1972 - Ein Blick in die Arbeit der Regisseure - Heft 7
März 2025 - Duch Zufall sind wir auf dieses Heftchen aufmerksam geworden. Denn nach dem Drehbuch haben die Regisseure den meisten Einfluß auf den Erfolg eines Films, ob im Fernsehen oder im Kino. Der Regisseur baut sich in seinem Kopf "seinen" Film zusammen, wählt Schauspieler, Kameramann (oder -Frau), Requisiten und Drehorte aus - und wenn die Kosten klar sind, legt er los. Bislang liegt uns nur das Heft 7 einer kleinen Serie von Biografien vor. Die anderen Hefte suchen wir noch.
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Regisseur-Biographie "Jean Marie Straub"
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Filmographie:
1963 | MACHORKA MUFF (18 Minuten) |
1965 | NICHT VERSÖHNT (ca. 60 Minuten) |
1966 | CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH |
1968 | DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER (28 Minuten) |
1969 | OTHON |
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Biographische Daten:
Geboren 8. Januar 1933 in Metz, Abitur, 1950 bis 1955 Leitung eines Filmclubs in Metz, Studium in Straßburg und Nancy, 1954 nach Paris, hospitierte bei Abel Gance, Jean Renoir, Jacques Rivette, Robert Bresson, Alexandre Astruc, 1958 (Algerien) Wehrdienstverweigerung, Emigration nach Deutschland.
Jean Marie Straub schreibt zu seinen Daten folgendes: „Geboren unter Capricorn am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt Paul Verlaines („et si j'avais cent fils, ils auraient cent chevaux / pour vite deserter le sergent et l'armee") und getauft auf den Namen eines der allerersten Militärdienstverweigerer (Jean Marie Vianney, Pfarrer von Ars) in dem Jahr, als Hitler an die Macht kam.
... bis 1940 nur französisch gehört, gelernt und gesprochen - zu Hause und draußen. Und auf einmal darf ich draußen nur noch deutsch hören und sprechen und muß es in der Schule (wo wie überall jedes französische Wort verboten ist) „direkt" lernen
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April 1945
... Nach der Befreiung Schüler bis zum 1. Abitur am Jesuiten-„College Saint- Clement" (dort lernte ich, daß Ungehorsam eine nicht nur poetische Tugend ist) und dann ein Jahr am staatlichen Lycee, 2. Abitur. Manifestation gegen die kümmerliche Programmierung der Filmtheater von Metz; erste Kontakte mit der französischen Polizei.
Von 1950/51 bis 1954/55 Leitung eines Filmclubs in Metz und zugleich Student an der Universität zu Straßburg (1951/52) und zu Nancy (1952/53 und 1953/54). November 1954: Ankunft in Paris mit dem Projekt einer abendfüllenden Filmbiographie: „Chronik der Anna Magdalena Bach"; algerische Revolution; Begegnung mit meiner Frau
... gucke ein wenig Gance (LA TOUR DE NESLE), Renoir (FRENCH-CANCAN, ELENA ET LES HOMMES), Rivette (LE COUP DE BERGER), Bresson (UN CONDAMNE A MORT S'EST ECHAPPE), Astruc (UNE VIE) beim Drehen zu.
Seit 1958 in Deutschland. Zunächst zwei Jahre auf Reisen - auf den Spuren J. S. Bachs.
1963: MACHORKA MUFF. 1965: NICHT VERSÖHNT ODER ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT.
1965/66: Zurück zur CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH. - Sonstige mögliche und unmögliche Projekte: MOSES UND AARON von Schönberg (im Freien und in Farben); DIE MASSNAHME von Brecht (ebenfalls im Freien); MARAT und DIE ERMITTLUNG von Peter Weiß; ein Film nach einem Mythos (erzählt von Levi-Strauß in le cru et le cuit): DIE GESCHICHTE VON ASARfi; ein Film über eine Putzfrau in München und die Komödie der deutschen Filmleute - nach eigenen Stoffen. - Was bedeutet es, Filme in Deutschland zu machen (das heißt gegen die Dummheit, die Denkfaulheit, die Verkommenheit, die, wie B. B. sagt, hier demonstriert werden)?
Hyperion würde antworten: verbluten; ich füge hinzu: Zunächst nicht erreichen können und dürfen die vielen, denen man Filme schenken möchte. Diese doppelte Antwort gilt auch für Peter Nestler und einige andere. Es wird sich aber ändern.
... Das reizt mich - und auch, als Franzose hier Filme zu machen, die kein Deutscher hätte machen können (etwa wie kein Deutscher GERMANIA ANNO ZERO und DIE ANGST hätte machen können, kein Amerikaner THE SOUTHERNER oder THE YOUNG ONE und kein Italiener LA CHARTREUSE DE PARME hätte schreiben können)." (Zitiert nach „fümstudio 48.")
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Straubs Filme - für solche, die nicht nur sehen und hören, sondern auch denken wollen
MACHORKA MUFF und NICHT VERSÖHNT sind Filme nach Werken von Heinrich Böll - ersterer nach dem HAUPTSTÄDTISCHEN JOURNAL; zweiterer nach BILLARD UM HALB ZEHN. - MACHORKA MUFF wurde von der Oberhausener Auswahlkommission abgelehnt, der Atlas-Verleih wollte ihn anfangs nicht ins Programm nehmen, ließ ihn dann aber doch im Beiprogramm von UNTER MEXIKOS SONNE laufen.
Straub zeigt hier einen Militaristen, den Oberst von Machorka Muff, der erleben darf, daß sein Lieblingsprojekt Wirklichkeit werden soll: Die Akademie für militärische Erinnerung, in der jeder ehemalige Soldat vom Major aufwärts Gelegenheit haben soll, seine Memoiren niederzulegen. Straub zeigt diesen Militär jedoch nicht satirisch wie in der literarischen Vorlage. Er läßt sich auch nicht auf Agitation, Bitterkeit oder Zynismus ein.
MACHORKA MUFF ist ein Film „für die vielen, die weder ,militaristisch' noch ,antimilitaristisch' sind". (Straub ist keineswegs so naiv, in einer Umgebung der Gewalt jegliche Gegengewalt abzulegen; er ist nicht jener Antimilitarist, als den ihn die meisten Kritiker deklariert haben.
Straub: „übrigens bin ich kein Pazifist. Ich wollte nur an einem gewissen Krieg nicht teilnehmen.(Anmerkung des Ttext-Autors : Als Straub 1958 in die Bundesrepublik Deutschland ging, um der Einberufung auszuweichen.) Als Algerier hätte ich nicht gezögert, an ihm teilzunehmen." Im übrigen ist Antimilitarismus, so Straub, „wie das Lachen, ein Narkotikum für Privilegierte".
MACHORKA MUFF ist kein Film (oder vielleicht gerade doch?!) für Leute, „die Pornographie erwartet haben und denen man eine Marmorvenus zeigt" (Straub). Den Begriff Pornographie in diesem Zusammenhang definierte er in einem Interview so: „Ich verstehe darunter zunächst Satire und dann alles das, was die Leute anspricht, was den Film aber zur Karikatur des Films macht. Daß man zum Beispiel keine Einstellung drehen kann, ohne einen Vordergrund kunstvoll einzubauen. Ich denke dann immer an eine Glasscheibe, hinter der sich alles abspielt. Diese Glasscheibe will ich zersplittern, sprengen.
Nehmen sie MACHORKA MUFF. Man hat mir entgegengehalten, das sei keine Satire; ich hätte keinen Militaristen gezeigt, sondern einen Militär. Ein Militarist ist jedoch ein Klischee. Auf einem Klischee läßt sich kein Film aufbauen. Und ein Militär ist eine Wirklichkeit.
Für mich war Erich von Machorka Muff zunächst ein sentimentaler Bürger, ähnlich dem General Massu, der die Folter selbst ausprobierte, um sein Gewissen zu beruhigen. Ich konnte nun keinen wirklichen Militär nehmen; das wäre nach drei Minuten langweilig geworden. Andererseits durfte ich auch keinen Schauspieler nehmen, weil ein Schauspieler versucht hätte, entweder einen Militaristen oder einen solchen Militär darzustellen.
Die Wirklichkeit wäre von vorneherein vergewaltigt worden, denn ich hätte bestenfalls einen Militär, dargestellt von einem Schauspieler, erhalten. Das wäre jedoch eine Karikatur gewesen."
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Atmosphäre anstelle von Schauspielkunst
Hier spricht Straub ein anderes Charakteristikum seiner Filme an: Vorwiegend mit Laiendarstellern zu arbeiten. Er benutzt sie dabei jedoch nicht als Material - das ginge mit gelernten Schauspielern besser und leichter -, sondern möchte, daß „sie sich selbst entdecken" in ihrer darzustellenden Rolle, wobei sie die Kamera vergessen sollen.
Straub geht es dabei „um einen gewissen Automatismus, andererseits um Freiheit, menschliche Freiheit". Es kommt ihm darauf an, die angelernte „Schauspielkunst" zu eliminieren, um an deren Stelle eine Atmosphäre zu setzen, die nicht vorgemacht, nicht präpariert ist wie bei Berufsschauspielern.
Der Vergleich mit Bresson ist hier (aber nicht nur hier) sehr nahe. (Straub nennt ihn seinen Meister.) Auch Bresson nimmt vorwiegend Laiendarsteller für seine Filme, um durch sie jenen Theater-Attitüden, jener Theater-Sprache zu entgehen. Der Tonfall der Darsteller in den bisher üblichen Filmen beruht nach Meinung Bressons (und auch Straubs) auf gelernten und somit gekünstelten Gefühlen.
Spricht Straub oben von einem „gewissen Automatismus", so meint Bresson das Gleiche, wenn er eine Mechanik in der Sprache erreichen will:
„Ich bringe meinen Darstellern bei, den Text rein mechanisch zu sagen, wie ein Pianist eine Klavierübung macht, damit er, sobald sie vor der Kamera stehen, mechanisch empfunden wird und den Effekt erzielt, der auf der Leinwand sichtbar werden soll, und den ich als die Substanz des Films betrachte ... es geschieht genau das, was mit einem Virtuosen, mit einem großen Pianisten geschieht. Alle Gefühle kommen aus der Mechanik und aus der Zurückhaltung und nicht aus einer künstlichen Erregung, wie sie die Theater-Schauspieler ihrem Text geben."
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Der Zuschauer soll während dieser Filme denken ....
Mit der Liquidierung des künstlichen, mit der konsequenten Absage an den Illusionseffekt erzielen Bresson wie Straub eine Distanz des Zuschauers, die es ihm erlaubt, während dieser Filme wirklich zu denken, zu assoziieren. Und durch die Assoziationen wird der Abstand auf rationaler Ebene wieder reduziert, das Geschehen transparent gemacht und für den Betrachter mittelbar einsichtig.
Noch intensiver fortgeführt wird diese Intention in Straubs zweitem Film NICHT VERSÖHNT, bei dem so viele begriffsstutzige Kritiker ihren Vorwurf des Dilettantismus von MACHORKA MUFF erneuerten. Der Vorwurf fällt auf den Erzeuger zurück; auf dessen Art, Filme zu sehen.
„Die Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit von Straubs Film hängt ab (...) von der Position des Zuschauers zu ihnen (Anmerkung: Den Filmpersonen und ihren Situationen), von seiner Reaktionsfähigkeit und Sensibilität und vor allem von seiner Bereitschaft, auf bestimmte Zeichen zu antworten." (Gräfe) - Die Weise, in der Straub den Böll-Roman in visuelles und akustisches umsetzt, provoziert den bereitwilligen Kinobesucher zu geistiger Aktivität - viel stärker als es die pseudo-realistischen Filme je vermöchten.
„Er (Straub) bedient sich der Fiktion, um immer wieder auf die Realität zurückzuführen, für die man sich plötzlich mithaftbar fühlt, und man schämt sich geradezu, daß man beim Lesen des Böll-Romans für Augenblicke berechtigt sich fühlte, einen kritischen Blick auf Deutschland zu werfen, ohne sich selbst als betroffener Deutscher zu fühlen." (Gräfe)
Diese Art zu filmen ist dazu prädestiniert, geistige Reflexionen zu evozieren, indem sie auf rationaler Ebene Stimmungen, Atmosphäre schafft. Diese Filme verhindern jede einlullende Konsumtion. So ist es Straub auch gelungen, NICHT VERSÖHNT von Weitschweifigkeit, Anekdotischem und Sentimentalität zu befreien, indem er die literarische Vorlage auf ein „sehr konzentriertes Handlungsgerüst reduziert" (Schütte) und die Geschichte der Fähmelfamilie chronologisch geordnet hat.
Straub: „Ich glaube, daß der Film trotzdem komplizierter als der Roman ist, weil der Roman aus Wiederholungen besteht und Details aus verschiedenen Gesichtspunkten behandelt; ich habe bewußt Lücken gelassen, Vorgänge nur einmal erzählt, wie die Sache mit dem Schuß. Auf der anderen Seite ist die Chronologie viel linearer als im Roman. Mir ging es um eine moralische, d. h. auch politische Rreflexion."
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ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT
Auf das politische weist in diesem Film bereits der Titel NICHT VERSÖHNT oder ES HILFT NUR GEWALT, WO GEWALT HERRSCHT (Brecht) hin. Die dritte Generation der Kölner Bürgerfamilie und mit ihr die bundesrepublikanische Nachkriegsgeneration sind jene, die nicht versöhnt sein können; denn selbst ein so total verlorener Weltkrieg liquidiert nicht automatisch jenes Bewußtsein eines ganzen Volkes, das mit ungeheurem emotionalen Aufwand und ebensolcher Aktivität der Idee des Nationalsozialismus, einem intensiven Faschismus gehuldigt hat.
Und Straub zeigte bereits in seinem ersten Film, daß solche Leute wie Machorka Muff die Szene längst wieder beherrschen. Erst eine rationale, grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Formationen kann versöhnen.
Daß das emanzipierte Menschen bedingt, ist klar; Straub weist für das Medium Film per Film einen dezidierten Weg, wie der Zuschauer von seiner gewohnten Rolle als Objekt befreit und zum Subjekt, d. h. zum erkennenden Ich werden kann. Wie wenig das in der Bundesrepublik Deutschland nach der Erstaufführung von NICHT VERSÖHNT kapiert wurde, beweisen diverse Kritiken. -
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Wenn der Staatsanwalt droht ....
Und nun auch noch vom Inhaber an den Rechten der literarischen Vorlage, dem Kölner Verleger Witsch, mit dem Staatsanwalt bedroht - (der die einzige Kopie einziehen und vernichten lassen wollte) -, von Heinrich Böll dagegen anfangs bei seiner Filmarbeit begünstigt, später jedoch die Sympathien einschränkend (Straub: „Er sagte mir, wenn Realismus, dann so, wie sie es machen. Aber was man angreifen kann, ist ihr Begriff von Realismus.") war Straub dazu verurteilt, weiterhin zu versuchen, im Untergrund zu existieren.
Daß Straub dort nun ein so totales Werk wie die CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH schaffen konnte, läßt wieder daran erinnern, daß ein ganzer Industriezweig, d. h. die Filmindustrie mit hilfloser Impotenz geschlagen ist; denn sie hat trotz der ihr zur Verfügung stehenden riesigen Auswahl an Mitteln nichts Vergleichbares produziert.
- Anmerkung : Das konnte oder könnte fast ein Ausspruch von Will Tremper gewesen sein, der auch öfter mit dem Staatsanwalt kämpfen musste.
- Straub begann diesen Film 1966 unter den gewohnten Schwierigkeiten zu drehen, nachdem er ihn mehrmals hatte verschieben müssen; projektiert hatte er diese Filmbiographie bereits 1954).
Er vollendete einen „Film zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zugleich ein Liebesfilm" (Straub); eine Hommage an die Musik Bachs. Straub: „Ausgangspunkt für unsere CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH war die Idee, einen Film zu versuchen, in dem man Musik nicht als Begleitung, auch nicht als Kommentar, sondern als ästhetische Materie benutzt."
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Musik als ästhetische Materie
Und diese Musik als ästhetische Materie muß, um hier naheliegenderweise wieder Robert Bresson zu zitieren, „eine Musik der Verwandlung sein". Visuelles und akustisches (Dialoge, Geräusche, Musik) sollen aufeinander einwirken und sich gegenseitig verwandeln. Bresson: „Dinge existieren nicht in sich selbst. Erst die Bezüge schaffen siel" Straub schafft einen direkten Bezug, wenn er Darsteller in seinem Bach-Film agieren läßt, die Musiker sind.
Die Musik, die man hört, spielen sie vor der Kamera; sie arbeiten vor der Kamera. Kein Musikfilm; was bedeutet, daß Musik und Wort gleichrangig verwandt worden sind. „In welcher Weise soll dieser Film MACHORKA MUFF und NICHT VERSÖHNT fortsetzen? über das Drehbuch berichtete ein deutscher Dramaturg schon Anfang 1959 einem deutschen Produzenten:
„... weil an das Aufnahmevermögen der Zuschauer durch Parallelführung von Bild, anspruchsvoller Musik und erklärendem Kommentar hohe Anforderungen gestellt werden, zudem Bild, Musik und Wort zwar virtuos aufeinander abgestimmt sind, im einzelnen jedoch einer selbständigen Führung folgen; weil selbst in der szenischen Heraufbeschwörung von Vorfällen aus Bachs Leben die emotional ansprechenden Momente in der Aufreihung der ,Tatsachen' untergehen (dabei fehlt es nicht an Ereignissen, die potentiell emotional wirken können - jedoch werden diese Szenen ,neutralisiert'); weil nicht das visuelle Element den wesentlichen Gestaltungsfaktor abgibt, sondern das akustische und zwar nicht vorrangig die Musik, sondern gleichrangig Musik und Wort (dabei handelt es sich nicht um eine gefühlsgeladene, expressive Sprache, sondern um eine erklärende, mitteilende, informierende, die nicht das Gefühl, sondern den Verstand anspricht); weil das Bild nur in wenigen Fällen ,erzählt' oder unmittelbar und primär mitteilt..." (Siehe „Filmstudio 48", S. 10)
Straub und seine Mitarbeiter „haben immer weiter radiert, bis wir keine Szenen, keine Episoden mehr hatten, sondern nur, was Stockhausen ,Punkte' nennen würde. Alles, was außer der Ausübung von Musik gezeigt wird, sind ,Punkte' aus Bachs Leben".
Benutzt wurden Texte von Bach selbst, Sätze aus seinen Briefen und aus dem Nekrolog, den Philipp Emanuel in Bachs Todesjahr geschrieben hat. Diese Texte spricht im Film Anna Magdalena. Sie erzählt die Geschichte ihres Mannes - geprägt von ihrem Bewußtsein." Straub über Bach: „Bach ist für mich eine der letzten Figuren der deutschen Kulturgeschichte, bei denen noch nicht geschieden ist, was man Künstler und Intellektueller nennt; bei ihm findet sich keine Spur von Romantismus -- man weiß, was zum Teil aus dem deutschen Romantismus kam; bei ihm bestand Überhaupt keine Trennung zwischen Intelligenz, Kunst und Leben, auch kein Konflikt zwischen „weltlicher" und „geistlicher" Musik, bei ihm war alles auf einer Ebene.
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Die Geschichte eines Menschen, der kämpft
Für mich ist Bach das Gegenteil zu Goethe. - „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht", der Satz von Brecht, den ich als Untertitel für NICHT VERSÖHNT genommen habe, könnte genauso auch als Titel für den Bachfilm gelten.
Der Film erzählt die Geschichte eines Menschen, der kämpft. Er wartet, in den Situationen, in denen ich ihn zeige, immer bis zur letzten Minute, ehe er reagiert, bis die Situation ganz von der Gewalt der Gesellschaft, in der er lebt, erfüllt ist, dann erst reagiert er, weil er, wie jeder Mensch, faul ist, weil die alltägliche Gewalt, die man braucht, um nicht jeden Tag zu resignieren - ich meine nicht gesellschaftlich, sondern überhaupt - eine große Energie erfordert. Er hat nicht gegen die kapitalistische Gesellschaft zu kämpfen, wie der Satz von der heiligen Johanna der Schlachthöfe gemeint ist - aber wer weiß ... (...) die Dialektik zwischen - das Wort Resignation wäre nicht das richtige - Geduld und Gewalt steckt in der Kunst von Bach selbst, das wird zum Beispiel deutlich in der Kantate Nummer vier, „Christ lag in Todesbanden", das steckt in der Kunst von Bach, aber nicht nur in den Texten seiner Kantaten, sondern auch in der Musik." (Siehe „Filmkritik" 11/66, S. 610)
DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER
Wovon Straubs darauffolgender 28-minütiger Film handelt, steht bereits in dessen Titel: DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER. Die erste Einstellung, über der der Vorspann erscheint, zeigt auf eine Schreibunterlage gekritzelte Schriften; u. a. „stupid old germany I hate it over here I hope I can go soon"; in der zweiten Einstellung fährt die Kamera bei Nacht 4 Minuten 23 Sekunden lang die Landsberger Straße in München entlang; die dritte (aber nicht letzte) Einstellung schließlich filmt in der Totale drei Akte in einer Theaterdekoration hintereinander weg.
Diese ersten drei Sequenzen verweisen auf die Titelfiguren: Der Bräutigam, ein Neger, dessen Schwierigkeiten mit einem weißen Mädchen zusammenzuleben die in das Holz eingeritzten Zeilen inkarnieren, die Komödiantin, deren Milieu die Theaterdekoration evoziert und der Zuhälter, auf den die Landsberger Straße, auf der die Prostituierten sich aufhalten, hinweist.
James, dem Farbigen gelingt es, Lilith, die Komödiantin zu heiraten. Doch danach taucht Freder, der Zuhälter, den man mit Lilith und anderen zusammen in dem Theaterstück hat sehen können, auf und will, mit der Pistole drohend, das Brautpaar auseinander bringen. Lilith jedoch schießt auf Freder. Der Schuß bedeutet aber keine Befreiung; keine Erlösung von „dem heftigen Liebesdurst", den sie verspürt.
Vielmehr deckt er die Unmöglichkeit auf, zu „lieben wie ich möchte" (Lilith). Lilith: „Mein Herz aus Lehm, das nicht erträgt Hitze, noch dauert mehr als die Blume des Feldes, die während sie blüht in der Luft welkt und fällt; wie jemals könnte es brennen so sehr, daß stiegen seine Funken wie es möchte bis zu den hohen Gipfeln jenes ewigen Vaters der Lichter."
Während dieser Worte zoomt die Kamera an Lilith (die an einer Tür, die zu einem Garten hin geöffnet ist, lehnt) vorbei auf einen Baum, dessen Blätter der Wind bewegt. Auf diese großartige letzte Szene trifft genau das zu, was Wim Wenders (in „Filmkritik" 6/70, S. 292) geschrieben hat: „Es gibt Augenblicke in Filmen, die ganz plötzlich so unerwartet deutlich und zum überlaufen konkret sind, daß man den Atem anhält oder sich aufrichtet oder sich die Hand vor den Mund schlägt."
Konzentration auf eine wahrere Realität
Straubs formale Askese, die aber gerade eine Dichte an Eindrücken beim sensiblen Betrachter provoziert, ist im Grunde nicht beschreibbar - man muß sie erfahren. Es macht Spaß und stiftet zum assoziieren an, wenn einem Straub, wie bei folgenden zwei Szenen, die Leinwand überläßt:
Wo andere das dramatische Ja-Wort zeigen, zeigt Straub den vollständigen Ritus der kirchlichen, katholischen Trauung; - wo andere das Um-die-Ecke-Biegen des Wagens zeigen, sieht man bei Straub einen weißen Punkt von weitem langsam näher kommen, dabei die konkrete Gestalt eines Automobils annehmend. - Man kann nicht nur die Höhepunkte wahrnehmen, sondern auch deren Vorbereitungen; oft aber verweigert Straub die Höhepunkte ganz, - man kann sich nach entsprechender Einleitung denken, was kommt; man kennt es aus tausend anderen Kinostücken.
Konzentration auf eine wahrere Realität, die eben nicht (nur) aus Höhepunkten sich zusammensetzt. Im Gegensatz dazu die Intention der US-Brüder Kuchar, deren synthetische (Underground-)Filme eine Ansammlung von plakativen Kino-Katastasen bilden und die damit bezeichnenderweise große Publikums- und folglich kommerzielle Erfolge haben!
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Im Frühjahr 1969 gehts nach Italien
Nach dem Film DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER ging Straub im Frühjahr 1969 nach Italien. Er habe, so teilte er mit, in der Bundesrepublik Deutschland nicht von seiner Filmarbeit leben können.
Abgesehen davon sei Italien vorläufig das einzige Land, das für ihn mit einer politischen Hoffnung verbunden sei. - Wie übel man Straub mitgespielt hat, beschreibt Helmut Färber (im kfd 48/1969): „Für die CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH haben Straub und seine Frau keine Gage bekommen; aber der Produzent Seitz verdiente daran. Seitz hat jetzt groteskerweise erreicht, daß Straub eine Lavendel-Kopie (das ist eine Positiv-Kopie, von der man wieder gute Negative ziehen kann) vorenthalten wird, die er schon bezahlt hat. Und der Mitproduzent der CHRONIK, das Kuratorium junger deutscher Film, das die Rechte des Autors wahrnehmen sollte, hat nichts dagegen getan."
Im September 1969 begann Jean Marie Straub zusammen mit seiner Frau Daniele Huillet in Rom mit den Dreharbeiten zu seinem Film OTHON, den er aufgrund einer 10-000-DM Spende der Mannheimer Bürgerschaft in Farbe aufnehmen konnte.
Der Film ist nach dem Stück „Othon" von Pierre Corneille gemacht: „Les yeux ne veulent pas en tout temps se fermer - ou: peut-etre qu'un jour rome se permettra de choisir a son tour" - das ist, wörtlich behelfsweise übersetzt: „Die Augen wollen nicht allzeit sich schließen - oder: Vielleicht, daß eines Tages Rom sich erlaubt zu wählen, da die Reihe an ihm ist."
Das Stück ist von 1664, kaum aufgeführt und noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. (Färber) Marcus Salvius Otho war römischer Kaiser im Jahr 69 nach Christus. Der Film ist am wirklichen Schauplatz der Handlung aufgenommen, auf dem Palatin.
Straub dazu: „Ich mache den Film, um den Leuten Corneille zugänglich zu machen, der von ihnen geistige Gymnastik erfordert. Und das ist wichtig für das Bewußtsein der Leute." - Produzent ist Klaus Hellwig (Janus-Film), Straub ist Co-Produzent und konnte sogar erreichen, daß der Film nur in der Originalfassung (Untertitel) in andere Länder verkauft wird. „Darauf bin ich sehr stolz", sagte er, „denn bisher hat sich kein Mensch um das Schicksal seiner Filme gekümmert." Straubs OTHON lief vor kurzem beim Festival in Cannes.
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Literaturhinweise
- Filmkritik 1/64, S. 36
- Filmkritik 7/65, S. 424
- Filmkritik 8/65, S. 474
- Filmkritik 2/66, S. 65 ff. (Filmtext von NICHT VERSÖHNT)
- Filmkritik 3/66, S. 143 ff.
- Filmkritik 11/66. S. 607 ff.
- Filmkritik 8/68, S. 528 f.
- Filmkritik 10/68, S. 681 ff. (Filmtext von DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖ-
- DIANTIN UND DER ZUHALTER); 688 ff.; 695 ff.; 703 ff.
- Filmkritik 5/69, S. 313 ff.
- Film 4/68, S. 25 ff.; 27; 28
- Film 5/68, S. 30 f.
- Film 1968, S. 120 ff.
- Filmstudio 47, S. 50 ff.
- Filmstudio 48, S. 2 ff.
- efb 1969, S. 125 ff.
geschrieben von Michael Krey, Mai 1970