Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil II - KAPITEL 01
"TURMBAU VON BABEL"
Vom begeisterten Publikum und von kummervollen Fachleuten / Von Leuten, die sich geirrt haben und von drei unbeirrbaren Erfindern / Von den Sorgen der Sprachverwirrung / Von technischen Kinderkrankheiten und von strapazierten Scheckbüchern / Von Hoffnungen und Behelfsmitteln / Vom historischen Kabel des Herrn Klitzsch / Von der Umwertung aller Werte / Von einem Grafen, der zwitschern konnte / Von Bernard Shaw und seinem Filmdebut / Von der Enttäuschung des Mr. Goldwyn und vom Glückstreffer eines ungarischen Emigranten
Wie war das damals . . . ?
Wie war das, als gegen Ende der zwanziger Jahre die ersten Tonfilme erschienen? Das Publikum war begeistert. Es war ebenso begeistert wie die ältere Generation, welche dreißig Jahre vorher zum erstenmal die Verwirklichung des Wunders erlebte, das die Menschheit seit Jahrhunderten oder gar seit Jahrtausenden erhoffte - das Wunder des „lebenden Bildes".
Als die stummen Schattenbilder zu sprechen anfingen
Nun hatten die stummen Schattenbilder an der Wand auch die Sprache gewonnen, und das war für alle ein erstaunliches und für viele ein beglückendes Erlebnis. Daß die Stimmen und Geräusche zunächst noch ebenso heiser krächzten wie auf uralten Grammophonplatten, störte den Genuß ebensowenig, wie man sich dreißig Jahre vorher durch die technische Unzulänglichkeit der ersten Stummfilme stören ließ; und genauso wie das Publikum um die Jahrhundertwende sich an möglichst vielen und hastigen Bewegungen erfreute, genauso konnte ihm dreißig Jahre später gar nicht genug gesprochen und gesungen, geflüstert und gebrüllt werden; und wenn außerdem noch möglichst viel gehämmert und gezischt, gepfiffen und gezwitschert wurde, dann war es um so schöner.
Nach wenigen Monaten war der Ton "auskuriert"
Übrigens ging die technische Verbesserung und Vollendung des Tonfilms noch erheblich schleuniger vorwärts als die auch schon erstaunlich schnelle Entwicklung von den „zappelnden" und „verregneten" Zweiminuten-Filmchen der Jahrhundertwende bis zu den ersten, nicht nur technisch, sondern auch künstlerisch gültigen Werken des Stummfilms.
Das hat immerhin fünfzehn bis zwanzig Jahre gedauert. Aber es dauerte kaum ebensoviele Monate, um den Tonfilm von seinen technischen Kinderkrankheiten zu kurieren und weit über seine Anfangsversuche fortzuentwickeln.
Und ganz schnell wurde der Tonfilm Realität - der Film
Kein Wunder, denn es war ja keine neue, sondern eine stetige Entwicklung: der Tonfilm war ein längst vorbereiteter Fortschritt. Als er endlich Wirklichkeit wurde, war es recht bezeichnend, daß man ziemlich bald aufhörte, vom „Tonfilm" oder „Sprechfilm" zu reden, sondern einfach wieder „Film" sagte.
Die Versuche, den Tonfilm, zu schaffen, gehen bis in die Vorgeschichte der Stummfilmzeit zurück. Schon Thomas A. Edison hatte mit dem Gedanken gespielt und William Friese-Greene ist in den neunziger Jahren nicht zum wenigsten daran gescheitert, daß er sich allzusehr in dem Bemühen zersplitterte, nicht nur den Tonfilm gleich mitzuerfinden, sondern auch den farbigen und den plastischen Film.
Noch zwei Jahrzehnte nach Edisons Versuchen
Es sollte aber noch über zwei Jahrzehnte dauern, bis die technischen Voraussetzungen dazu geschaffen waren. Als dann, bald nach dem Ersten Weltkrieg, der Physiker Dr. Josef Engl und seine Mitarbeiter Hans Vogt und Josef Masolle an die Arbeit gingen, waren sie schon auf dem richtigen Wege zum „Lichtton-Verfahren".
Die drei Männer, die ihr in harter und aufopfernder Arbeit entstehendes Gemeinschaftswerk "Triergon" nannten, erkannten frühzeitig die Unzulänglichkeit des „Nadelton-Verfahrens".
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Das „Lichtton-Verfahren" von "Triergon"
Anstatt also, wie andere Pioniere des Tonfilms den Ton separat auf Platten aufzunehmen, hatten die drei deutschen Erfinder die bahnbrechende Idee, den Ton auf den Rand des Filmstreifens zu „photographieren", und schon im Jahre 1923 (ganz genau war es der 17. September 1922) konnten sie in der Berliner „Alhambra" vor der Presse und vor geladenem Publikum recht erfolgreiche Experimente vorführen.
Eine junge Schauspielerin (in Großaufnahme) sagte Goethes „Heideröslein" auf, wir sahen und hörten bellende Hunde, knatternde Autos und rauschende Meereswogen, und die Tonwiedergabe war gar nicht viel primitiver als sechs Jahre später, als die allerersten „richtigen" Tonfilme das Publikum begeisterten.
Wir hielten das Ganze für eine Spielerei . . .
Auch in jener Alhambra-Vorführung waren wir begeistert, aber viele der anwesenden Filmleute wollten noch nicht recht an die Zukunft der Sache glauben. Wir hielten das Ganze für eine sehr interessante technische Spielerei, die im Lehrfilm und Kulturfilm eine nützliche Zukunft habe; aber daß so etwas jemals den schon zu so hoher künstlerischer Blüte gediehenen Stummfilm ablösen könnte - nein, nein und abermals nein!
Ein jeder blamiert sich so gut er kann, ich auch
Ein jeder blamiert sich so gut er kann, aber man soll dann wenigstens ehrlich genug sein, es auch nach etlichen Jahrzehnten zuzugeben. Ich selbst erinnere mich jedenfalls recht genau, damals geschrieben zu haben, daß man zwar eine baldige Überwindung der technischen Kinderkrankheiten voraussetzen dürfe, daß uns bestimmt früher oder später der farbige, plastische Tonfilm in höchster technischer Vollendung geboten werden würde; daß aber damit der schwarz-weiße Stummfilm nie überholt wäre; denn der beziehe seine Wirkung aus der Tatsache, daß er stumm und schwarz-weiß sei, also sowohl der akustischen wie auch der optischen Phantasie des Zuschauers etwas zu tun gäbe.
Man mag mir zugute halten, daß ich in einem tieferen Sinne nicht ganz unrecht hatte. Aber da ich es nicht nur im tieferen Sinne meinte, sondern auch im Sinne der Leute, die auf ihrer ersten Eisenbahnfahrt der Postkutsche nachtrauerten, so habe ich mich eben geirrt.
Ich war nicht der einzige, der sich geirrt hatte.
Freilich habe ich den Trost, daß ich nicht der einzige Besucher jener historischen Alhambra-Vorführung war, der sich geirrt hat.
Aber die Erfinder waren glücklicherweise genauso unbeirrbar, wie es sich für richtige Erfinder gehört, und sie litten auch unter der gleichen Geldnot, die für so viele Erfinder chronisch ist.
Alle drei - unbeirrbar und standfest
Die drei ließen jedoch nicht locker und brachten es schließlich fertig, die Ufa für das Triergon-Verfahren zu interessieren. Es war freilich ein etwas laues Interesse und beschränkte sich darauf, den drei Unermüdlichen im alten Weißenseer Atelier ein Eckchen einzuräumen, in dem sie ungestört mit bescheidenem Etat arbeiten durften.
Dann mußte die UFA sparen - der Hahn war zu
Aber auch das hielt sich nicht lange, denn im Jahre 1926 wurde in einem plötzlichen Anfall von Sparsamkeit den drei Erfindern die Bude zugemacht. Man glaubte eben nicht recht an die Sache. Daß es Sparsamkeit am falschen Platze war, ist heute jedenfalls leichter festzustellen als damals.
Für den Chronisten interessant bleibt die Frage, warum der so lange vorbereitete Fortschritt zum Tonfilm, als er endlich geschah, doch sehr überraschend und geradezu revolutionierend wirkte, und warum die Umstellung zunächst so vielen filmschaffenden Künstlern und fast allen Filmkaufleuten schwere Sorgen machte.
Der Reiz des Neuen war begeisterungsfähig
Daß der Fortschritt revolutionierend wirkte, lag an dem schnellen Tempo, in welchem die nun einmal begonnene Umstellung durchgeführt werden mußte, und daß sich das Publikum sofort dafür begeisterte, war zunächst durch den ungemeinen Reiz einer besonders interessanten Neuheit erklärlich.
Die Filmschaffenden und die Industrie wollten es nicht glauben
Daß für die Industrie und für die Filmschaffenden dieser seit so vielen Jahren zu erwartende Fortschritt trotzdem überraschend kam; lag daran, daß viele von ihnen nicht recht daran geglaubt hatten, - weil sie nicht daran glauben wollten.
Und daß gerade einigen der besten Regisseure und Drehbuchschreiber der Abschied vom Stummfilm sehr schwer fiel, ist um so begreiflicher, wenn man bedenkt, daß gerade in seinen letzten Jahren der Stummfilm als eine ureigene Kunstgattung sich zu seinen Gipfelleistungen entwickelt hatte.
Die begreiflichen Sorgen der Filmkaufleute
Die Filmkaufleute dagegen machten sich nicht minder begreifliche Sorgen. Sie hatten Geldsorgen, nicht nur wegen der unmittelbaren Kosten, die mit der Umstellung verbunden waren, sondern vor allem, weil es noch sehr unklar schien, ob und wie man die Internationalität des Filmhandels retten konnte.
Nicht weniger schien die Wegscheide zwischen Stummfilm und Tonfilm zu bedeuten als jenes peinliche biblische Symbol des Turmbaus von Babel, womit bekanntlich nicht nur die babylonische Sprachverwirrung begann, sondern auch die ganze Bescherung der nicht immer sehr erfreulichen weltgeschichtlichen Verwicklungen, die hinterher kamen: also gewissermaßen der zweite große Schlag, der die abenteuerlustige Menschheit traf, seit schon der Urvater durch die unzähmbare Neugierde seiner Gattin aus dem Paradies verbannt wurde.
Keinen Sinn für Scherze oder Gleichnisse - es ging ums Geld
Den Filmkaufleuten, die gegen Ende der zwanziger Jahre sorgenvoll zum Scheckbuch griffen, wird man es freilich kaum verargen können, daß ihnen nicht danach zumute war, der neuen Situation biblische Gleichnisse abzugewinnen.
Sie mußten für die Wegscheide, die von der Industrie zu überwinden war, sehr schnelle und sehr schwerwiegende Dispositionen treffen. Einige waren kurzfristig, einige etwas langfristiger, alle waren dringendst zu durchdenken, und die dringlichsten waren von dem erwähnten Scheckbuch abhängig.
Alle brauchten neue "Apparaturen", die Studios und die Kinos
Zunächst mußte die neue Apparatur beschafft werden, und das kostete nicht nur Geld, sondern auch sehr viele Sorgen, die mehr mit der Technik als mit der Finanzierung der Umwälzung zusammenhingen.
Es kostete Patent- und Prozeßgebühren sondergleichen, denn man war sich zunächst noch gar nicht recht klar darüber, welchem der rivalisierenden Tonfilmsysteme die Zukunft gehören würde, und bei welchem der großen Elektrokonzerne man am besten bedient wäre.
Aber alle diese finanziellen und technischen Probleme waren zu meistern, und sie wurden schneller überwunden, als man ursprünglich befürchtet hatte.
Einer der wirtschaftlichen Grundpfeiler der (Film-) Industrie war erschüttert
Viel schwieriger war das Problem, das der Internationalität des Filmhandels durch die sprachliche Begrenzung gestellt wurde. Hier war einer der wirtschaftlichen Grundpfeiler der Industrie erschüttert.
Hier lag das Dauerproblem, das uns die Umwälzung beschert hatte; hier handelte es sich nicht um einen einmaligen finanziellen Aderlaß, dessen Blutverlust zu stillen und zu ersetzen war; hier galt es eine organische Wandlung zu meistern, durch die nunmehr die Grundstruktur der Filmindustrie für alle Zeiten geändert schien.
Hier gab es nur Behelfslösungen, und die wenigen, die es gab, hat man schon damals sofort erkannt und praktisch erprobt.
Einen Film in 3 oder 4 Weltsprachen herstellen ?
Man könnte einen Film in drei oder gar vier Versionen der wesentlichen Weltsprachen drehen lassen, was immerhin den Vorteil hätte, daß der für die Weltverfilmungsrechte eines teuren Stoffs angelegte Preis mehreren Filmen zugute käme; und weitere Einsparungen würde man dadurch machen, daß man dialogfreie Massenszenen in allen Versionen benutzen könnte und die Dialogszenen der verschiedenen Sprachen in einer nur einmal zu bauenden Dekoration drehen könnte.
Heute nennt man das "Untertitel" - dennoch unbefriedigend
Was aber sollte man mit denjenigen Märkten machen, für deren kleines Sprachgebiet die Herstellung einer eigenen Version nicht lohnenswert wäre?
Nun, da müßte man eben den Film in der ursprünglichen Fassung zeigen und ihn dem sprachunkundigen Publikum dadurch verständlich machen, daß man den Kern der Dialoge im Telegrammstil und als überkopierte Titel an der jeweiligen Stelle des Handlungsablaufes erscheinen ließ.
Gewiß ein praktisches Verfahren, schnell und billig zu bewerkstelligen, aber doch nur eine recht kümmerliche Behelfslösung; denn der sprachkundige Zuschauer würde durch die laufend am Fußende des Bildes erscheinenden Titel gestört werden und weder die Bildwirkung noch den Dialog richtig genießen können.
Und dem sprachunkundigen Publikum würde durch ein paar abgehackte Wortfetzen gewiß nicht der Schmelz und der Fluß und die feineren Nuancen und Pointen eines guten Dialogs vermittelt werden können.
Den Film in 4 Sprachen synchronisieren
Nun gut, so sagte man sich, das war nicht zu ändern, und die kleineren Märkte würden sich mit dieser Behelfslösung begnügen müssen. Nur für die größeren und lohnenswerteren Märkte würde man sich der technischen Behelfsmittel bedienen können, die es möglich machten, einen Film gewissermaßen zu übersetzen.
Man würde für das fremde Sprachgebiet den Dialog so übersetzen lassen, daß er möglichst genau den Lippenbewegungen der Darsteller angepaßt war, und man würde diesen Dialog mit Sprechern „synchronisieren", die stimmlich dem Charakter der Rolle und ihrer ursprünglichen Verkörperung entsprachen.
Ein mehr oder minder kümmerliches Behelfsmittel würde es wohl trotzdem bleiben, denn ein fast Silbe für Silbe dem Lippenbild des ursprünglichen Dialogs angepaßter Text würde immer etwas verkrampft sein und nie ganz den Tonfall, den Charme und die feineren Nuancen des Originaldialogs treffen können.
Es ging nur um die seit Jahren in die Stars investierten Millionen
Man war damals, wenn von den Entwicklungsmöglichkeiten der Synchronisation die Rede war, noch sehr pessimistisch. Man ahnte noch nicht, daß diese Methode schon in wenigen Jahren sehr erheblich und fast bis zum Höchstgrad der technisch möglichen Vollkommenheit verbessert werden würde; aber man wußte sofort, daß man auf diese Methode allezeit und auf Gedeih und Verderb angewiesen war, um den Weltvertrieb eines Films zu ermöglichen und um die Internationalität der Filmindustrie zu retten.
Denn diese Methode - und das war ihr entscheidender Vorteil - bot die einzige Möglichkeit, den eigenen Stars und Spitzendarstellern den teuer erkauften Weltruhm wenigstens teilweise zu erhalten.
Die seit Jahren in die Weltpropaganda dieser Stars investierten Millionen brauchten nicht ganz abgeschrieben zu werden, denn durch die synchronisierten Fassungen würden ja auf den fremdsprachigen Märkten die Stars wenigstens mit eigenem Gesicht, wenn auch nicht mit eigener Stimme in Erscheinung treten.
Jedes Problem hat sein Für und Wider und auch Lichtblicke
Solche Gedanken, teils düster, teils durch die tröstliche Erwägung erhellt, daß jedes Problem sein Für und Wider hat und daß man mit einiger Mühe auch in der finstersten Prognose ein paar Lichtblicke finden kann - solche Gedanken gingen damals allen verantwortlichen Filmleuten durch den Kopf.
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Ein Fernschreiben von sozusagen filmgeschichtlicher Bedeutung
Gewiß waren sie auch in dem klugen Kopf des UFA-Generaldirektors Ludwig Klitzsch zu finden, als er auf einer amerikanischen Geschäftsreise sich zu dem Entschluß durchrang, ein Kabel von sozusagen filmgeschichtlicher Bedeutung nach Berlin zu schicken.
Es war, wie alle Anordnungen des neuen Ufa-Chefs, kurz und bestimmt formuliert: die lakonische Verfügung, daß die Aufnahmen des Film "Melodie des Herzens" sofort einzustellen seien.
In Babelsberg schlug dieses Kabel wie eine Bombe ein. Es war ja noch gar nicht so lange her, daß Hugenberg die Ufa mitsamt ihrem Millionendefizit übernommen und Ludwig Klitzsch als Spardiktator eingesetzt hatte.
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Wenn der UFA-Chef Ludwig Klitzsch einen Film stoppt . . .
Er galt in Babelsberg noch durchaus als der „neue Besen." Wenn also dieser sparsame Chef einen schon fast abgedrehten Film und noch dazu einen der teuersten der laufenden Produktion, urplötzlich abbrechen ließ, dann hatte das etwas zu bedeuten.
Dann war der Tonfilm also wirklich im Anmarsch, und dann wäre es natürlich unmöglich, noch mit einem stummen Operettenfilm herauszukommen. Dann hatte „König Ludwig" recht, den Film abbrechen zu lassen. Dann wußte er wohl, was er tat.
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Ludwig Klitzsch saß damals bei Warner an der Quelle
Er wußte es, denn er saß genau an der Quelle solchen Wissens. Er hatte soeben die ersten paar Muster eines noch in Arbeit befindlichen Tonfilms gesehen, und der Vorführungsraum, in welchem der Ufa-Chef jene lehrreiche Stunde verbracht hatte, gehörte den Gebrüdern Warner, deren Firma damals (mit diesem Eerfolg) dem nahen Bankrott entging.
Die Firma Warner hatte sich mit ihren äußersten, aber verhältnismäßig bescheidenen Mitteln an einigen wesentlichen Patenten engagiert und war damit der großen Konkurrenz um die entscheidende Nasenlänge voraus.
Die Gebrüder Warner hatten hochriskant "va banque" gespielt und alles auf die Tonfilmkarte gesetzt, und zum Lohn für soviel Mut und Weitsicht durften sie bald aus ihrer bescheidenen und prekären Hinterhof-Position in die Beletage der Großkonzerne aufrücken.
Juni 1927 - "The Jazz-Singer" und "The singing Fool"
Dem Film "The Jazz-Singer", dessen erste Musteraufnahmen der Ufa-Direktor gesehen hatte, folgte bald "The singing Fool" und schlug ebenfalls wenige Monate später sämtliche Kassenrekorde nicht nur in allen amerikanischen und englischen Großstädten, sondern auch in Paris und Rom, in Stockholm, Wien und Amsterdam.
In Berlin liefen gleich beide Filme über die nagelneue Tonfilmapparatur des „Gloria-Palastes", aber auch in Köln, München und Hamburg, nicht anders wie in Cincinnati, Manchester und Hüll pfiff, summte und sang bald jeder das Lied vom „Sonny Boy", das Al Jolson im zweiten Tonfilm sang. Er war vorher ein auch in Amerika nur mäßig bekannter Varietesänger gewesen, nun wurde er über Nacht zu einem Weltstar, der alle Sterne des Stummfilmhimmels in den Schatten stellte.
Der Beginn einer Revolution
Das war der Beginn einer Revolution, die in den wenigen Monaten jener Übergangszeit zu einer Umbewertung sehr vieler vormals in der Filmwelt gültiger Werte führte.
Für Bühnenschauspieler und Dramatiker, für Musiker und Komponisten begann eine große Zeit, aber die berühmtesten Stars, sofern sie nicht von der Bühne kamen, zitterten um ihre Verträge und nahmen schleunigst Sprechunterricht.
Ein „photogenes" Gesicht und eine gute Figur reichten nicht mehr
Es genügte jetzt nicht mehr, ein schönes und „photogenes" Gesicht und eine gute Figur zu haben und die Technik des Stummfilmdarstellers zu meistern, der mit Geste und Mimik jede Gemütsbewegung zum Ausdruck bringen konnte.
Mit der Stimme und der Sprache kam eben das dazu, was erst die ganze Persönlichkeit offenbarte.
Die „Ausstrahlung" der Person war nun das "A und O"
Man sprach jetzt nicht mehr vom „Filmgesicht", sondern von der „Ausstrahlung", und der eine hatte sie eben, der andere hatte sie nicht, selbst wenn es ihm gelang, die Sprechtechnik zu meistern.
Auch die Filmfirmen können sich mal vertun
Einer, dem das nicht gelang, war der berühmteste Star jener Zeit, John Gilbert, aber der brauchte sich deshalb wenigstens keine materiellen Sorgen zu machen, denn nach seinem Riesenerfolg als Partner der Garbo in "Anna Karenina" hatte MGM mit ihm einen damals in den Annalen von Hollywood unerhörten Vertrag gemacht: nicht den üblichen von Jahr zu Jahr zu verlängernden Optionsvertrag, sondern einen glatten Fünf Jahres Vertrag, der dem Künstler 10.000 Dollar pro Woche sicherte.
Die Firma war sehr zufrieden mit diesem Abschluß und glaubte, einen besonders großen Coup damit gelandet zu haben, sich den berühmten Gilbert so viele Jahre und ohne die Gefahr weiterer Gagenerhöhungen zu sichern.
Kurz darauf kam der Tonfilm - und sie hatten ein Problem
Und da Gilbert nie auf einer Bühne gestanden hatte, mußte er Sprechunterricht bekommen. Selbstverständlich engagierte MGM sofort die besten Sprechlehrer, und der kostspielige Schüler war auch sehr fleißig und willig bei der Sache. Aber das konnte leider nichts daran ändern, daß er eine piepsige Stimme hatte, die in einem grotesken Mißverhältnis zu seiner imposanten Erscheinung stand.
Man machte einen Tonfilm mit ihm, aber das war ein schlimmer Versager, und die Firma mußte froh sein, Gilbert seinen Vertrag für eine Abfindung von einer runden Dollarmillion abkaufen zu können; der Fall war hoffnungslos, weil auch die besten Tonmeister mit diesem Stimm-Material nichts anzufangen wußten.
Auf einmal brauchte man "Tonmeister"
Tonmeister - das war auch so ein neuer Beruf, der ebenso hoch im Kurse stand wie alle Techniker, die das neue System zu bedienen und zu verbessern wußten.
Hoch im Kurse stand damals alles, das irgendwie mit Musik oder auch nur mit jeglicher Art von reproduzierbaren Geräuschen zu tun hatte. Ich muß dabei an die seltsame Geschichte vom kurzen Glückstraum eines italienischen Grafen denken.
Das Beispiel von einem Grafen
Den Namen möchte ich nicht nennen, er tut auch nichts zur Sache, aber seine Geschichte ist ungemein typisch für Hollywood im allgemeinen und für jene verrückte Übergangszeit im besonderen.
Der Graf war ein renommierter Filmdramaturg und Regisseur und auch ein recht guter Schauspieler. Als er nach Hollywood ging, schien er allen Grund zu haben, eine große Karriere zu erhoffen, denn abgesehen von seinen mannigfachen beruflichen Eignungen, sah er auch sehr gut aus und war ein ungemein charmanter Gesellschafter.
Er hatte die besten Beziehungen, und er war in den Villen, Landhäusern und Jachten der Generaldirektoren ein gern gesehener Gast, denn er war auch ein vorzüglicher Bridgespieler. Man lud ihn immer wieder ein, nur den ersehnten Job gab ihm keiner seiner Gastgeber, weder als Regisseur noch als Drehbuchschreiber noch als Schauspieler.
Der Graf konnte Tierstimmen vorzüglich imitieren
Dann kam jene aufregende Übergangszeit der ersten Tonfilm-Monate und plötzlich erinnerte sich einer der Generaldirektoren, wie sehr sich an einem der letzten Abende seine Gäste über den Grafen amüsiert hatten, als er wieder einmal seine berühmte Imitation von Tierstimmen zum besten gab. Das hatte er wirklich großartig gemacht. Den Mann konnte man jetzt dringend brauchen.
Der Graf wurde sofort engagiert, freilich weder als Regisseur noch als Schriftsteller, noch als Schauspieler. Er mußte nur unentwegt wie ein Löwe brüllen, wie ein Pferd wiehern und wie eine Lerche zwitschern.
Er mußte auch das Gebell einer Hundemeute, den Gesang einer Nachtigall und den Morgengruß des Hahns nachmachen, sowie das Zischen einer Lokomotive und das anwachsende und dann wieder verebbende Motorengeräusch eines vorbeifliegenden Flugzeugs.
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Es dauerte aber nur ein paar Wochen
Ein paar Wochen oder vielleicht gar ein paar Monate lang verdiente der tüchtige Graf die seiner jetzt so nützlichen Kunstfertigkeit angemessene Stargage. Dann war es plötzlich aus.
Denn inzwischen hatte man in den Tonarchiven aller Ateliers jedes erdenkliche Geräusch in absoluter Naturtreue auf Platten aufgenommen. Man konnte jetzt zwitschern wie eine echte Lerche, und man hatte für jeden Lokomotiventyp das authentische Gezisch. Der Graf konnte wieder in der Versenkung verschwinden (es sei denn, daß er zum Bridge gebraucht wurde).
Die Zeit der "Schreiberlinge" kam
Eine große Zeit dagegen begann nicht nur für Bühnenschauspieler, sondern auch für Stückeschreiber und jeden, der schon einmal den Beweis erbracht hatte, daß er einen brauchbaren Dialog zu Papier bringen konnte.
Die Riesenpreise, die man vorher für die Verfilmungsrechte eines berühmten Romans gezahlt hatte, zahlte man jetzt lieber für ein Stück, das schon mehr als ein Jahr lang auf dem Broadway gespielt wurde.
Denn da hatte man ja den guten und teuren Dialog fix und fertig, und handelte es sich gar um einen Dramatiker von Weltruhm, dann war man bereit, so ziemlich jede Forderung zu erfüllen.
Und die Zeit des Bernard Shaw kam
Nur an einen traute man sich nicht heran, obgleich er der allerberühmteste zeitgenössische Dramatiker war. Denn Bernard Shaw hatte schon so oft erklärt, daß er um keinen Preis bereit sei, irgend eines seiner Werke verfilmen zu lassen - er hatte das so oft und so entschieden betont, daß ihn auch die hartnäckigsten Verhandler Hollywoods seufzend als einen hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatten.
In der Stummfilmzeit war das nicht ganz unbegreiflich bei einem Autor, der jede Zeile seines Dialogs sehr ernst nahm und dessen Eigenwilligkeit nicht minder berühmt war als die langen Vorworte, die er jedem seiner Stücke mitgab, um nur ja nicht fürchten zu müssen, daß ihr tieferer Sinn mißverstanden würde.
Nun aber konnte man ihn wirklich zu Wort kommen lassen, anstatt nur einen bildhaften Ausdruck der von ihm ersonnenen Fabeln zu geben. Sollte das nicht die Situation geändert haben?
Da ich mit der Erkenntnis dieser Änderung - wenn auch nur am Rande und in sehr bescheidenem Maße - einiges zu tun hatte; und da auch einer der allerersten deutschen Tonfilme, freilich nur indirekt, einiges damit zu tun hatte, so sei dieses immerhin „filmhistorische" Ereignis hier vermerkt.
In Vorbereitung einer Weltreise - Bernard Shaw filmen
Der Regisseur des deutschen Films war Walter Ruttmann, der die neue Tonfilmkamera dazu benutzen wollte, um einige wesentliche Zeitgenossen nicht nur bildhaft sondern auch stimmlich zu verewigen.
Er überredete also die neugegründete Ton- und Bild-Syndikat A.G. - bald besser unter dem Namen "Tobis" bekannt - ihn auf eine Weltreise zu schicken, um nicht nur Staatsoberhäupter aufzunehmen, sondern auch Wissenschaftler, Künstler und Dichter.
Für England stand natürlich Bernardl Shaw ganz oben auf der Liste der für einen Tobis-Film zu mobilisierenden Persönlichkeiten, und da Ruttmann viel von der Schrullenhaftigkeit des Dichters gehört hatte, machte er sich Sorgen darüber, ob man ihn zur Mitwirkung veranlassen könnte.
Diese Sorgen konnte ich zerstreuen, da es mit Hilfe unseres gemeinsamen Freundes Ivor Montagu gelang, von Bernard Shaw die Zusage zu erhalten, daß er nach Elstree kommen würde.
Shaw hatte sich für diesen Dreh sogar einen Tag reserviert
Auf der Fahrt ins Atelier sagte ich ihm einiges über Walter Ruttmann, der uns dort erwartete; und ich machte dann dem Dichter die tröstliche Mitteilung, daß die ganze Sache wohl in einer Stunde zu erledigen wäre.
Denn ich wußte ja, daß Ruttmann nicht mehr erwartete als ein paar freundliche Worte, in denen auf die völkerverbindende Bedeutung des Tonfilms hingewiesen wurde.
Shaw blickte von den Notizen auf, die er, bequem in den Rücksitz des Wagens zurückgelehnt, gemacht hatte, und sah mich ernsthaft an. Eine Stunde würde wohl kaum ausreichen. Er habe sich für den ganzen Tag freigemacht. Dann wandte er sich wieder seinen Notizen zu und kritzelte in seiner sauberen, steilen Handschrift eifrig weiter.
Wenn er sich schon "tonfilmen" ließ . . .
Gleich nach unserer Ankunft stellte es sich heraus, daß der Dichter keineswegs gesonnen war, sich mit ein paar konventionellen Phrasen zu begnügen. Wenn er sich schon tonfilmen ließ, dann sollte es eine richtige Filmszene sein; dann würde er die Hauptrolle spielen, natürlich nach eigenem Manuskript und eigener Regie.
Er benutzte sofort die von ihm verlangte Atelierführung, um den szenischen Hintergrund auszusuchen, den er für sein eigenhändig geschriebenes Manuskript brauchte.
Und keiner durfte in sein Manuskript sehen
Was da eigentlich drin stand, wollte er uns freilich noch immer nicht verraten; er bemerkte nur beiläufig, daß er den Dialog mit seinem Partner gleich nach der Mittagspause proben würde. Inzwischen betrachtete er mißbilligend verschiedene Dekorationen.
Es seien in Halle II noch ein paar andere Salon- und Wohnzimmerdekorationen, erklärte der Atelierchef, und in Halle III sogar ein großer Ballsaal und der Wintergarten eines Landhauses. Außerdem sei auch ein sehr luxuriöses Badezimmer verfügbar, sowie einige Schlafzimmer, eine Gesindestube und zwei Ecken einer Schloßküche.
Aber das alles, so schloß der Atelierchef, käme ja wohl kaum in Frage? (Er hätte gar zu gern das Manuskript gesehen.)
Bernard Shaw brauche eine Außenaufnahme
Bernard Shaw schüttelte ernsthaft den Kopf. Nein, das käme in der Tat nicht in Frage. Er brauche eine Außenaufnahme, und zwar eine Art Parkweg.
Prompt setzte sich unsere ganze Kavalkade wieder in Bewegung, um das „Gelände" zu besichtigen, und sehr bald fand der Dichter, was er suchte. Diese Stelle, so meinte er, würde genügen.
Sie sähe freilich ein wenig kahl aus, und vielleicht könne man noch ein paar Bäume hinstellen. An Requisiten brauche er sonst nur noch eine Parkbank und irgendein Buch; eine Zeitung würde es auch tun.
Ein Zwischenspiel mit einer sehr berühmten deutschen Filmdiva
Während die gewünschten Requisiten beschafft wurden, ergab sich die Gelegenheit, den Wunsch einer damals sehr berühmten deutschen Filmdiva zu erfüllen, die gerade im Atelier (als Star einer deutschen Version) beschäftigt war. Sie hatte mir gesagt, es sei ihr sehnlichster Wunsch, Bernard Shaw kennenzulernen.
Ich stellte sie also vor, und obgleich der Dichter ein wenig pikiert schien, daß sie eine Art Hofknicks vor ihm machte, unterhielt er sich doch ein paar Minuten lang sehr freundlich mit ihr und nahm gelassen zur Kenntnis, daß sie seine „Johanna" auf deutschen Bühnen gespielt habe. Als sie jedoch zum Abschied mit großem Augenaufschlag bemerkte: „Mr. Shaw, diese Begegnung war der glücklichste Moment meines Lebens", runzelte der Dichter streng die Stirn. „I hope, not", brummte er, drehte sich um und stelzte davon, die Errötende stehen lassend.
Shaw setze seinen Kopf durch
Inzwischen waren die gewünschten Requisiten besorgt worden und Walter Ruttmann baute seine Tonfilmkamera vor dem als Hintergrund gewählten Parkweg auf. Er wußte freilich noch immer nicht, was da nun eigentlich gespielt werden sollte.
Aber jetzt holte der Dichter endlich sein Manuskript aus der Tasche und verriet uns, wen er als Partner ausersehen hatte; es war der Schriftsteller Ivor Montagu, den diese Ehre nicht minder überraschte (und erschreckte) als alle anderen; denn er sah nicht nur keineswegs aus wie ein Schauspieler, sondern hatte auch weder das leiseste Talent noch die geringste Neigung, sich in einer so ungewohnten Rolle zu versuchen.
Das half ihm aber alles nichts. Bernard Shaw hatte die Regie übernommen, und der Regisseur Ruttmann durfte auch nur schweigend zuschauen, während der Dichter und Hauptdarsteller mit großer Geduld seinem unwilligen Partner die „Rolle" einstudierte und dann den Dialog mit ihm probte.
Eine "kurze" Szene mit George Bernard Shaw dauerte Stunden
Folgendermaßen hatte Shaw die Szene geschrieben, und genauso wurde sie gedreht:
Montagu sitzt, in eine Zeitung vertieft, auf der Parkbank, während Shaw langsam und in Gedanken versunken des Weges kommt. An der Bank bleibt er stehen und wendet sich an den Zeitungsleser.
Shaw: Entschuldigen Sie die Störung, mein Herr, aber könnten Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?
Montagu, ohne von der Zeitung aufzublicken und mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr:
Halb drei. Shaw: Ich danke verbindlichst.
Er schickt sich an weiterzugehen, bleibt dann aber plötzlich stehen und wendet sich wieder an den Zeitungsleser:
Sagen Sie bitte, sind Sie nicht Mr. Ivor Montagu?
Montagu: Jawohl, der bin ich. Erkennt den Gesprächspartner und steht auf:
Und sind Sie nicht Mr. George Bernard Shaw?
Shaw: Jawohl, der bin ich. Welch ein seltsamer Zufall, Ihnen hier zu begegnen.
Montagu: Sehr seltsam. Shaw: Haben wir uns nicht vorige Woche im Hause Ihrer Frau Mutter getroffen?
Montagu: Sehr richtig. Shaw wendet prüfend den Blick zum Himmel:
Die Wolke gefällt mir nicht. Glauben Sie, daß es bald regnen wird?
Montagu: Das scheint mir nicht unwahrscheinlich.
Shaw: Dann muß ich mich beeilen. Auf Wiedersehen, Mr. Montagu.
Montagu: Auf Wiedersehen, Mr. Shaw.
Er setzt sich wieder hin und liest weiter, während Shaw (in Rückenaufnahme) langsam aus dem Bild schreitet.
Der Drehbuchautor Bernard Shaw war ja auch (sein) Regisseur
Schon die Proben dieser kleinen Szene dauerten über eine Stunde, denn der Regisseur Bernard Shaw nahm die Anweisungen des Drehbuchautors Bernard Shaw offenbar sehr ernst (oder gab sich wenigstens den Anschein), und auch der Schauspieler Bernard Shaw mußte sich erst in seine Rolle hineinspielen, überdies hatte er in Montagu einen nicht gerade routinierten Partner.
Auf die Frage, wie spät es sei, kam der gute Ivor immer viel zu schnell mit der Antwort heraus und manchmal vergaß er sogar völlig, erst auf die Uhr zu blicken. Diese Stelle mußte besonders oft geprobt werden, und auch mit der vertieften Zeitungslektüre und der Überraschung beim plötzlichen Erkennen seines Gesprächspartners konnte es der Schauspieler seinem gestrengen Regisseur gar nicht recht machen.
Teure Stunden, mit denen Ruttman nichts anfangen konnte
Auch als es dann zur Aufnahme kam, bestand der Dichter auf zwei Wiederholungen bis er endlich zufrieden war. Insgesamt dauerte die Aufnahme der kleinen Szene viele teure Stunden bis zum späten Nachmittag.
Walter Ruttmann aber war sehr bekümmert, als er mich fragte, ob man denn gar nichts machen könnte, um den Dichter zu bewegen, vielleicht doch noch etwas Wesentliches zu sagen: „Irgend etwas Weltanschauliches", schloß er. „Sie wissen schon, was ich meine."
Ich wußte, was er meinte, aber ich erklärte ihm, daß eine solche Zumutung Shaw sofort aus dem Atelier verscheuchen würde. Ruttmann sah das ein. Er wußte genau, daß Shaw, jeder Prätention abhold, nichts anderes wollte, als der ihm zu Ehren versammelten Generaldirektion ein Schnippchen zu schlagen.
Meine "Gretchenfrage" kam auf der Rückfahrt
Auf der Rückfahrt in die Stadt fragte ich Shaw, warum er sich eigentlich seit Jahrzehnten grundsätzlich geweigert habe, seine Stücke verfilmen zu lassen, und ob etwa die durch den Tonfilm geschaffene neue Situation an diesem seinen Grundsatz etwas ändern würde.
Es schien eine naive Frage, denn ich wußte ganz genau, warum er bisher jedes Filmangebot ausgeschlagen hatte: weil es ihm dann nicht mehr möglich gewesen wäre, bei jedem I-Tüpfelchen des Drehbuchs seinen eigenen Willen durchzusetzen.
Ich mußte also annehmen, daß die überraschende Antwort, die er mir auf meine Frage gab, nicht ernst zu nehmen war. Immerhin war es eine für mich als Journalisten sensationelle Gegenfrage.
Alle hatten lange Zeit "einen Bären aufgebunden" bekommen
„Wer hat Ihnen denn diesen Bären aufgebunden?" fragte Shaw schmunzelnd. „Wer hat Ihnen denn erzählt, daß ich grundsätzlich abgeneigt bin, meine Stücke verfilmen zu lassen?"
Ich erwiderte, das sei doch seit mindestens zwanzig Jahren weltbekannt, er habe sich ja selber oft genug in diesem Sinne geäußert, und habe doch wohl im Laufe der Jahre verlockendste Angebote für „Pygmalion" und andere filmgeeignete Werke abgelehnt.
Das mag richtig sein, bestätigte der Dichter, aber dann habe es gewiß immer nur daran gelegen, daß ihm die Bedingungen nicht paßten oder daß man ihm nicht genug geboten habe.
Ich fragte, ob das sein Ernst sei und ob ich diese erstaunliche Erklärung veröffentlichen dürfe.
„Natürlich dürfen Sie", sagte er lächelnd. „Und Sie können getrost hinzufügen, daß ich keineswegs gewillt bin, den Verkauf meiner Verfilmungsrechte so lange zu verzögern, bis meine Nachlaßverwalter den ganzen Kram für ein Butterbrot verscherbeln."
Endlich hatte ich mal eine richtigen "Knüller"
Ich bedankte mich für die so ungemein interessante Auskunft und konnte es jetzt kaum mehr erwarten, aus dem sehr gemächlich fahrenden und etwas altmodischen Daimler des Dichters heraus und an mein Telephon zu kommen, um eine dringende Verbindung zum Ullstein-Haus in Berlin anzumelden.
Für einen jungen Journalisten wie mich war das immerhin ein „Knüller", und die Nachricht erschien schon am nächsten Morgen in großer Aufmachung in der „B.Z.".
Begreiflicherweise ging die sensationelle Nachricht innerhalb von vierundzwanzig Stunden durch die ganze Weltpresse; und nicht minder begreiflich war es, daß schon in den nächsten Tagen Sam Goldwyn auf dem schnellsten Schiff in Richtung London den Atlantik überquerte. Er hatte es sehr eilig, George Bernard Shaw zu sprechen.
Sam Goldwyn hatte in Hollywood einen Namen
Goldwyn galt seit Jahrzehnten nicht nur als einer der erfolgreichsten Magnaten von Hollywood, sondern auch als einer der intelligentesten und witzigsten.
Von den zahlreichen (und nicht immer schmeichelhaften) Anekdoten, die über ihn kursieren, hat er sicher einige selbst in Umlauf setzen lassen. Aber seine Verhandlung mit Shaw, die ich indirekt verschuldet hatte, ist authentisch.
Goldwyn sagte sich, daß man einem Mann wie Bernard Shaw nicht gleich das Scheckbuch unter die Nase halten könnte. Er erzählte also, als er vom Dichter empfangen wurde, eine Menge gutdurchdachter und wohlvorbereiteter Dinge über die künstlerischen Intentionen seines Konzerns im allgemeinen und über die besonderen Ideen, die für eine tonfilmische Gestaltung von „Pygmalion", „Der Arzt am Scheidewege" und einigen anderen Werken des Dichters maßgebend sein sollten. Es waren kluge Gedanken, und das Scheckbuch ruhte griffbereit in der Brusttasche des Magnaten.
Der kluge Goldwyn und der kluge Shaw im Gespräch
Aber Shaw ließ es garnicht dazu kommen. Er stand schon nach wenigen Minuten auf und unterbrach seinen Besucher.
„Diese Verhandlung ist zwecklos", sagte er. „Ich sehe schon aus Ihren bisherigen Bemerkungen, Mr. Goldwyn, daß Sie offenbar ein hochintellektueller Künstler sind. Ich aber bin Kaufmann."
Shaw wußte sehr genau was er tat, als er den Amerikaner wieder abfahren ließ.
Gabriel Pascal kam ins Gespräch
Er wußte es nicht minder genau, als er einige Jahre später doch endlich den Bann brach und als erstes seiner kostbaren Verfilmungsrechte „Pygmalion" wirklich verkaufte und zwar an den damals noch bettelarmen ungarischen Emigranten Gabriel Pascal.
Der war klug genug; die Verhandlung mit der Erklärung zu beginnen, er habe sich die zehn Schilling Fahrgeld pumpen müssen, um zu Shaws Landhaus nach Hertfordshire herauszufahren. Er sei gekommen, um „Pygmalion" zu kaufen; auch für die anderen Verfilmungsrechte sei er ein durchaus seriöser Reflektant. Aber das sei nicht so eilig, darüber könne man sich später einigen.
Und Shaw unterschrieb den Vertrag
„Sie sind mein Mann", sagte der Dichter und gab ihm sofort seine Unterschrift für den „Pygmalione-Vertrag, den Pascal gleich mitgebracht hatte.
Shaw wußte natürlich ganz genau, daß damit die Finanzierung des Films gesichert war. Wichtiger als das Geld aber war ihm die vertraglich gesicherte Gewißheit, daß er selber bei der Gestaltung des Drehbuchs entscheidend mitreden konnte.
Gabriel Pascal wurde ein efolgreicher "Schlingel"
Der Film wurde ein Riesenerfolg, und Pascal brauchte sich jetzt nicht mehr sein Fahrgeld zu pumpen, er konnte die dicksten Zigarren rauchen, wenn er in eigener Limousine auf das Rittergut fuhr, das er sich, nahe dem Landhaus „seines" Dichters gekauft hatte.
Er konnte sogar, ohne die Worte zu zählen, ein dringendes Kabel folgenden Wortlauts an einen seiner Geschäftsfreunde in Hollywood schicken:
"In meiner doppelten Eigenschaft als ein Englischer Rittergutsbesitzer und ein ehemaliger Ungarischer Kavallerieoffizier gebe ich dir mein heiliges Ehrenwort, daß du der größte Lump bist, der ungehängt herumläuft. Gabriel Pascal."
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Im nächsten Kapitel geht es weiter
Aber wir dürfen den Ereignissen nicht vorauslaufen und müssen jetzt erst einmal sehen, wie der Tonfilm sich in Deutschland und in aller Welt durchsetzte.