1972 - Ein Blick in die Arbeit der Regisseure - Heft 7
März 2025 - Duch Zufall sind wir auf dieses Heftchen aufmerksam geworden. Denn nach dem Drehbuch haben die Regisseure den meisten Einfluß auf den Erfolg eines Films, ob im Fernsehen oder im Kino. Der Regisseur baut sich in seinem Kopf "seinen" Film zusammen, wählt Schauspieler, Kameramann (oder -Frau), Requisiten und Drehorte aus - und wenn die Kosten klar sind, legt er los. Bislang liegt uns nur das Heft 7 einer kleinen Serie von Biografien vor. Die anderen Hefte suchen wir noch.
.
Regisseur-Biographie "Denis Arkadewitsch Kaufman"
.
Biografie :
Denis Arkadewitsch Kaufman - so lautete der eigentliche Name Dsiga Wertows, wurde am 2.1.1896 in Bialystock geboren (1896 - 1954). Seine Familie flüchtete 1915 vor den herannahenden deutschen Truppen nach Petrograd, wo der junge Mann mit der futuristischen Bewegung um Majakowski in Berührung kam.
Bereits als Schüler verfaßte Denis Arkadewitsch phantastische Romane und satirische Gedichte. Der Besuch einer Musikschule regte ihn an, Versuche der Tonmontage durchzuführen. Hierfür gründete er eigens ein „Laboratorium des Gehörs", in welchem er Geräusche wie z. B. das Rauschen eines Wasserfalls akustisch darzustellen versuchte.
Nach einem zweijährigen Universitätstudium bewarb er sich als Redakteur der Wochenschau KINONEDELJA beim Moskauer Filmkomitee. Denis A. Kaufman gehörte bei Ausbruch der Oktoberrevolution zu jenen begeisterungsfähigen jungen Menschen, die sich durch die Umwälzung der Gesellschaft zu neuen Ideen und Experimenten aufgerufen fühlten.
Lenins Gedanken über die publizistischen Möglichkeiten des Films zur Widerspiegelung der neuen Wirklichkeit des sowjetischen Lebens wurden zum Leitziel seines Filmschaffens.
Die Wochenschau in Russland
Die Wochenschau hatte während des Bürgerkrieges an die Stelle des teilweise zerstörten Nachrichten- und Zeitungssystems zu treten. Das bewegte Bild war die eindrucksvollste Propagierung der neuen Ideen. Mühselig mußten die von allen Teilen des Landes und insbesondere von den Fronten des Bürgerkrieges einlaufenden, teilweise primitiven Streifen von Wertow und seinem Mitarbeiterstab gesichtet und montiert werden. Agitationszüge brachten die so erstellten Wochenschauen zusammen mit Propagandamaterial auf dem schnellsten Wege in die entferntesten Provinzen.
Nach Beendigung des Bürgerkrieges genügten diese Filmstreifen nicht mehr den an sie gestellten publizistischen Anforderungen. Kameramänner und Regisseure gingen dazu über, ihre Filmstreifen nach besonderer Szenenauswahl und verschiedenen Blickpunkten zu gestalten.
Sie waren damals die "Kinoki"
Die Filmkamera wurde für Wertow, der sein Pseudonym von dem russischen Wort „wertet = drehen, bewegen" ableitet, zum ,Kino-Auge', zum ,Maschinenauge', das objektiv die Bewegungen des Lebens auf das Filmband aufnahm, losgelöst von jedem dramatischen und theatralischen Effekt des herkömmlichen Films.
Die Kinoki, wie Wertow und seine Mitarbeiter sich nannten, sagten in ihrem „Manifest über die Entwaffnung der theatralischen Kinematographie" dem kommerziellen Film nach kapitalistischen Gesichtspunkten den Kampf an.
.
Das nachfolgende ist das Manifest eines russischen Regisseurs
.
WIR
Manifest über die Entwaffnung der theatralischen Kinematographie
WIR nennen uns Kinoki - im Unterschied zu den „Kinematographisten", - jener Trödlerhorde, die mit ihren Lumpen gute Geschäfte macht. WIR sehen keinen Zusammenhang der Unverfrorenheit und Berechnung dieser Krämerseelen mit echter und ehrlicher Filmarbeit.
Das psychologische russisch-deutsche Filmdrama, belastet mit Hirngespinsten und Kindheitserinnerungen, halten wir für Unsinn.
Dem amerikanischen Abenteuerfilm, dem Film mit scheinbarer Dynamik, den Inszenierungen des amerikanischen Pinkertonfilmwesens hat der Kinok die raschen Bildwechsel und die Großaufnahmen zu danken. Sie sind dort gut angewandt, aber nicht geordnet, nicht durch das genaue Studium der Bewegung begründet. Eine höhere Stufe des psychologischen Dramas - aber ohne Fundament. Schablone. Nachahmung der Nachahmung.
WIR erklären: die alten Filme, die romantischen, die theatralisierten und dergleichen - sind aussätzig.
- Kommt ihnen nicht zu nahe!
- Wendet Eure Blicke ab!
- Sie sind lebensgefährlich!
- Ansteckungsgefahr!
WIR behaupten: Die Zukunft der Filmkunst liegt in der Mißachtung dieser Machwerke.
.
Der Tod der „Kinematographie" ist notwendig für das Leben der Filmkunst. WIR rufen auf, ihren Tod zu beschleunigen.
.
WIR protestieren
WIR protestieren gegen die Vermischung der Künste, die von vielen „Synthese" genannt wird. Das Mischen schlechter Farben, das Mischen sogar der reinen Farben des Spektrums ergibt nicht weiß - sondern Schmutz.
Die Synthese ist als Höhepunkt der Anstrengungen jeder Kunstform möglich, aber nicht eher.
WIR reinigen den Film von allen Fremdkörpern, die sich an ihm festgesetzt haben: Musik, Literatur und Theater.
WIR suchen seinen eigenen, nirgends gestohlenen Rhythmus - und finden ihn in der Bewegung der Dinge.
WIR fordern:
- fort -
aus den süßen Umschlingungen der Romanze, aus dem giftigen Dunst des psychologischen Romans, aus den Klauen des Liebhabertheaters, weg von der Musik,
- fort -
hinein in das reine Feld des Films, in die Weite der vier Dimensionen (drei + Zeit), auf die Suche nach seinem eigenen Material, seinem eigenen Maß, seinem eigenen Rhythmus.
Das „Psychologische" hindert den Menschen daran, exakt zu sein wie ein Sekundenzeiger, behindert sein Verlangen, sich mit der Maschine zu ver-schwistern.
WIR sehen keinen Grund, das Hauptaugenmerk beim Studium der Bewegung auf den heutigen Menschen zu richten. Schämen muß man sich vor den Maschinen für die Unfähigkeit der Menschen, sich zu benehmen; was können wir dafür, daß uns die fehlerfreien Manieren der Elektrizität mehr erregen als die hirnlose Hast hetzender oder die stinkende Trägheit gleichgültiger Menschen. Uns ist das Jauchzen tanzender Sägen im Sägewerk begreiflicher und näher als die Lust an menschlicher Tanzerei.
WIR schließen (von Zeit zu Zeit) das Objekt Mensch von den Filmaufnahmen aus, weil es unfähig ist, seine Bewegungen zu beherrschen. Unser Weg: Vom „Herrn der Schöpfung", der mit seiner Arbeit nicht vom Fleck kommt, über die Poesie der Maschine zum vollkommenen, elektrischen Menschen.
.
und nochmal WIR
WIR entdecken die Seelen der Maschinen, wir sind verliebt in den Arbeiter an der Werkbank, verliebt in den Bauern auf dem Traktor, den Maschinisten in der Lokomotive.
WIR tragen die schöpferische Freude in jede mechanische Arbeit.
WIR versöhnen die Menschen mit der Maschine.
WIR erziehen neue Menschen.
Der neue Mensch, frei von Schwerfälligkeit und Ungeschicktheit, mit den präzisen und leichten Bewegungen der Maschinen, wird ein dankbares Objekt für Filmaufnahmen sein.
WIR entdecken in uns Verständnis für den Rhythmus der Maschinen, Begeisterung für die menschliche Arbeit, für chemische Prozesse.
WIR besingen das Erdbeben.
WIR gestalten Filmpoeme über Schlote und Elektrizitätswerke.
WIR begeistern uns für die Bahnen der Kometen und Meteore.
WIR blenden die Sterne mit unseren Projektoren. Jeder, der seine Kunst liebt, sieht nach dem Wesentlichen ihrer Technik.
.
Was die Filmschaffenden "müssen" ....
Die versagenden Nerven der Kinematographie haben ein strenges System geregelter Abläufe nötig. Filmlänge, Geschwindigkeit, Art der Bewegung und ihre präzise Anordnung im Koordinatensystem des Bildstreifens, vielleicht auch im Koordinatensystem der Erde (drei Dimensionen + die vierte, die Zeit), muß von jedem Filmschaffenden berücksichtigt und studiert werden.
Notwendigkeit, Präzision und Schnelligkeit - drei Forderungen an die Bewegung, die der Aufnahme und Projektion würdig sind. Den geometrischen Extrakt der von der Aufnahme erfaßten Bewegung herzustellen - die Forderung an die Montage.
Filmarbeit ist die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum, wobei das rhythmische, künstlerische Ganze den Eigenschaften des Materials und dem inneren Rhythmus eines jeden Dinges angepaßt wurde.
Material - künstlerische Elemente der Bewegung - sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zur anderen), aber nicht die Bewegung selbst. Sie (die Intervalle) führen auch die Handlung zur kinetischen Lösung.
Die Organisation der Bewegung ist die Organisation ihrer Elemente, das heißt der Intervalle innerhalb einer Phrase. Jede Phrase umschließt Aufschwung, Höhepunkt, und Absinken einer Bewegung (ihrem Bedeutungsgrad angemessen). Das Werk baut sich auf den Phrasen auf, so wie die Phrase sich aus den Intervallen der Bewegung aufbaut.
.
Der Kinok muß alles genau aufschreiben und .....
Sind Idee oder Entwürfe zu einem Filmpoem in ihm entstanden, muß der Kinok fähig sein, alles genau aufzuschreiben, damit er den Plan unter günstigen technischen Bedingungen auf der Leinwand zum Leben erwecken kann.
Das vollkommene Szenarium ersetzt natürlich solche Aufzeichnungen nicht, ebenso, wie das Libretto nicht die Pantomime ersetzt, oder die literarischen Erläuterungen zu den Werken Skrjabins keine Vorstellung von seiner Musik geben.
Um eine dynamische Etüde zu Papier zu bringen, muß die Bewegung graphisch dargestellt werden. WIR sind auf der Suche nach dem Kinogramm.
WIR sinken, wir steigen mit dem Rhythmus der Bewegung, verlangsamt oder beschleunigt, von uns fort, neben uns her, auf uns zulaufend, im Kreis, gerade, als Ellipse, nach rechts, nach links, mit dem Vorzeichen plus oder minus; die Bewegungen verzerren, strecken, teilen sich, verringern und vermehren sich durch sich selbst, durchschießen lautlos den Raum.
Der Film ist auch die Kunst der Erfindung der Bewegungen der Dinge im Raum, wie sie den Anforderungen der Wissenschaft entsprechen; er verwirklicht den Traum des Erfinders, oder des Gelehrten, oder des Künstlers, des Ingenieurs oder Zimmermanns. Der Film verwirklicht die Möglichkeit des Lebens.
Zeichnungen in Bewegung. Skizzen in Bewegung. Entwürfe des Zukünftigen, Relativitätstheorie auf der Leinwand.
.
Das also sind die Ansichten und Theorien von Wertow
WIR begrüßen die gesetzmäßige Phantasie der Bewegungen. Auf den Flügeln der Hypothesen fliegen unsere Propelleraugen in die Zukunft.
WIR glauben, daß der Augenblick nahe ist und wir Orkane von Bewegungen in den Raum schleudern können, nur durch unsere Methode gebändigt.
Es lebe die dynamische Geometrie, der Wettlauf der Punkte und Linien, Flächen, Volumen. Es lebe die Poesie der rollenden und laufenden Maschinen, die Poesie der Hebel, der Räder und stählernen Flügel, der einsame Schrei der Bewegungen, der blendende Schein der glühenden Ströme.
In zahlreichen ähnlichen Manifesten und Artikeln hat Wertow in den nachfolgenden Jahren seine Ansichten und Theorien dargelegt. „Kinoglas", das bedeutete für Wertow „ich sehe filmisch (ich sehe durch die Kamera). Ich schreibe filmisch (zeichne mit der Kamera auf dem Filmband auf). Ich organisiere filmisch (montiere)."
.
Das ,Kino-Auge'
Das ,Kino-Auge' begleitete den sowjetischen Bürger bei seinen alltäglichen Verrichtungen. Der sich unbeobachtet glaubende Mensch wurde ,überrumpelt'.
Nichtsdestotrotz war Wertows Wirklichkeit eine gestellte Wirklichkeit. Das ,Kino-Auge' diente der Entdeckung der Wahrheit im Sinne der kommunistischen Idee. Die „Kinoprawda", die Filmwahrheit, stellte eine neue Form der montierten Wochenschau dar, die informieren, aufklären und belehren sollte.
Die Wirkung der Wertow'schen Montagetechnik beruhte auf der geschickten Auswahl der Filmstreifen, die sein Mitarbeiterteam nach von ihm gestellten Gesichtspunkten in allen Teilen der Sowjetunion aufnahm. Aus ihnen setzte
Wertow die Wirklichkeit des Lebens zusammen.
Er selbst bezeichnete seine Arbeit als „dokumentarische Erfassung der sichtbaren Welt". Höhepunkt der Kino-Auge-Bewegung war DER MANN MIT DER KAMERA. Hier wird die Aufgabe des ,Kino-Auges' erweitert.
Der Kameramann mit seiner Arbeit wird als Teil des Lebens betrachtet und ist Ausdruck der neuen Methode des Sehens. Das ,Kino-Auge' beobachtet einmal das zu filmende Objekt, den Vorgang des Filmens und das fertige Ergebnis auf der Leinwand.
.
Ein typisches Beispiel
Der Beginn dieses Films ist ein typisches Beispiel für die Auffassung Wertows über Montagetechnik. Er benutzt Szenen aus Moskau, Kiew, Odessa, aber er zeigt nicht den erwachenden Tag in diesen Städten wie es sich natürlicherweise gestalten würde, sondern er benutzt die montierten Bilder, um das Leben in einer Großstadt - in irgendeiner, die überall sein könnte - zu zeigen.
Es spielt keine Rolle, wo sich das Leben abspielt, sondern wie es sich dem Betrachter darstellt. Der Trick der auseinanderbrechenden Straße, das berstende Bolschoi-Theater, sind dabei Symbole für die Hast und Unruhe des Großstadtmenschen, das ,Gebrochensein' und ,Hineingestelltsein' in die Umwelt.
In seinen Filmen hat Wertow Zwischentitel unterschiedlicher Schrift ebenso benutzt wie Filmtricks, die teilweise als ästhetische Spielereien die Bedeutung der von ihm gemachten Aussagen unterstreichen und sie noch stärker im Bewußtsein des Betrachters verankern wollten.
Expressionistische Stilelemente werden von ihm ebenso verwendet wie poetische Ausdrucksmittel. Durch Wertows Arbeit prägt sich der Begriff des poetischen Realismus im Dokumentarfilm, der großen Einfluß auf den sowjetischen Spielfilm der 20er Jahre ausübte. Auch das internationale Filmschaffen wurde stark von seinen Aussagen berührt.
.
BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927)
In Deutschland verwandte Walther Ruttmann Wertows Montagetechnik in seinem Film BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927). Die englische Dokumentarfilmbewegung um Grierson baute auf Wertowschen Erkenntnissen auf. Der italienische Neorealismus und auch das Cinema Verite sind Neubelebungen seiner Theorien.
Der Tonfilm bedeutete für Wertow die Vereinigung von Ton- und Bildmontagen zu einer neuen Einheit. In der SIMFONIJA DONBASSA - ENTUSIASMUS, ein propagandistischer Dokumentarfilm über die Erfüllung des 5-Jahres-Planes im Donez-Becken, gestaltete Wertow durch Montage ein vielgesichtiges Bild, das die Schwierigkeiten des Aufbaus, den Menschen und das Ergebnis zu einer Einheit zusammenfaßte.
Drei Jahre arbeitete Wertow an der Verwirklichung eines Gedächtnis-Films über Lenin TRI PENSI O LENINE. In seinen Tagebüchern beschreibt er die fast unmenschliche Aufgabe, die er sich und seinem Team stellte, um ein Dokument der Persönlichkeit Lenins und seiner politischen Ideen zu erstellen.
Wertow interpretierte nicht die Leninschen Grundsätze, sondern gab den Effekt wieder, den dieser auf die Menschen ausgeübt hat. Er sammelte Volkslieder über Lenin aus den verschiedensten Provinzen der Sowjetunion, registrierte die neue Stellung der Frau in der Gesellschaft an Hand von Beispielen aus verschiedenen Volksgruppen. TRI PENSI O LENINE wurde von Wertow als Ode an das Idol seiner Jugend gestaltet.
.
Als der der sozialistische Realismus kam
In den 1930er Jahren löste der sozialistische Realismus stalinistischer Prägung auch im Dokumentarfilm den poetischen Realismus ab. Wertow, der Zeit seines Lebens schwer um die Anerkennung seiner Theorien gekämpft hatte, trat mit seiner Arbeit in den Hintergrund.
Erst Anfang der 1960er Jahre begann in der UdSSR eine intensive Beschäftigung mit Dsiga Wertow und eine Neuentdeckung seiner Filmtheorien. Dsiga Wertow starb am 12. Februar 1954 in Moskau.
geschrieben von Dorothea Gebauer, 1971
.
„Der Mann mit der Kamera" - Einleitung
Der Film beginnt in einem leeren Kinosaal, Lichter gehen an, die Sitze klappen herunter, der Vorführer stellt seine Kohlen ein, Menschen strömen in das Kino, das Orchester beginnt zu spielen, auf der Leinwand läuft der Film an: Eine Großstadt bei Tagesanbruch. Noch stehen die Maschinen still, leere Straßen, Blätter tanzen im Morgenwind, die Kamera beobachtet ein schlafendes Mädchen, auf Parkbänken liegen unter zerrissenen Jacken zusammengekrümmte Gestalten im Schlaf. - Die Stadt erwacht, die Straßen füllen sich mit Verkehr, die Maschinen in einer Spinnerei nehmen die Arbeit auf. -
Der Kameramann kommt ins Bild, schultert seinen Aufnahmeapparat, durchquert eine Halle und tritt durch eine Schwingtür auf die Straße. Er steigt in ein offenes Auto. - Der Mann mit der Kamera beginnt seine Arbeit. Trambahnen fahren aus ihren Unterkünften, Kohlenhauer schürfen Kohle, Fabrikmädchen bei der Arbeit - dazwischen Einblendungen, die den Kameramann zeigen, wie er aus verschiedensten Stellungen heraus seine Aufnahmen schießt.
Man sieht Passanten auf der Straße, Aufnahmen nur ihrer Beine, dazwischen ein Hund - mittägliche Arbeitspause, Erholung beim Bad an der Küste, Sportveranstaltungen. Der Kameramann erklettert einen Schornstein, um von der Höhe Aufnahmen zu machen. Gleichzeitig macht ein anderer Kameramann von ihm Aufnahmen. Zwischen Schienen wird eine Kamera befestigt, der Zug rollt darüber hinweg, gefilmt von der Kamera.
Die gefilmten Menschen erscheinen völlig normal in ihrem Benehmen vor der Kamera, aber sie wissen, daß sie gefilmt werden, und dem Zuschauer wird gezeigt, wie der Vorgang des Filmens vor sich geht. So wird z. B. ein Motorradfahrer gezeigt, darauf folgt eine Einstellung, die zeigt, wie der Kameramann ihn filmt, der seinerseits ebenfalls auf einem Motorrad seine Kamera befestigt hat. Dann folgt die gleiche Szene im Projektionssaal vor den Zuschauern.
Die Szene kommt zum Stillstand, die Schnittmeisterin prüft diesen Filmausschnitt und legt ihn als für in Ordnung befunden aufgerollt fort. Auf einer Leine hängen Filmstreifen schon bekannter Einstellungen und gleich darauf beginnt die Vorführung erneut. So wird der Zuschauer immer wieder mit der Technik der Durchführung konfrontiert. Der Film zerstört die eigene Illusion.
Aus: Dsiga Wertow' Aufsätze, Tagebücher, Skizzen zusammengestellt und eingeleitet von Sergej Drobaschenko, Moskau 1966.
.
„Der Mann mit der Kamera"
Die Arbeit am Film „Der Mann mit der Kamera" verlangte mehr Kraftanstrengung als die vorhergegangenen Arbeiten des „Kinoglas". Das erklärt sich sowohl durch die große Anzahl von Stellen, die sich unter Beobachtung befanden, wie auch durch schwierige organisatorische und technische Operationen während der Aufnahme. Außerordentliche Kraftanstrengungen verursachten die Montageexperimente. Montageversuche wurden unaufhörlich durchgeführt . . .
Der Film „Der Marin mit der Kamera" ist geradlinig, erfinderisch und widerspricht scharf der Losung des Verleihs: „Je schablonenhafter, desto besser." Es ist dieser letzte Umstand, der uns, den Mitarbeitern an diesem Film, trotz der großen Erschöpfung nicht erlaubt, an eine Ruhepause zu denken.
Wir müssen die Verleiher zwingen, bei diesem Film von ihrer Losung abzugehen. „Der Mann mit der Kamera" braucht einen maximal erfinderischen Einsatz. In Charkow hat man mir die Frage gestellt: „Wie kommt denn das, Sie - ein Anhänger pathetischer Zwischentitel . . . und plötzlich ,Der Mann mit der Kamera1 - ein Film ohne Worte, ohne Zwischentitel."
Ich habe geantwortet: „Nein, ich bin kein Anhänger pathetischer Zwischentitel und überhaupt kein Anhänger von Zwischentiteln - das ist eine Erfindung von einigen Kritikern!"
Tatsächlich hat die Gruppe „Kinoglas" nach dem Verzicht auf Filmatelier, Schauspieler, Bühnenbilder und literarisches Szenarium einen Kampf um die endgültige Säuberung der Filmsprache, für ihre völlige Trennung von der
Sprache des Theaters und der Literatur geführt. So sind in „Ein Sechstel der Erde" die Zwischentitel sozusagen aus dem Film ausgeklammert und als kontrapunktisch gebautes Wort-Radio-Thema herausgehoben worden.
„In ,Das elfte Jahr' ist den Zwischentiteln außerordentlich wenig Platz eingeräumt worden (ihre bescheidene Rolle kommt auch in der graphischen Ausführung der Zwischentitel zum Ausdruck) - so wenig, daß Zwischentitel ohne jegliche Einbuße an Wirkungskraft des Filmes entfernt werden können." („Kinofront", 1928, No. 2)
Somit ist das völlige Fehlen der Zwischentitel in dem Film „Der Mann mit der Kamera" nichts überraschendes, sondern durch alle vorangegangenen Versuche des „Kinoglas" vorbereitet.
Der Film - eine theoretische Stellungnahme (in Charkow und Kiew)
Der Film „Der Mann mit der Kamera" ist nicht nur ein praktischer Auftritt, sondern gleichzeitig auch eine theoretische Stellungnahme auf der Bildwand. Offenbar deshalb trugen auch die Dispute über ihn in Charkow und Kiew den Charakter eines erbitterten Gefechts zwischen Vertretern verschiedener Richtungen der sogenannten „Kunst".
Dabei wurde der Streit auf mehreren Ebenen zugleich geführt. Die einen sagten, „Der Mann mit der Kamera" sei ein Versuch visueller Musik, ein visuelles Konzert. Andere betrachteten den Film vom Gesichtspunkt einer höheren Mathematik der Montage. Dritte verwiesen darauf, dies sei nicht das „Leben, wie es ist", sondern ein Leben, das sie so nicht sähen usw.
Indessen ist der Film nur die Summe der auf Film fixierten Fakten, oder, wenn Sie wollen, nicht nur die Summe, sondern auch das Produkt, „die höhere Mathematik" der Fakten. Jeder Summand oder jeder Multiplikator ist nur ein einzelnes kleines Dokument. Die Dokumente sind miteinander verbunden, im Hinblick darauf, daß einerseits nur diejenigen Sinnverkettungen von Teilstücken untereinander im Film verbleiben, die mit den visuellen zusammenfallen, daß andererseits diese Verkettungen des Behelfs der Zwischentitel entbehren könnten, und daß endlich drittens: die allgemeine Zusammenfassung all dieser Verkettungen als unzertrennliches organisches Ganzes sich darstellt.
Dieses schwierige Experiment, das die meisten Genossen, die sich bis jetzt geäußert haben, als gelungen anerkennen, führt uns erstens endgültig aus der Vormundschaft des Theaters und der Literatur heraus und konfrontiert uns mit einer hundertprozentigen Kinematographie und setzt zweitens das „Leben, wie es ist" vom Gesichtspunkt des mit der Filmkamera bewaffneten Auges (des „Kinoglas"), scharf dem „Leben, wie es ist" vom Gesichtspunkt des unvollkommenen menschlichen Auges, entgegen.
.
Kinoglas - Filmauge
„Kinoglas" stellt eine Wochenschau dar, in der Wertow verschiedene Themen in bezug zueinander stellt. Er benennt sie wie folgt:
- 1. Das „Neue" und das „Alte"
- 2. Kinder und Erwachsene
- 3. Genossenschaft und Markt
- 4. Stadt und Land
- 5. Thema des Brotes
- 6. Thema des Fleisches
- 7. Das große Thema: Selbstgebrannter Schnaps - Karten - Bier - dunkles Geschäft - die „Jermakowka" - Kokain - Tuberkulose - Wahnsinn - Tod.
„Kinoglas" ist „das überrumpelte Leben". Ausschnitte des täglichen Lebens, die jedermann geläufig sind, dienen Wertow als Ausdrucksmittel, um die Ideale der neuen Zeit den Menschen zu verdeutlichen. Junge Pioniere und ihr kameradschaftliches Füreinandereinstehen, Lagerleben, Mithilfe bei der Ernte, Verteilung von Propagandamaterial - usw. werden dem Leben der älteren Bevölkerung gegenübergestellt.
Armut und Primitivität bäurischen Lebens - Menschen auf dem Wochenmarkt - ein Fleischer bei seiner Arbeit - Brotbäckerei - Männer im Wirtshaus - die Gefahren des Alkohols - Sanitätsdienst - Röntgenuntersuchungen - Tuberkuloseheilanstalten - Hilfe für Verunglückte - Errungenschaften der Technik: Unterricht über die Bedeutung der Elektrizität - Agitationsredner und Zuhörer - geselliges Leben auf dem Wochenmarkt: ein Grammophon spielt - eine Familie beklagt den Tod eines Mannes - Menschen, die an dem Leichenzug teilnehmen - alle diese Themen kehren in verschiedenen Montagen immer wieder, um so eindringlich auf den Betrachter zu wirken.
Die Bedeutung des Brotes für die Bevölkerung als Grundnahrungsmittel wird besonders durch Einschneiden von Negativmaterial hervorgehoben.
Rückverwandlung von Brot in den Ursprung Roggen - ausgeweidete Tierkörper führen zurück zum lebendigen Tier. Wertow läßt weiter bestimmte Filmteile rückwärtslaufen, um sie dem Gedächtnis besser einzuprägen. Zeitlupenaufnahmen und Tricks in ästhetischer Form haben die gleiche Bedeutung.
Wertow beschreibt das Prinzip des „Kinoglas": „... Die Auswahl der zu fixierenden Fakten wird dem Arbeiter oder Bauern die nötige Lösung geben. Auf dem Gebiet des Sehens: Die Fakten, die die Kinoki-Beobachter oder die Kino-Arbeiterkorrespondenten bringen, werden von den Schnittmeistern nach Anweisung der Partei organisiert, in maximal möglichem Umfang verbreitet und überall demonstriert ... Anstelle von Surrogaten des Lebens (Theateraufführung, Kinodrama und dgl.) vermitteln wir dem Bewußtsein der Werktätigen sorgfältig ausgewählte, fixierte und organisierte Fakten aus dem Leben der Werktätigen wie auch aus dem Leben ihrer Klassenfeinde. Eine optische („Kinoglas") und akustische („Radioucho") Klassenverbindung zwischen den Proletariern aller Nationen und aller Länder auf der Plattform der kommunistischen Dechiffrierung der Welt herzustellen - das ist unsere Aufgabe."
.