Filmgeschichte(n) und Filmchronik(en) - Von 0 bis 1957
überarbeitet, korrigiert und kommentiert von Gert Redlich im Juli 2016 - Hier findenSie die bislang umfangreichste und detailierteste Historie der weltweiten Entwicklung des Films, der Filmwirtschaft (und des Kinos). Der Deutsch-Engländer Heinrich Fraenkel (geb. 1897) war hautnah dabei gewesen und beschreibt 1956/57 zwei weltweite Epochen des Films : Es beginnt mit -- Teil I -- "Von der Laterna Magica bis zum Tonfilm" und geht weiter mit -- Teil II -- "Vom Tonfilm bis zum Farbfilm"
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Teil II - KAPITEL 06
"ZWISCHENBILANZ"
Von einer noch unbeantworteten Frage / Vom dramaturgischen Grenzland zwischen Stummfilm und Tonfilm / Von den Sorgen und Gedanken eines großen Regisseurs / Von einem russischen Stummfilm im fünften Tonfilm Jahr / Von Rene Clair und seinem Ringen um den Tonfilm / Von kostspieligen Glashäusern und den Steinen des Anstoßes / Von Schablonen und schöpferischen Gedanken / Von Alexander Korda und seinem Durchbruch zum Weltruhm / Von Jean Vigo und seinem frühen Tod
Das ereignisreiche Jahr 1933
Das Jahr 1933 bietet einen geeigneten Zeitpunkt, einen passend gelegenen Standort für Rückblick und Vorschau, nicht etwa (oder doch nicht nur), weil jenes Jahr in Deutschland einen scharfen und folgenschweren politischen Umbruch einleitete, sondern weil es schon das vierte oder fünfte Tonfilmjahr war.
Es scheint also geboten, zu diesem Zeitpunkt die Antwort auf eine wichtige Frage zu suchen, die in meiner Chronik des Stummfilms gestellt wurde. „Mag auch die Stummfilm-Epoche als ein abgeschlossenes Kapitel gelten", so hieß es da zum Abschluß des Bilderteils, „geblieben ist der künstlerische Impuls. Sofern wir uns seiner zu bedienen wissen, wird er weiterleben."
Sich dieser künstlerischen Impulse bedienen
Ob nun in jenem Wörtchen „sofern" ein Vorwurf gegen die Filmschaffenden versteckt ist, ob und in welchem Maße wir uns in den ersten drei Jahrzehnten der Tonfilmzeit der künstlerischen Anregungen bedient haben, die uns in den wenigen Blütejahren der Stummfilm-Epoche hinterlassen wurden, das ist eine Frage, die nicht mit Einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten ist.
Allenfalls läßt sich sagen, daß wir uns dieser künstlerischen Impulse hier und da und von Zeit zu Zeit bedient haben.
Von jetzt an Filme, in welchen möglichst viel geredet wurde
Aber wie war das in den ersten Jahren, als man der Blütezeit des Stummfilms noch so nahe war, daß mancher dieser Filme noch zum normalen Programm der kleineren Kinotheater gehörte ?
Hat man sich da des künstlerischen Erbes der Stummfilmdramaturgie besonders fleißig bedient ? Man tat es nicht, im Gegenteil, man fand besonderen Gefallen an Filmen, in welchen möglichst viel geredet wurde, und man erwartete von den Regisseuren, daß sie sich mit den Dialogen der für den Tonfilm schleunigst erworbenen Bühnenerfolge irgendwie zurecht fanden.
Dramaturgische Sorgen von King Vidor
Kein Wunder, daß King Vidor dramaturgische Sorgen hatte, wenn er einen Bühnenschlager wie Eimer Rices „Street scene" zur Verfilmung bekam. Der Bühnenerfolg des Stückes beruhte darauf, daß die Aristotelische „Einheit der Zeit und des Ortes" meisterhaft benutzt war; denn die Handlung spielte in einer New Yorker Mietskaserne, deren Straßenfront dauernd auf der Bühne zu sehen war.
Eben weil an diesem Bühnenbild Millionen von Theaterbesuchern sich jahrelang erfreut hatten und weil man den guten Dialog eines hervorragenden Stückeschreibers mit dazu bekam, erwartete man vom Filmregisseur eine wirkliche „sprechend ähnliche" Fotokopie.
Damals eine eigene Kunstform des Stummfilms geschaffen
Aber Vidor war einer von denen, die dem Stummfilm eine eigene Kunstform geschaffen hatten, und er suchte auch die neue Aufgabe mit den ihm so wohl vertrauten Mitteln visueller Gestaltung zu lösen.
Er nahm zwar vom Dialog soviel er eben brauchen konnte, aber er vergaß darüber nicht seine Kamera in die vielen Ecken und Winkeln zu schicken, die eben nur mit filmischen Mitteln sichtbar und lebendig gemacht werden konnten.
Anfänglich nannte man es „Sprechfilm"
Das war übrigens Vidors zweiter „Sprechfilm". Sein erster war "Halleluja", ein im Negermilieu der Südstaaten spielender und fast ausschließlich mit Negern besetzter Film; ein Werk, mit dem dieser große Meister des Stummfilms seiner schnell gewonnenen Überzeugung Ausdruck gab, daß es im Tonfilm mehr noch als im Stummfilm darauf ankam, Hintergrund, Milieu und Atmosphäre lebendig zu machen.
Die Leidenschaft auch zu tänzerischem und musikalischem Ausdruck darstellen
Es war ein herrlicher Film, der das rhythmische Genie des Negervolkes und seine hemmungslose Leidenschaft auch zu tänzerischem und musikalischem Ausdruck brachte. Es war ein Welterfolg.
Sich im Tonfilm der künstlerischen Impulse der Stummfilmzeit bedienen
Aber der Regisseur King Vidor machte sich immer noch Sorgen um den Tonfilm, und wenn ich gegen Ende des dritten Tonfilm-Jahrzehntes mich zu erinnern suche, wie in jenen ersten Jahren die großen Regisseure des Stummfilms den Übergang meisterten, dann scheint mir ein anderer Gedanke King Vidors bemerkenswert; um so mehr, als er eine Teilantwort auf unsere Frage gibt, ob man sich im Tonfilm der künstlerischen Impulse der Stummfilmzeit bedienen konnte.
John Gilbert hatte nämlich ein Tonfilm-Problem
Eines unserer Gespräche galt einem damals in Hollywood brennend aktuellen Thema, nämlich dem sich für den Tonfilm als unmöglich erweisenden John Gilbert.
Selbst wenn es den Kehlkopfspezialisten, Sprachlehrern und Tonmeistern gelänge, die Stimme zu kurieren, so meinte Vidor, das Phänomen des Liebhabers John Gilbert sei trotzdem nicht zu retten.
Gilberts Liebesszenen im Stummfilm waren im Sprechfilm unmöglich
„Warum denn?" ertönte es in der für dieses Thema sehr erregten Tischgesellschaft; Gilbert sei doch jung genug, um mindestens noch fünf bis zehn Jahre seine berühmten Liebhaberrollen zu spielen.
„Nicht im Tonfilm" erklärte Vidor, denn gerade das, was Gilberts Liebesszenen im Stummfilm so überzeugend und wirkungsvoll machte, gerade jene hinreißende und hemmungslose Leidenschaftlichkeit wäre im Sprechfilm unmöglich.
Jeder Ton, sei es ein Naturlaut oder gar eine Dialogzeile, und wäre sie dreist von einem großen Dichter geschrieben, würde unfehlbar den sprichwörtlich kleinen Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen verursachen.
Es sei eben einfach unmöglich, für die so starke und krasse Eindringlichkeit einer Stummfilmszene die passenden Dialogsätze zu finden.
Liebesschwüre von solcher Leidenschaftlichkeit könne man zwar stumm der Phantasie des Publikums zumuten, aber nicht die dazugehörigen Worte, ohne sich lächerlich zu machen.
Der Stummfilm und seine "Stummheit"
Festzuhalten bleibt also, daß der Stummfilm einen Teil seiner Wirksamkeit eben seiner Stummheit verdankte. Er wirkte nicht obschon, sondern weil er der Sprache ermangelte und es sich eben deshalb leisten konnte, eine Gefühlsskala zum Ausdruck zu bringen, die mit Worten kaum erfaßbar war.
Und das galt natürlich nicht nur für die Gestaltung einer, sei es in der Tragik oder sei es in der Komik, besonders drastisch betonten Szene; das galt auch für den „atmosphärischen" Hintergrund und für die Milieuschilderung.
Ein Stummfilm noch in 1934
Es ist also recht bezeichnend und für die Frage, die wir zu beantworten suchen, sehr lehrreich und wiederum eine Teilantwort, daß Mikhail Romm noch im Jahre 1934 "Boule de suif" als Stummfilm drehte.
Daß er sich dazu entschloß, als auch in Rußland der Tonfilm schon seit Jahren als selbstverständlich galt, spricht dafür, daß dieser große Filmregisseur sehr klar erkannte, was bei diesem Stoff nur im Stummfilm zum Ausdruck gebracht werden konnte.
Er hatte zwar in Galina Sergejewa eine Schauspielerin, die Maupassants schon als Typ meisterhaft gezeichnete Kleinstadthure im 1870er Krieg vollkommen verkörperte; und er hatte auch für die französischen Kleinbürgertypen sowohl wie für den durchaus nicht unsympathischen preußischen Offizier geradezu musterhaft geeignete Schauspieler gefunden.
Maupassant-Dialoge auf russisch sprechen
Aber Romm sagte sich, wenn er dieses vom Typ her so sorgfältig gewählte Ensemble dann Maupassant-Dialoge auf russisch sprechen ließe, ginge die gerade für diesen Stoff so wichtige Atmosphäre verloren.
Nur im Stummfilm und in einer langen Serie von eindringlichen Großaufnahmen glaubte der Regisseur die französische Kleinstadt-Atmosphäre einfangen und die Panik-Flucht der um ihre Ersparnisse besorgten Honoratioren vor den heranrückenden Preußen lebendig machen zu können.
Auch den Abscheu sowie den erotisch betonten Nervenkitzel, das enge Fuhrwerk mit der „Dame" teilen zu müssen, so wie auch den Hunger und die wachsende Gier, als sich herausstellte, daß allein die Hure daran gedacht hatte, sich reichlich mit Proviant zu versorgen, und daß sie gutmütig bereit war, ihren Überfluß mit den hungernden Fahrtgenossen zu teilen.
Oder man denke an eine spätere Szene, als der preußische Offizier die Weiterfahrt nur gestatten will, wenn sie ein Schäferstündchen mit ihm verbringt.
Sie ist jedoch eine glühende Patriotin, und nun wird ihr von den Fahrtgenossen zugesetzt, der gemeinsamen guten Sache das Opfer zu bringen.
Auch die beiden Nonnen, - eine dicke Alte und eine dürre Junge - lassen es an Überredungskunst nicht fehlen, und die Alte gibt eine lange Aufzählung der von der Kirche kanonisierten Heiligen, die ihre Tugend dem Wohle der Mitmenschen opferten.
Die Athmosphäre im Tonfilmisch nicht machbar
Im Tonfilmisch, mit einer Aufzählung in vielen Dialogsätzen, wäre das langweilig und geschmacklos.
Stummfilmisch hat es Mikhail Romm so gelöst, daß nur die ersten beiden Heiligen von der alten dicken Nonne genannt werden, wobei die junge dürre Nonne jedesmal ein Kreuz schlägt.
Für den Rest der langen Aufzählung bleiben uns in einer auch titeliosen Szene die Namen erspart, aber wir können sie gewissermaßen abzählen, da die junge Dürre immer schneller ihre Kreuze schlägt, während die dicke Alte immer intensiver auf die immer mehr von ihrer peinlichen Pflicht überzeugte „Dame" einredet.
Daß zum guten Ende (und dank der Opfertat) die Spießbürger nebst Frauen, Töchtern, Brüdern und den beiden Nonnen unangefochten weiterfahren dürfen, das steht auch bei Maupassant; ebenso wie die treffende Schlußpointe, daß jetzt zwar die Honoratioren sich reichlich mit Proviant versorgt haben, das Hürlein aber in der Eile des Aufbruchs keine Zeit mehr dazu hatte; und daß die feinen Herrschaften nunmehr nur degoutiert von ihr abrücken und nicht daran denken, der hungernden Fahrtgenossin, der sie ihre Freiheit verdanken, vom eigenen Überfluß abzugeben.
Es war also eine Überspitzung jener Sozialkritik
Daß Mikhail Romm noch ein übriges tut und den Burschen des preußischen Offiziers als Wache mitfahren läßt; daß der brave Mann über die Hartherzigkeit der in Geflügel, Pasteten und Rotwein schwelgenden Herrschaften empört ist; und daß er, der Proletarier und „Feind", mit der hungernden Proletarierin sein Kommißbrot teilt - diese Überspitzung des von Maupassant schon satirisch genug betonten Grundgedankens beweist, daß dem Regisseur eben jene Sozialkritik für die Wahl des Stoffes ausschlaggebend war.
Das dramaturgische Grenzland zwischen Stummfilm und Tonfilm
Aber betrachten wir aus diesem interessanten Film noch den einen oder anderen Gedanken, der geeignet scheint, das dramaturgische Grenzland zwischen Stummfilm und Tonfilm etwas zu erhellen:
Etwa die Szene unmittelbar nach den Großaufnahmen der beiden Nonnen. Die Aufzählung der vielen Heiligen, die ihre Tugend dem Gemeinwohl geopfert haben, nötigt die Hure nun auch ihrerseits das gewünschte Opfer zu bringen.
Stracks schreitet sie zur Tat und öffnet die Tür, hinter welcher der preußische Offizier wartet. Der hat es sich bequem gemacht und die Litewka geöffnet, aber beim Eintritt des Mädchens knallt er mit korrekter Verbeugung die Hacken zusammen und schließt eilends die Knöpfe bis herauf zum steifen Kragen.
Gleichzeitig nestelt die Hure ebenso eilends und mit ernst entschlossenem Ausdruck die Knöpfe ihrer hochgeschlossenen Bluse auf. Der Offizier bemerkt es mit freudiger Überraschung und in der gleichen ununterbrochenen Handbewegung beginnt er die soeben bis zum obersten Knopf geschlossene Litewka wieder von oben nach unten aufzuknöpfen, also in der gleichen Richtung, in der das Mädchen immer noch an den Blusenknöpfen nestelt.
Das ist beste Stummfilmtechnik.
Aber - so ließe sich gegen Ende des dritten Jahrzehnts nach dem Abschluß der Stummfilm-Epoche einwenden — es mag gewiß sehr wirkungsvoll sein, mit so einfachen Mitteln der Geste, des Requisits und des Mienenspiels so viel zu sagen, aber könnte man eine eben ihrer Stummheit wegen so vielsagende Wirkung nicht auch im Tonfilm erzielen?
Man könnte es.
Man brauchte auch auf die eben wegen ihrer Stummheit so wirkungsvolle Szene mit den beiden Nonnen nicht zu verzichten.
Man würde ebenfalls nur die ersten zwei oder drei Heiligen im Dialog nennen und man würde dann eine „Geräuschkulisse" davor setzen; also etwa ein belangloses Gespräch oder einen lauten Zank zwischen einigen Nebenfiguren die den Vordergrund ausfüllen, während im Hintergrund die kleine dicke Nonne unhörbar (oder doch nicht genau hörbar) auf das Mädchen einredet und die lange Dürre ihre Kreuze schlägt.
Hier also hätten wir eine schon fast zur Routine der Drehbuchschreiber gewordene Methode, einen dramaturgischen Kunstgriff der Stummfilmtechnik auch tonfilmisch anzuwenden; und es ist recht bezeichnend, daß gerade die bedeutendsten Meister des Stummfilms solche Mittel mit Vorliebe anwandten.
Einen dramaturgischen Kunstgriff in der der Stummfilmtechnik nutzen - Rene Clair
Man denke etwa an Rene Clairs ersten Tonfilm "Sous les toits de Paris", in welchem er den Ton dazu benutzte, Hintergrund und Atmosphäre zu beleben, während er Dialoge, die auch durch Geste und Mienenspiel verständlich wurden, mit Vorliebe hinter eine Dachluke oder ein Fenster verlegte, sodaß der rein visuelle Eindruck des Gespräches in Verbindung mit akustischen Effekten ganz anderer Art dazu beitrug, die Atmosphäre lebendig zu machen, ohne das Verständnis der Handlung zu beeinträchtigen.
Bei Rene Clair gab es eine lange Pause vor dem ersten Tonfilm
Rene Clair war nicht der einzige eben jener Regisseure, die dem Stummfilm zu seiner Entwicklung zur Kunstform verhalfen und nur sehr ungern von ihm abließen.
Clair hatte zunächst geradezu Angst vor dem Tonfilm; und daß das Romanwerk, an dem er sich damals versuchte, nicht sehr glücklich ausfiel, ist von dem Chronisten des Films als ein Glücksfall zu buchen, da sonst dieser hochbegabte Regisseur sich wohl ganz der Literatur gewidmet und dem Film entfremdet hätte.
Daß die scheinbar fruchtlose Pause zwischen seinem letzten Stummfilm und seinem ersten Tonfilm in einem tieferen Sinne doch eine „schöpferische Pause" war, wußte er selbst wohl am allerwenigsten.
Ein Film über eine Novelle von mir (Heinrich Fraenkel)
Es war eine lange Pause, und da er sich in dieser Zeit mit einer Novelle von mir (Heinrich Fraenkel) befaßte, die eigentlich sein letzter Stummfilm und dann sein erster Tonfilm werden sollte; und da auch die Eigenart dieses Stoffes oder vielmehr die Art, wie die „Branche" darauf reagierte, nicht ohne eine gewisse Symptomatik war, so sei der Vorfall hier erwähnt.
Über den Propagandarummel und die Maschinerie von Film und Presse
Es war ein Stoff, der schon im Titel "Prix de beaute" andeutete, daß es sich nicht um die übliche Erfolgsromanze einer Schönheitskonkurrenz handelte, nicht nur um den „Schönheitspreis", den ein Mädchen gewinnt sondern auch um den Preis, den es dafür bezahlt, wenn es durch den Propagandarummel eines Filmkonzerns und eines Sensationsblattes in die Maschinerie jener künstlichen und treibhausschnellen Ruhmerzeugung gerät, die bisweilen von Film und Presse zu gemeinsamem Propagandanutzen entfacht wird.
Es war also gewissermaßen ein sozialkritisches Thema, mit dem auszusagen war, daß es grausam ist, ein Mädchen aus seiner kleinbürgerlichen Atmosphäre zu entwurzeln und ein paar Wochen lang durch die Ritz-Hotels Europas zu schleppen und mit einer durchaus künstlichen und durch keine Leistung fundierten „Berühmtheit" zu verbrämen.
Und ihm dann sagen zu müssen, die Probeaufnahmen hätten leider seine Talentlosigkeit ergeben, aber die schönen Kleider dürfe es behalten, und nun könne es heimfahren und sich an der glorreichen Erinnerung erfreuen.
Es war also eine Anti-Schönheitspreis-Story
Denn das seinem früheren Leben entwurzelte Mädchen zerbricht an der Unmöglichkeit, in jener neuen großen und glitzernden Welt Fuß zu fassen, von der es nur den Vorgeschmack bekommen hatte.
Dieser Grundgedanke des Stoffes interessierte G. W. Pabst, der die Story für sich kaufen ließ, sie dann aber, mit zu vielen vordringlichen Regie-Aufträgen belastet, an seinen Freund Rene Clair weitergab.
Der hätte sicher einen sehr schönen Film daraus gemacht, und das Drehbuch (für einen Stummfilm) war schon fast fertig.
Rene Clair - soller oder soll er nicht ?
Es war eben jene Übergangszeit, als er mit der Frage rang, ob er sich überhaupt jemals mit der neuen Technik befreunden könne.
Die Firma aber hatte sich inzwischen schon entschlossen, meinen Stoff als Tonfilm zu verwerten, hatte für die Hauptrolle einen amerikanischen Star engagiert und übergab die Aufgabe einem Regisseur, der weniger künstlerische Hemmungen hatte.
Gedreht wurde später eine veränderte Fassung
Weil es für die Problematik der in der Film-Industrie üblichen Stoffwahl nicht unbezeichnend ist, sei hier nur am Rande vermerkt, daß in der nunmehr gedrehten Fassung das Mädchen nicht nur ein berühmter Star sondern auch die Favoritin eines Maharadschas wurde, um sich schließlich des braven jungen Mannes zu erinnern, den es in seiner ärmlichen Vergangenheit geliebt hatte, und ihn zur Höhe des eigenen Ruhmes und Reichtums emporzuheben.
Und hier hatte ich nicht aufgepaßt
Ich war damals noch jung genug, um voller Empörung meinen Namen zurückzuziehen und die Story zurückzuerwerben; und es ist nicht ohne eine gewisse ironische und filmhistorisch lehrreiche Pointe, daß einige Jahre später, als Alfred Hitchcock und andere englische Regisseure mit dem Gedanken spielten, die Story genauso zu bringen, wie ich sie geschrieben hatte, die Generaldirektion schließlich doch auf einem „Happy-End" bestand.
Die Symptomatik für eine grundsätzliche Frage
Daß ich damals, auf mein Vertragsrecht pochend, die „Zumutung" ablehnte, mag begreiflich scheinen, da die gewünschte Änderung den eigentlichen Sinn der Story verfälscht hätte.
Andererseits konnte der große Gaumont-Konzern nicht gut einen Anti-Schönheitspreis-Film bringen, während er gleichzeitig eine eigene Schönheitskonkurrenz veranstaltete, fast genauso wie die, deren Grausamkeit in meiner Story gegeißelt wurde.
Was an diesem kleinen Berufserlebnis interessant sein mag, ist lediglich seine Symptomatik für eine grundsätzliche Frage, gleichermaßen wichtig für die Filmindustrie wie für das Publikum: die Frage, ob etwa die Industrie geneigt ist, das geistige Niveau des Publikums zu unterschätzen, und ob und in welchem Maße das Publikum von der Industrie den Mut erwarten darf, von der bewährten Schablone abzurücken oder gar „literarische Experimente" zu wagen.
Der Unterschied zwischen Fim- und Bühnen-Produzent
Der Film-Produzent hat es nicht so leicht wie sein Kollege von der Bühne und wie ein Literatur- oder Musik-Verleger.
Ein Film, einerlei ob es sich um ein Schablonenwerk handelt oder um das geschäftliche Wagnis eines etwas ungewöhnlichen Werkes, erfordert immer einen von einem großen Fabrikbetrieb gesteuerten und sehr komplizierten Produktionsapparat.
Wer nicht selber in jenem so überaus kostspieligen Glashaus sitzt, in dem jede Überstunde mit Gold aufgewogen wird, täte gut daran, die Steine des Anstoßes nicht allzu streng um sich zu werfen.
Beim Film reichen 1000 Zuschauer nicht aus
Dem Filmproduzenten ist nicht mit den paar tausend Kunstverständigen gedient, die dem Kollegen von der Bühne genügen, um halbwegs auf die Kosten zu kommen.
Der Filmproduzent muß immer ein Millionenpublikum an die Kassen von Tausenden von Kinos ziehen; er wird also sein Risiko am liebsten dadurch zu verringern trachten, daß er sich an die oft bewährte Schablone hält.
Wie oft kann sich solch eine Schablone bewähren ?
Bleibt natürlich die Frage, ob man wirklich so risikolos damit rechnen kann, daß die oft bewährte Schablone sich immer wieder bewährt, oder ob es nicht bisweilen auch vom Standpunkt des Kassenrevisors aus nützlicher sein mag, der Vorläufer als einer der vielen Nachläufer zu sein.
Von zahlreichen dafür bezeichnenden Beispielen der Filmgeschichte sei hier nur Alexander Kordas Stoffwahl für den ersten großen Film seiner 1933 gegründeten Londoner Firma genannt.
Als der Kostümfilm wieder einmal als „unmöglich" galt
Damals galt der Kostümfilm wieder einmal als „unmöglich", und man glaubte ganz genau zu wissen (und konnte es sogar durch die statistischen Ergebnisse von Umfragen beweisen), daß das Publikum sich schon seit Jahren an Kostümfilmen sattgesehen habe und daß nur moderne Stoffe „gefragt" seien.
Kein auf den guten Willen der dramaturgischen Abteilungen angewiesener Autor hätte es gewagt, einen historischen Stoff einzureichen.
Alexander Kordas Mut zu "Henry VIII"
Und just zu diesem Zeitpunkt hatte Korda den Mut zu "Henry VIII". Und da er nach einer keineswegs glücklichen Schaffensperiode in Hollywood sich in England erst zu bewähren hatte, war dies eine Stoffwahl, die um so größeren Mut erforderte.
Daß der Film ein Riesenerfolg wurde, wohl der finanziell größte Erfolg unter vielen späteren und nicht minder weltberühmten Korda-Filmen, sei nur am Rande vermerkt, ebenso wie die begreifliche Tatsache, daß nunmehr urplötzlich historische Stoffe wieder „gefragt" waren und das Publikum angeblich von Kostümfilmen gar nicht genug bekommen konnte, bis es sich wieder einmal daran sattgesehen hatte.
"Gute" Filme sind immer „gefragt"
Auf die Frage nach den Gründen solcher angeblicher Wankelmütigkeit ist die einfache Antwort natürlich die, daß gute Filme immer „gefragt" sind, einerlei ob es sich um einen historischen oder modernen Stoff, um eine blutrünstige Tragödie oder eine Salonkomödie handelt.
Charles Laughton brillierte in der Hauptrolle
Nicht als ob Kordas "Henry 8." eine blutrünstige Tragödie wäre; der so häufig verheiratete König war zwar mit dem Todesurteil für seine Frauen schnell zur Hand, aber der große Menschendarsteller Charles Laughton machte aus dem Monstrum der Geschichtsbücher einen in Saft und Kraft strotzenden Menschen, gleichermaßen glaubhaft und lebendig in seiner Liebe und seinem Haß, in seiner derben Genußfähigkeit und tückischen Bosheit.
Kabinettspolitik und Saufgelage waren durchaus modern
Und der Regisseur Alexander Korda erweckte das England des 16. Jahrhunderts, seine Bauernkaten und Burgen, seine Bürger und Barone, seine Kabinettspolitik und Saufgelage zu blühendem und durchaus „modern" anmutendem Leben.
Das Publikum nimmt immer eine Story ab
Lernen kann man aus solchem filmhistorischen Beispiel, daß vor der Schablone der schöpferische Gedanke steht; und daß, was immer die Fachleute über die jeweils gültige Geschmacksrichtung sagen mögen, das Publikum immer eine Story „abnehmen" wird, in der echtes Menschenschicksal lebendig gestaltet ist.
Vermutlich hätten also die Geldleute nichts riskiert, wenn sie Rene Clair gestattet hätten, meine Schönheitskönigin, als talentlos entpuppt, unter die Räder kommen zu lassen.
Die Mühe, sich zum Tonfilm zu bequemen
Wie immer dem sein mag, verweilen wir noch einen Moment bei diesem bedeutenden Regisseur um zu sehen, ob seine endgültige Bekehrung zum Tonfilm uns ein paar weitere Teilantworten auf unsere Frage geben kann.
Daß Rene Clair das seinige dazu beitrug, die künstlerischen Impulse des Stummfilms zu bewahren, ist um so begreiflicher, wenn man bedenkt, wie schwer es gerade diesem durch die strenge Schule der „Avantgarde" und des abstrakten Films gegangenen Künstler gefallen war, sich überhaupt zum Tonfilm zu bequemen.
Daß er es sich dabei nie bequem gemacht hat, war schon aus seinem ersten Tonfilm "Unter den Dächern von Paris" zu ersehen, in dem es - wie gesagt - im wesentlichen darauf ankam, die Atmosphäre von Paris nicht nur visuell, sondern auch akustisch zu gestalten und wo er Dialogszenen, soweit sie optisch verständlich waren, hinter Glaswände verlegte.
Ein Beispiel aus Frankreich
Ähnliches tat er auch in seinem zweiten Tonfilm "Le Million" der für den Chronisten auch dadurch interessant ist, daß er die Internationalität der künstlerischen Entwicklung erweist; denn dieser Film war in mancher Hinsicht von zwei Spitzenwerken der deutschen Tonfilmproduktion beeinflußt, von "Drei von der Tankstelle" und "Der Kongreß" tanzt.
Die stoffliche Parallele, daß „Die Tankstelle" sowohl wie auch "Die Million" von dem damals so aktuellen Gedanken der Wirtschaftskrise ausgehen, erklärt sich daraus, daß auch Frankreich damals die Wirtschaftskrise „aktuell" war.
Aber wesentlich war, daß beide Filme den geglückten Versuch machten, dieses unerfreuliche Thema optimistisch zu gestalten: in dem deutschen Film mit einer humorig gewürzten „modernen Sachlichkeit", (um das damalige Schlagwort zu wiederholen), in dem französischen mit einer ins Grotesk-Humorige gesteigerten Märchenhaftigkeit.
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Die Story von "Millionen"
Der Held ist ein von seinen Gläubigern verfolgter junger Künstler. Als er das große Los gewinnt, scheint alle Not am Ende. Aber das Los steckt in einem alten Jackett, das abhanden gekommen ist und schließlich bei einem Opernsänger landet, der es für eine Boheme-Rolle benützt.
Die Jagd nach dem Millionenlos, das ist der ganze Inhalt dieses Films. Aber in der grotesk-humorigen und ungemein charmanten Art, in der das gestaltet ist, in der Art etwa, wie das musikalische Motiv auch visuell gesteigert wird, indem es nicht nur im Dialog der Beteiligten aufklingt, sondern auch in Requisiten, wie etwa einer Telefonglocke oder einer Schreibmaschinentaste, gerade darin hat Clair viel von Vorbildern wie „Tankstelle" und „Kongreß" gelernt.
Aber durchaus ihm eigen war der Gedanke, die große Versöhnungs- und Liebesszene zwischen dem jungen Mann und seiner kleinen Freundin stumm spielen zu lassen und zwar auf der Opernbühne, wohin sie beide auf ihrer Hetzjagd verschlagen sind und wo sie, durch den Souffleurkasten vor dem Opernpublikum gedeckt, sich eng zusammenkauern müssen und nur flüstern können, während der zu ihrer eigenen Szene passende Dialog von dem Opernsänger und der Operndiva gesungen wird.
Rene Clair und die Wirtschaftskrise
Rene Clairs nächste Filme waren bezeichnenderweise ebenfalls dem Thema der Wirtschaftskrise gewidmet; freilich nicht in der spielerisch graziösen Art der „Million", sondern auf ungleich ernstere Weise.
Der letzte der beiden Filme "Le dernier Milliardair" behandelt den wachsenden Irrsinn eines Diktators in einem von politischen und wirtschaftlichen Krisen zerrütteten Phantasiestaat.
Der Film war künstlerisch eine Enttäuschung, was vielleicht teilweise durch die Tatsache erklärlich ist, daß er, obschon in sehr großem Stil geplant, mit erheblich bescheideneren Mitteln fertiggestellt werden mußte.
Wegen der Parodie auf Hitler - kein Geld mehr
Die ursprünglich an dem Unternehmen beteiligte Tobis mußte sich davon zurückziehen, weil Dr. Goebbels in der Charakterisierung der Hauptfigur eine Karikatur von Adolf Hitler sah.
Er hatte damit nicht ganz unrecht und es ist nicht ohne eine gewisse ironische Pointe, daß es auch über Rene Clairs vorhergehenden und erheblich bedeutenderen Film >A nous la liberte" zu einem Disput zwischen dem Filmgewaltigen des Hitler-Reiches und dem französischen Regisseur kam.
Der Film behandelte die wirtschaftlichen und sozialen Konflikte, die sich für einen Industriemagnaten und seine Arbeiter aus einer (utopisch gesehenen) Mechanisierung und Automatisierung des Produktionsprozesses ergeben.
Dann kam Charly Chaplins Hitler Parodie
Als einige Jahre später Charles Chaplin mit "Modern times" herauskam, also mit einem in der Grundidee nicht unähnlichen Werk, wollte der Dr. Goebbels ihm einen "Tort" (Kränkung, etwas Unrechtes, Unangenehmes) antun und setzte Rene Clair unter starken Druck, um ihn zu einem Plagiatprozeß zu nötigen.
Inzwischen war Goebbels der Herrscher über die "TOBIS"
Die Legitimation für diese Einmischung lag darin, daß die Tobis, (deren alleiniger Herrscher der Minister nunmehr war) an dem zu dieser Zeit schon mehrere Jahre alten Rene Ciair-Film beteiligt war.
Beide hatten recht - bezüglich der „Führerkarikatur"
Aber der französische Regisseur, persönlich glücklicherweise dem Machtbereich des deutschen Diktators entzogen, weigerte sich standhaft, gegen den von ihm bewunderten Chaplin vorzugehen.
Er erklärte, daß von einem Plagiat keine Rede sein könne und hatte damit ebensowenig unrecht wie Goebbels mit seiner Wut sowohl über die „Führerkarikatur" in dem Chaplin-Film als auch im „letzten Milliardär", mit dem Clair seinem Lande Valet gesagt hatte.
Es begann eine schlimme Zeit für den französischen Film
Das war eine schlimme Krisenzeit für den französischen Film, auch (und besonders) für seine künstlerische Entwicklung; und daß es schon wenige Jahre später, also in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, zu einer „Renaissance" kommen sollte, war damals noch kaum vorauszusehen.
Von der weit über Frankreichs Grenzen hinausgehenden Bedeutung dieser Renaissance, im wesentlichen mit den Leistungen von Duvivier, Renoir, Pagnol und Carne verbunden, wird noch zu reden sein.
Hier sei nur noch eines allzu früh verstorbenen französischen Regisseurs gedacht, der in den allerersten Jahren des französischen Tonfilms Wesentliches zu geben hatte.
Jean Vigo und "Zero de Conduite" von 1932
Es war Jean Vigo, dessen bedeutendster Film "Zero de Conduite" 1932 erschien und erhebliche Zensurschwierigkeiten hatte.
Vigos eigene unglückliche Kindheit - sein Vater wurde im Ersten Weltkrieg als Anarchist standrechtlich erschossen und der junge Jean wurde in drakonisch und lieblos geleiteten Kinderheimen erzogen - bot den Stoff für diesen Film, dessen Schluß ungemein eindringlich und erschütternd die Revolte der Kinder schildert.
Unvergeßlich bleibt der Zeitlupeneffekt jener „Symphonie in Weiß", da die Kinder mit den zerfledderten Federkissen nach ihren Peinigern werfen.
Auch Vigos nächster Film "L'Atalante"
Auch Vigos nächster Film "L'Atalante" war ein eigenartiger, um nicht zu sagen, poetischer Stoff. Der Filmtitel ist der Name eines Seine-Kahns, auf dem ein Mann und seine Frau ihrem bescheidenen Broterwerb nachgehen, und zwar vor dem idyllisch-poetischen Hintergrund, den uns das Fluß- und Kanalsystem der französischen Landschaft bis zu den Vororten von Paris bietet.
Von dem allzufrüh verstorbenen Jean Vigo abgesehen war das keine sehr fruchtbare Zeit für den französischen Film, und zwar weder für die einheimischen noch die zugewanderten Regisseure.
Die Krise und die „atmosphärischen" Auswirkungen
Auch Fritz Lang und G. W. Pabst machten mit "Liliom" und "Don Quixotte" zwar sehr große, aber durchaus nicht ihrem üblichen Niveau entsprechende Filme.
Die Krise hatte zwar wirtschaftliche und politische Ursachen (und Wirkungen), aber sie wirkte sich unvermeidlicherweise auch „atmosphärisch" und stimmungsmäßig aus und beeinträchtigte die schöpferischen Möglichkeiten sensitiver Menschen.
Auch Pabst und Lang gingen nach Hollywood
Kein Wunder, daß sowohl Pabst wie Lang bald Paris den Rücken kehrten und nach Hollywood gingen, wobei sich Pabst freilich ganz und gar nicht wohl fühlte; es war ihm gewiß im menschlichen wie im künstlerischen Bezirk besonders schwer, sich dort schnell anzupassen, und er kam ziemlich bald nach Europa zurück.
Auch Korda verließ Paris
Auch Korda verließ Paris schon in den Jahren 1932/33 und übersiedelte nach London, um dort in steilem Aufstieg seine neue Karriere zu machen und sich in wenigen Jahren zu einem weltberühmten Produzenten und einer der markantesten Persönlichkeiten seiner Zeit zu entwickeln.
Durch die NS-Machenschaften kam der große Exodus
Etwa zur gleichen Zeit (1933) begann in Deutschland, durch den politischen Umbruch verursacht, ein scharenweiser Exodus von Filmschaffenden, aber das gehört an den Beginn eines neuen Kapitels.