Erinnerungen von Manfred Hemmerling (2002) Kapitel 1 - 18
überarbeitet von Gert Redlich im Nov. 2015 - Bei meinem Besuch bei den Pensionären von Radio Bremen im Sept. 2015 legte Nick Kröger dieses Buch auf den Tisch, weil Herr Hemmerling an dem Zeitzeugengespräch leider nicht mehr teilnehmen konnte. Manfred Hemmerling ist wenige Tage vorher am 19. Sept. 2015 im Krankenhaus verstorben. Nach dem groben Durchlesen noch im Hotel in Bremen stand der Entschluß fest, die 260 Seiten der Erinnerungen an 40 Jahre im Rundfunk (bei Radio Bremen) einem erheblich breiteren Publikum vorzulegen.
Um das Ganze lesefreundlich zu gestalten, sind von mir weitere Überschriften zur Trennung von Lese-Blöcken eingefügt worden und natürlich auch Kommentare und Verlinkungen und weitere Bilder, die den jüngeren Lesern einiges besser veranschaulichen.
Das Inhaltsverzeichnis ist auf eine eigene Seite ausgelagert.
Kapitel 6
Erlebnisse mit Otto in Darmstadt bei der FESE
Was ich mit Otto Kaeseler, Fahrer des Technischen Direktors von Radio Bremen, Maschinenwart, zugleich Mädchen für alles, aber ein richtiges Original auf diversen Fahrten alles erlebt habe, läßt sich nicht mit wenigen Worten beschreiben. Damals war es üblich, daß Otto Kaeseler öfter mit einem VW-Bus nach Darmstadt fuhr, um das Abnahmeteam von RB zur FESE zu bringen (eine Bahnnutzung wäre teurer gewesen) und um auch Geräte gleich nach Bremen mitzunehmen.
Die Robert Bosch Fernseh GmbH in Darmstadt
Die FESE war (seit Urzeiten) eine Bosch-Tochter und stellte (ab 1949) sämtliche professionellen Fernsehanlagen, von Kameras über Bildmischer, Film- und Dia-Abtaster, Filmaufzeichnungsanlagen bis hin zu Monitoren her.
Die Wertung "professionell" trifft hier wirklich zu. Denn alle Geräte waren sowohl in der "Verdrahtung" und mit eigens ausgesuchten Bauteilen als auch in ihrer Robustheit unübertroffen. (Die FESE gibt es heute in 2002 auch nicht mehr, nur noch ein Nachfolgeunternehmen BTS bzw. Philips).
Jedes Gerät wurde "abgenommen"
Anfang der sechziger Jahre begann sich die Aufzeichnungstechnik zu etablieren. Es begann mit einer 16/35mm Filmaufzeichnung, kurz FAZ genannt, sowie zwei 35mm Filmabtastern von der Fernseh GmbH, der damaligen "FESE", in Darmstadt. Es war üblich, daß sämtliche Anlagen erst nach einer obligatorischen Werksabnahme mit Herrn Deistler von der Rundfunkbetriebstechnik, Nürnberg, ausgeliefert wurden. Das hatte auch den Vorteil, daß man schon während der Abnahme Kenntnis über die Funktion des Gerätes oder der Anlage erhielt. Abends, im jedem Darmstädter bekannten "Grohe-Brau", wurde in interner Runde weiter diskutiert und gefachsimpelt.
Das fachmännische Urteil von Herrn Deistler war bei der FESE gefürchtet, gleichwohl auch geschätzt. Als Genießer schmackhafter Leib- und Magenspeisen, davon zeugte auch sein Leibesumfang, kannte er sich wegen ständiger Abnahmen bei der FESE natürlich in Darmstadt besonders gut aus.
Die GROHE Brauerei
Somit kamen auch wir in den Genuß, den "Grohe-Bräu", als Geheimtip sozusagen, kennenzulernen. "Grohe", das war eine der vielen kleinen Privatbrauereien, die es damals gab, in denen man nicht nur ein gut gebrautes Bier bekam, sondern auch gut und deftig zu essen. Und bei "Grohe" gab's auch ein "Zwetschgenwasser", das es in sich hatte. Danach war es nur schwierig, von oben über eine steile Stiege wieder in den Hof hinunter zu kommen.
Otto Kaeselers Mißgeschick
Otto Kaeseler hatte uns, wie üblich, zur FESE gebracht. Während wir, G. Schneider, H. Bultmann, M. Kröger und ich bei der Abnahme in Darmstadt waren, verbrachte er die Zeit bei Verwandten in der Nähe, in Jugendheim an der Bergstraße.
Als Otto pünktlich - wie immer - zum vereinbarten Zeitpunkt wiederkam, konnte er kaum sprechen. Was war geschehen? Ottos Zahnprothese war bei einem Husten- oder Niesanfall in hohem Bogen und ganz unabsichtlich auf dem betonierten Parkplatz der FESE gelandet. Damit keiner dieses kleine Mißgeschick mitbekommen sollte, was ohnehin auf dem weitläufigen Gelände kaum denkbar war, trat er rasch mit dem Fuß drauf und zerbrach dadurch das gute Stück in zwei Teile. Damit noch nicht genug, hatte er dann versucht, die Bruchstücke mit einem Lötkolben wieder zusammenzukitten! Er blieb bis Bremen sprachlos oder zumindest für uns kaum verständlich. In meinem ganzen Leben habe ich nicht wieder jemanden kennengelernt, der ein so ulkiger Kauz, aber auch ein so liebenswerter und natürlicher Mensch war, wie Otto Kaeseler.
Die 2. Otto Kaeseler Story
Herr Heyer, als Technischer Direktor von Radio Bremen gerade einige Tage im Amt, wollte von seinem Fahrer, den er noch nicht kennengelernt hatte, gefahren werden. Er rief, ohne die Sekretärin einzuschalten, persönlich bei Otto an. Als der Direktor sich wie üblich mit "Heyer" meldete, sagte Otto trocken: "Stüdelmann, staatliche Steinschlagverwertungsgesellschaft"! Herr Heyer entschuldigte sich sogleich für seinen vermeintlichen Fehler, daraufhin erklärte sich Otto. Herr Heyer, der damals für derartige Spaße keinerlei Verständnis hatte, soll getobt und Herrn Kaeseler sofort zum Vorsprechen in seinem Büro aufgefordert haben. Später hat der Technische Direktor seinem Fahrer fast alles nachgesehen. Otto war nun einmal ein Unikum.
Wenn Otto während langer Fahrten einige Erlebnisse auf seine Weise zum Besten gab, mit einer dramatischen Gestik und einem grollenden Tonfall, der aber unverkennbar schalkhaft war, dann mußte ich oft lachen. Ein Vorfall, eine Kuriosität, gleichfalls ein Mißgeschick, das sich vor längerer Zeit bei ihm zu Hause ereignet hatte, soll hier als Beispiel kurz erwähnt werden.
Die 3. Otto Kaeseler Story
Otto wohnte in einem typischen Bremer Haus in Walle. Sein kleiner Garten grenzte an die Mauer eines Einrichtungshauses. Eines abends schlug sein Schäferhund, der sich in diesem Garten aufhielt, laut an. Otto öffnete die Tür und sah, wie auf dem angrenzenden Gebäude ein Mann stand, der ganz offensichtlich in dem Geschäft nebenan einbrechen wollte. Otto rief den "Kerl" auf dem Dach an und sagte: "Mensch, laß das sein, du wirst doch geschnappt"!
Daraufhin erwiderte der Mann, "sperre erst deinen Hund ein, dann komme ich runter." Otto sperrte seinen Hund in die Waschküche. Der Mann sprang vom Dach in Ottos Garten und schlug ihm mit einer Stahlrute ins Gesicht. Darauf riß Otto die Tür zur Waschküche auf und ließ den ohnehin rasend bellenden Hund frei. Das Tier stürzte sich blind wütend auf den am nächsten stehenden und biß ihn kräftig in den Oberschenkel. Es war Otto selbst! Das war der günstige Moment des Einbrechers, er entkam unerkannt.
Zum Abendessen im Hause von Herrn Rudert
Als wir einen Großauftrag (für Radio Bremen war er schon außergewöhnlich) bei der FESE abwickelten, und zu einem Abendessen im Hause von Herrn Rudert (Geschäftsleitung) eingeladen wurden, war außer Gerd Schneider, Nick Kröger, Horst Bultmann auch Otto dabei. Wir wurden von der Dame des Hauses stilvoll ins Kaminzimmer gebeten (Horst ist für derartige Gesten sehr empfanglich).
Die Besonderheiten der Deutschen Dogge
Der Hausherr, ein distinguierter Mann mit graumelierten Schläfen und markantem Profil, klärte uns gerade über die Besonderheiten der Deutschen Dogge auf, von denen er zwei Prachtexemplare sein eigen nannte, als Otto ungeniert einem der riesigen Hunde ins Maul griff, dem Tier den Rachen weit aufriß, die Lefzen hochzog, so daß sein prachtvolles Gebiß zu sehen war und meinte "Mensch, was der für Zähne hat!"
Verblüffung auf allen Seiten
Der Hund, dem solch eine Behandlung bestenfalls mal beim Tierarzt widerfahren war, schien wie wir darüber völlig verblüfft zu sein. Jedenfalls geschah nichts weiter. Außer, daß Herr Rudert nach einigen Schrecksekunden seine Fassung wiedererlangte, und ich einen Lachanfall bekam, der mir nicht nur äußerst peinlich war, sondern auch noch länger anhielt.
Ottos Äußerung: "Mensch was der für Zähne hat" ließ mich an den Vorfall denken, als er von seinem Hund in den Oberschenkel gebissen worden war, und das hatte beim Anblick der prächtigen Zahnreihe der Dogge meinen Lachanfall ausgelöst.
Und dennoch gut gelaufen
Ich saß eingeengt zwischen Gerd und Nick auf der Couch und kam noch zusätzlich ins Schwitzen. Die sonst übliche Phase einer Begrüßung, die ersten Minuten eines höflichen Zusammenseins, waren durch Ottos unbefangene Art und spontanes Handeln etwas unruhig geworden; er hatte für eine unerwartete Überraschung gesorgt.
Jedenfalls hat das geschilderte Vorspiel zu einer gewissen Lockerung beigetragen, und der Abend verlief danach mit einer distanzierten Heiterkeit, die man Gästen entgegenbringt, die als gern gesehene Geschäftskunden nun mal eingeladen werden müssen.
Wenn man jemandem seine Heimat nimmt . . .
Seinen wohlverdienten Ruhestand nach Radio Bremen, den Otto schon mit 65 Jahren antreten mußte(!), konnte er nicht lange genießen, man hatte dem liebenswerten Kerl ein Stück "Heimat" genommen und er verstarb bald darauf. Leider auch viel zu früh.