henry Fonda und allenfalls noch Lee J. Cobb und Eddie Albert, nur dem amerikanischen Fernsehpublikum bekannt waren.
Aber schließlich galt das auch für Paddy Chayevsky und Daniel Mann und Ernest Borgine, bevor sie durch Marty Weltruhm erwarben, es wäre also nur ein weiteres Beispiel dafür, daß talentierte Schriftsteller, Regisseure und Schauspieler sich ihre Sporen in der Fernsehindustrie verdienten, bevor sie für den Film entdeckt wurden.
Was aber "Die zwölf Geschworenen" so besonders interessant macht, ist die Tatsache, daß das Drehbuch von Reginald Rose viele überlieferte Grundsätze der Filmdramaturgie über den Haufen wirft.
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Überlieferte Grundsätze der Filmdramaturgie über den Haufen werfen
Wenn die Geschworenen sich zur Beratung zurückziehen, um über einen „erwiesenen" Vatermord möglichst schnell zu einem Urteil zu kommen; wenn dann einer von ihnen Bedenken hat und einen nach dem anderen der zunächst einstimmig zum Todesurteil entschlossenen Kollegen auf seine Seite bringt, und das eine oder andere Indiz als zweifelhaft erkannt wird, dann würde man auf der Bühne (und auch auf dem Fernsehschirm) sicher die aristotelische „Einheit der Zeit und des Ortes" wahren, also die Handlung in dem Beratungszimmer und in den anderthalb bis zwei Stunden abspielen lassen, die von den Geschworenen zur Urteilsfällung benötigt werden.
Aber im Film? Müßte sich da nicht der Regisseur fragen, wozu er eine Kamera hat, die er „auf Reisen" schicken kann? Er braucht doch nicht in dem langweiligen Zimmer zu bleiben. Er müßte vielleicht zum mindesten in die Gerichtsverhandlung „zurücksenden", um die vom Verteidiger im Kreuzverhör übersehenen Lücken des Indizienbeweises zu klären.
Er müßte natürlich auch an den Tatort zurückgehen und in das Schlafzimmer der immer unglaubwürdiger erscheinenden Kronzeugin, die angeblich vom Fenster aus den Mord beobachtet hat. Und er könnte sogar in die Zeit vor dem Mord zurückblenden, um das Milieu lebendig zu machen, in welchem der jugendliche Angeklagte aufwuchs.
Ein Film, der fast nur in einem Zimmer spielt
Der Drehbuchautor Reginald Rose tut nichts dergleichen. Er hält uns mit den Geschworenen in dem einen stickigen Zimmer zurück, und allenfalls gehen wir mit dem einen oder anderen in den benachbarten Waschraum, wo die unter der Hitze des New Yorker Hochsommers ächzenden Männer den Kopf in das Waschbecken tauchen.
Aber mit der Außenwelt sind wir nur durch die eine Tür verbunden, durch die hier und da der Gerichtsdiener ein verlangtes Indizienstück hereinreicht und wieder abholt.
So lernen wir die Männer kennen, die über Tod und Leben des abwesenden Jugendlichen zu entscheiden haben, dessen gräßliches Erlebnis uns erklärt und doch nie ganz geklärt wird.
bis auch der letzte Geschworene für „nicht schuldig" stimmt
Das ist ein sehr erregendes Schauspiel, bis auch der letzte Geschworene für „nicht schuldig" stimmt.
Und wenn wir endlich aus der Klausur befreit sind, die wir anderthalb Stunden lang mit den zwölf Männern in diesem stickigen Zimmer erlitten haben, dann geht ein Aufatmen durch den Zuschauerraum, wenn die Männer endlich die Stufen des Gerichtsgebäudes herunterkommen, in die frische Luft des schon dämmernden Abends.
Das Ende - die einzige Ferneinstellung des ganzen Films
Es ist die einzige Ferneinstellung des ganzen Films, die einzige Aufnahme außerhalb des Gerichtsgebäudes. Welch eine Wohltat für das Auge, den weiten, freien Platz zu umfassen, welch ein Labsal für die Lunge, die kühle Abendluft atmen zu dürfen.
So gehen die zwölf Männer auseinander, die der Zufall der Bürgerpflicht an diesem Ort zusammengeführt hat, eingespannt in die gleiche Aufgabe, über ein Menschenleben zu richten.
Ein merkwürdiges Happyend - sie werden sich kaum wieder begegnen
Sie wissen so gut wie nichts voneinander, und sie werden sich kaum je wieder begegnen, aber für uns sind sie in dieser Stunde alle lebendig geworden.
Wir kennen jetzt nicht nur die subtilsten Einzelheiten dieser scheinbar so einfachen und doch so unerklärlichen Mordsache, wir kennen auch die Menschen, die darüber zu richten hatten: den Luftikus, der möglichst schnell zu einer Sportveranstaltung kommen will; den Dummkopf, der den Argumenten nicht recht folgen kann und den korrekten Beamten, der sich jeder Beweisführung beugt; den auf die ihm zugefallene Bürgerpflicht seiner Wahlheimat so rührend stolzen Emigranten und den Choleriker, dessen fanatischer Widerspruch gegen einen Freispruch uns erst allmählich aus der Haßliebe erklärlich wird, die er für den eigenen Sohn empfindet; und vor allem den Geschworenen No. 7, der zunächst als einziger seine Zweifel über die scheinbar so klar erwiesene Schuldfrage hat, einen Menschen, von dem wir erst in der letzten Minute ganz beiläufig Namen und Beruf erfahren.
Henry Fonda spielt grandios den ernsten Menschen von großem Verantwortungsgefühl
Was an diesem Mann wesentlich ist, haben wir in der ersten Minute gespürt und in jeder dieser sechsundneunzig Film-Minuten immer klarer erfühlt; er ist ein ernster Mensch von großem Verantwortungsgefühl.
Die Rolle wird von Henry Fonda dargestellt, der übrigens nicht nur der „Star" dieses Films ist, sondern auch, gemeinsam mit dem Autor Reginald Rose, der Herstellungschef; und auch diese Tatsache ist recht bezeichnend für die neuere Entwicklung in der Struktur der Filmproduktion.
Viele Stars von Weltformat sind neuerdings ihre eigenen Unternehmer.
Wenn also etwa ein Star wie Marilyn Monroe sich entschließt, Terence Rattigans anspruchslos witziges und erfolgreiches Bühnenstück "Der Prinz und die Tänzerin" zu verfilmen, dann kann sie sich einen Laurence Olivier nicht einfach als Partner engagieren, sondern die beiden müssen sich zusammentun und den Film in eigener Regie herstellen.
Das gleiche gilt für Stars vom Range eines Burt Lancaster und einer Lollobrigida, wenn sie sich unter Carol Reeds Regie zu einem entsprechend „groß" angelegten Zirkusfilm wie "Trapez" zusammentun; oder für Kirk Douglas, wenn er das Leben des van Gogh und die düstere Persönlichkeit dieses von so hellen Farben besessenen Künstlers gestaltet: ein Film übrigens, der die fast makellose Technik moderner Farbphotographie erweist; sowie die (auch schon in John Hustons Toulouse-Lautrec-Film "Moulin Rouge" erwiesene) Tatsache, daß technische Vollendung schon so selbstverständlich erscheint, daß es uns kaum mehr bewußt wird, ob wir unsere Stars in Schwarz-Weiß oder in voller Farbenpracht zu Gesicht bekommen.
Damals zur Stummfilmzeit - der Beginn des Starsystems
Es ist zu Beginn der Stummfilm-Chronik vom Starsystem die Rede gewesen, auf dem die Filmindustrie basiert, seitdem schon im ersten Filmjahrzehnt die Entdeckung gemacht wurde, daß es ratsam sei, besonders beliebte Schauspielerinnen nicht mehr anonym spielen zu lassen.
Da das Publikum immer wieder nach ihnen fragte, fand man es nützlich, sie nicht nur beim Namen zu nennen, sondern auch viel Geld auszugeben, um solche Namen zu propagieren. Das war der Beginn des Starsystems.
Nicht alle waren davon begeistert
Es gibt scharfe Gegner, und in der östlichen Welt hat man dieses System von jeher abzulehnen oder doch zu ignorieren versucht, aber auch dort läßt sich ein natürlicher Massenbedarf an „Heldenverehrung" nicht verleugnen.
In der westlichen Welt, in der der Star vor einem halben Jahrhundert erschaffen wurde, ist er in den letzten Jahren mächtiger geworden als je. Und das nicht nur in seinen finanziellen Ansprüchen, sondern auch im Mitbestimmungsrecht für Stoffwahl und Besetzung.
Als man die Stars locken und ködern mußte
„Früher", so sagte mir einmal Daryl Zanuck mit grimmigem Lächeln, „früher war das Leben einfacher. Wenn ich da etwa den Peck oder die Hepburn für eine Starbesetzung brauchte, dann waren sie entweder ohnehin bei meinem Konzern unter Vertrag oder ich konnte sie mir bei der Konkurrenz ausleihen. Heute müßte ich geduldig warten, bis sie Zeit und Lust haben, für den einen Film meine Geschäftspartner zu werden."
Und dann war da noch Charles Chaplin
Für einen noch erheblicheren „Totalitätsanspruch" in der Gestaltung seiner Filme hatte es einen Weltstar schon immer gegeben: Charles Chaplin.
Der hat von jeher nicht nur die Hauptrollen seiner Filme gespielt, er hat sie auch selber geschrieben und inszeniert, er hat die Musik komponiert und seine künstlerische Unabhängigkeit auch dadurch gesichert, daß er die Finanzierung selbst übernahm und keinerlei Einrede zu dulden brauchte.
Sein begabter elfjähriger Sohn Michael Chaplin bekam eine Hauptrolle
Zu alledem hat er in seinem Film "Ein König in New York" noch ein übriges getan, indem er seinen begabten elfjährigen Sohn Michael Chaplin eine Hauptrolle spielen ließ: den zum Denunzianten gepreßten Sohn von Kommunisten, die sich geweigert hatten, ihre Parteigenossen dem „Komitee für unamerikanische Betätigung" zu verraten.
Die sozialkritische „Aussage" eines jeden Chaplinfilms
Ein „politisch Lied" muß nicht notwendigerweise ein „garstig Lied" sein, es kann den Kern eines Kunstwerks bieten. Von jeher war die „Aussage" eines jeden Chaplinfilms, seine Sympathie für den Unterdrückten, ein gewissermaßen politisches Faktum: sei es der kleine Stromer mit dem Watschelgang und den zerbeulten Hosen, sei es ein kleiner Junge aus einer amerikanischen Kommunistenfamilie, sei es Chaplins eigene Rolle eines entthronten Königs, der sich in New York als Propagandist von schlechtem Whisky und guter Zahnpasta redlich seine Brötchen verdient.
Eine Aussage für die Unterdrückten hat er fast in jedem seiner 85 Filme geleistet, auch als er noch vier oder fünf im Jahr machte, anstatt einen in vier oder fünf Jahren.
Aber damals war es eine stumme und durch ihre Pantomimik um so unmißverständlichere Aussage. Erst als er sie in Worte kleiden mußte, kam die Gefahr des Mißverständnisses und die Notwendigkeit, Dinge zu erläutern, die sich vorher von selbst verstanden.
„Mein Film" ist eine Satire
„Mein Film", sagt Chaplin vom "König in New York", „ist nicht politisch. Er ist eine Satire, wie ich sie zeitlebens gemacht habe.
Es kommt mir immer darauf an, die Leute zum Lachen zu bringen, und daß meine Clownerien nicht veralten, liegt wohl daran, daß sie realistisch sind. Wenn ich meine Hand in einen Fingernapf tauche und sie dann am langen Bart meines Tischnachbarn abtrockne, so tue ich das, als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, und eben das macht es komisch und bringt die Leute zum Lachen."
Der Weltruhm liegt in der Größe seiner Einfachheit
Hier irrt Chaplin. Denn seine „Ausstrahlung" ist nicht allein mit dem Allerweltsrezept für visuelle Komik zu erklären. Der Grund für den in Jahrzehnten ungeschmälerten Weltruhm von Charles Chaplin liegt in der Größe seiner Einfachheit, in der gekonnten Primitivität, die seine Allgemeinverständlichkeit sicherte.
Er ist immer noch der Bedeutendste im sehr kleinen Bezirk derjenigen, die begründeten Anspruch auf den Titel Weltstar haben.
Glorienschein und Star-Ruhm auch aus Deutschland
Daß der Aufstieg zu solchem Glorienschein aus dem zunächst nur auf einige europäische Länder begrenzten Star-Ruhm auch einigen Künstlern des deutschen Films beschieden schien, war schon zu ermessen, als kaum ein Jahrzehnt vergangen war, seit die deutsche Filmindustrie aus Schutt und Asche neu erstand.
Maria Schell wurde für eine der begehrtesten Rollen des Jahres 1957 erkoren, die Gruschenka im „Karamasoff", und auch Curd Jürgens und Marianne Koch wurden nach Hollywood geholt, obschon so sporadisch, wie das neuerdings üblich und unvermeidlich ist, wenn Stars sich nur von Film zu Film verpflichten und heute in Rom arbeiten, übermorgen in Hollywood und einige Wochen später in München.
Einmal Hollywood und wieder zurück
Auch Helmut Käutner - nachdem er mit "Zürcher Verlobung" einen heiteren und mit "Monpti" einen bitter-süßen Film gemacht, und damit drei so begabten jungen Künstlern wie "Liselotte Pulver" und "Romy Schneider" und "Horst Buchholz" einen Schritt weiter zum Star-Ruhm verholfen hatte - auch Käutner wurde für einige Filme nach Hollywood geholt; und da umgekehrt auch in Deutschland Regisseure arbeiteten, die, wie Robert Siodmak und Otto Preminger, in Hollywood und anderswo längst „arriviert" waren, so hätte man glauben können, der deutsche Film habe schon wieder den Anschluß an „die große Welt" gefunden.
Welterfolg muß auch organisiert werden
Das stimmte freilich nur in sehr begrenztem Maße, obschon es auch in Deutschland in den letzten Jahren einige hervorragende Filme gegeben hatte, die mehr internationale Anerkennung verdienten, als ihnen gezollt wurde.
Die Erklärung ist in der nüchternen Tatsache zu finden, daß der Welterfolg nicht nur verdient, sondern auch organisiert werden muß; es gehört dazu nicht nur die künstlerische Leistung, sondern auch eine Vertriebsorganisation, wie sie sich nur ein sehr großer Konzern leisten kann. Man mag das für unerfreulich halten, aber das liegt nun einmal in der internationalen Struktur der Filmindustrie.
"Aber" wir haben doch die UFA und die Bavaria
„Nun gut", mag der deutsche Filmfreund einwenden, „aber werden wir da nicht getrost mithalten können, da doch, um nur zwei Beispiele zu nennen, die UFA und die Bavaria deutlich zur Konzernbildung tendieren?"
Und wenn es ein zifferngläubiger Filmfreund ist, dann könnte er zur Wende des Jahres 1957 darauf pochen, daß es genau 40 Jahre her sei, seit die UFA gegründet wurde, 30 seit sie zu Hugenberg, 20 seit sie zu Goebbels kam; daß sie zehn Jahre völlig tot (oder doch scheintot) gewesen und dann gerade zu neuem Leben erwacht sei.
Die „Bavaria-Filmstadt" der größte Atelierkomplex Europas
Auch der Skeptiker muß zugeben, daß die UFA mit ihrem erheblichen Theaterbesitz und die Bavaria mit ihren bedeutenden Atelieranlagen wieder Großkonzerne werden könnten, von denen man einen gewichtigen Beitrag zu wachsender Weltgeltung des deutschen Films erwarten darf.
Immerhin ist die „Bavaria-Filmstadt" in Geiselgasteig mit ihren acht Aufnahmehallen, ihrem Freigelände von 370.000 qm, ihren Synchronisations- und Kopieranlagen der größte Atelierkomplex Europas (in 1957 !!).
Immerhin gibt es neben der UFA und Bavaria auch in der Gloria einen vertikal gegliederten Konzern mit wachsendem Theaterbestand und eigenen Atelieranlagen. Immerhin gibt es nicht nur in Berlin und München, sondern auch in Hamburg und Göttingen sehr leistungsfähige Atelieranlagen mit modernstem technischen Zubehör.
Voraussetzungen für die Zukunft
Moderne Anlagen sind ebenso wichtig, wie gute Technik und solide Finanzen, aber noch wichtiger sind die Menschen, die den Apparat bedienen und die Leistungen, die dabei herauskommen.
Daß Braun, Käutner und Staudte sich zusammengetan haben, um hie und da (und abseits der jeweiligen Brotaufträge) ein paar Filme von besonderem Anspruch zu wagen, das ist ein gutes Vorzeichen für die Entwicklung des deutschen Films im zweiten Jahrzehnt nach seiner Wiedergeburt.
Es ist zu hoffen, daß sich noch ein paar weitere berufene Künstler zusammenschließen, die den Mut haben, nicht „Geschäft" zu denken, wenn sie „Kunst" meinen, aber auch nicht von Kunst reden, wenn es sich, bestenfalls um Routine handelt.
Es ist auch zu hoffen, daß die großen Verleihkonzerne für künstlerische Bestrebungen Verständnis haben und sich daran erinnern, daß oft genug die als kassensicher empfohlene Routine enttäuscht hat; daß nicht immer die Nachläufer des Erfolges von gestern das Publikum anzogen, sondern manchmal auch die Vorläufer neuer Ideen; und daß bisweilen solcher schöpferische Wagemut belohnt wurde und dabei jene Werke entstanden, die in Jahren und Jahrzehnten lebendig blieben, eine immer neue Freude für die Jungen, eine beglückende Erinnerung für die Alten.
Sternstunden aus einem halben Jahrhundert Filmgeschichte
Die Feiertage freilich sind sehr viel seltener als der Alltag, und die Sternstunden schöpferischer Menschen wären entwertet, wenn wir sie zu häufig genießen dürften. Auch im Film gab es immer wieder solche Sternstunden, und zwar in allen Ländern, die, wie Deutschland, auf ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte zurückblicken können.
Bei solchem Rückblick daran zu denken, was bleiben wird und unsterblich ist, das war mir eine schöne Aufgabe; um so schöner, als die Auslese nicht gering war und manches enthielt, was den kühnen Anspruch auf Unsterblichkeit erheben durfte und somit den Titel dieser Chronik rechtfertigte.
Das Resume
Es war schön, an Vergangenes zu denken, das unvergänglich bleibt, aber fast noch schöner ist es, die Zukunft vor sich zu sehen: die vielen begabten Menschen, junge und nicht gar so junge, die berufen sind, das immer und immer wieder Neue zu schaffen, das die Menschen erschüttern oder erheitern oder doch bewegen kann.
Und obschon das vielleicht nicht immer gar so neu ist und manches davon schnell vergessen wird, ist es gut zu wissen, daß es immer etwas Bleibendes gibt, und sei es nur ein Quentchen: die unsterbliche Frucht des lebendigen Geistes und zugleich die Saat neuer Leistung.