Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.
In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.
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Die Macht des Zufalls
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Der Weg zurück in die »BZ«
Ich kam aus dem »Weißen Mohr« an der Ecke Joachimstaler-Augsburger Straße, jener damals lebendigsten Kneipe Berlins, die seit ihrer Eröffnung 1952 noch nicht geschlossen hatte, in der ich sogar schon mal einen Heiligabend, in einer Ecke pennend, erlebt hatte.
Ich kam aus dem Weißen Mohr und ging automatisch quer über die Straße, auf den großen Kiosk an der Ecke Kudamm-Joachimstaler zu, an dem ich mich täglich mit den neuesten Zeitungen eindeckte.
Ich erzähle das so detailliert, weil es der Weg zurück zur Zeitungsarbeit wurde, den ich da beschritt, obwohl mich Ernstl Neubach im Cafe Bristol erwartete - ich sollte ein Drehbuch mit ihm über den Hannoveraner Massenmörder Hamann schreiben, aber Kriminalgeschichten langweilten mich eher.
Weil ich, am Zeitungskiosk stehend, ein menschliches Rühren verspürte und die Treppe zum Pissoir hinter dem Kiosk hinabstieg, vergingen noch zehn Jahre, bis ich mit Neubach zu arbeiten begann.
Ich war immer fasziniert von Zufällen ....
Ein Zufall mischte sich wieder einmal in mein Leben. Ich bin, solange ich denken kann, fasziniert gewesen von den Zufällen, die Karrieren bestimmen, jäh verändern, in Sackgassen oder auf ungeahnte Höhen führen können.
Ja, ich habe sogar jahrelang Material gesammelt über den Zufall, der Schicksal spielt - nur um zu erleben, daß jedesmal, wenn ich über den Zufall in der Weltgeschichte schreiben wollte, ein neuer Zufall mich am Schreiben hinderte.
Der gute alte Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister, muß mich für meschugge gehalten haben, weil ich immer, wenn ich ihm begegnete, mit der gleichen Fragerei begann:
»Was wäre denn geschehen, wenn Sie damals, auf dem Weg zu den Masurischen Seen, auf dem Bahnhof Friedrichstraße nicht aus dem D-Zugfenster geguckt hätten? Ihr Studienfreund, der über den Bahnsteig lief und "Herr Architekt Speer aus Mannheim" rief, hätte einen anderen Architekten für den Umbau der Gauleitung Berlin finden müssen! Sie hätten nicht am gleichen Abend noch Hitler erlebt, wären in die ganze Geschichte nicht involviert worden, hätten nicht zwanzig Jahre in Spandau gesessen - unglaublich!«
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Weitere Zufälle ...
Oder diese andere Zuggeschichte von Ernst Neubach auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, die auch ihn, weil er zufällig aus dem Fenster blickte, mit einem Schlag berühmt gemacht hatte!
Warum war Hitler sieben Minuten zu früh aus dem Bürgerbräukeller aufgebrochen? Warum hatte der alte deutsche Diplomat ausgerechnet vor dem Schaufenster von Marquardt & Co. auf den Champs Elysees haltgemacht?
Warum blieb Chris Baatz vor dem Schaufenster von Mahlmeister stehen? Warum stieg ich an der Grünfeld-Ecke, wie die südliche Seite der Kreuzung Kudamm-Joachimstaler nach einem alten jüdischen Modehaus immer noch genannt wurde, die Treppe zur unterirdischen Pinkelbude hinab?
Warum stellte ich mich neben einen Mann an die Wand, der auch mich erst ansah, als wir beide am Ende unseres »Geschäfts« den bekannten Knick in den Kniekehlen machten?
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Karl-Heinz Hagen in der Pinkelbude . ruf doch mal an ....
Das war Karl-Heinz Hagen, früher bei dem Magazin »sie«, mein alter Kumpel aus Zehlendorf. Er sagte: »Hallo, Bill! Wie geht's denn?«
Und ohne Umschweife: »Ruf doch morgen mal bei der >BZ< an, vielleicht werde ich Chefredakteur!« Und schon war er wieder verschwunden.
Und gleich fällt mir der Zufall auf der anderen Toilette, im »Palace« in St. Moritz mit Romy Schneider ein ......
Aber nein, wir sind in der letzten Novemberwoche 1953, die BZ ist am 19. November zum ersten Mal nach dem Krieg wieder erschienen und hat einen matten Start gehabt: Verleger Heinz Ullstein muß Karl-Heinz Hagen schon nach drei Tagen um Hilfe bitten, weil das mit Wilhelm Schulze, der auch die »Morgenpost« leitete, überhaupt nicht funktionieren wollte.
Am fünften Tag war Karl-Heinz Hagen als neuer Chefredakteur engagiert und machte die »BZ« nach seinen Vorstellungen - und schon belebte sich das Blatt, die Auflage kletterte kontinuierlich. »Ist doch klar!« schwadronierte ich, »weil du mich dazugeholt hast!«
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Nov. 1953 - Die Ära Riess war damit endgültig beendet.
Zuletzt hatte ich ihm noch das Material für einen »Schnellschuß« über den 17.-Juni-Aufstand geliefert, dann war er in die Schweiz gezogen. Seitdem krebste ich mit windigen Aufträgen für westdeutsche Illustrierte herum, die nur ungern zahlten, wie »mein Agent«, der Herr Rentz aus Frankfurt, mir larmoyant versicherte, während ich mal hier, mal da versuchte, selbst eine Serie unterzubringen.
Erst durch Karl-Heinz Hagen kam ich ordentlich wieder auf die Füße. Zwar gab es keine feste Anstellung, was mir nur lieb war, aber so etwas wie einen »festen freien« Job. Ich hatte meinen eigenen Schreibtisch und erschien täglich zwischen zehn und elf in der Redaktion, in meinem geliebten alten Druckhaus am Teltow-Kanal, in dem auch die Tagesspiegel-Redaktion noch saß.
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Wolfgang Menge, der Serien-Redakteur der "BZ" .....
Karl-Heinz stellte mich als erstes seinem Serien-Redakteur Wolfgang Menge vor - ja, derselbe, aus dem später der kahlköpfige Fernseh-Autor wurde. Auf den alten Fotos von damals würde ihn heute niemand mehr wiedererkennen, denn Wolfgang hatte richtig viel Haare auf dem Kopf, war ein sehr gutaussehender Typ, im Stil etwa mit dem späteren Robert Redford zu vergleichen - wer lacht da?
Für mich war so einer, der Pfeife rauchte, einen dröhnenden englischen MG fuhr, schon damals fabelhaft kochen konnte, mit Eartha Kitt ein Verhältnis gehabt hatte und gerade hinter einer Miss Germany her war, etwas Neues; wir verstanden uns auf Anhieb und verbrachen eine ganze Anzahl »BZ«-Serien zusammen.
Gleich die erste war so erfolgreich, daß Karl-Heinz an jedem Wochenende besorgt fragte: »Habt ihr genügend Material, um noch eine Woche dranzuhängen?«
Für dreihundert Mark täglich war meine Phantasie unerschöpflich, zumal die Serie hieß: »Als weiße Sklavin im Harem«. Wir haben uns ungeheuer "bemacht", der Wolfgang und ich - dreißig Tage lang.
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Die »Courbierestraße Nr. 6«, eine weitere Serie
Und an noch eine Serie erinnere ich mich, die viel Spaß machte, obwohl sie nicht ganz so einfach vom Schreibtisch aus zu fertigen war: »Courbierestraße Nr. 6«, die Geschichte eines durchschnittlichen Berliner Mietshauses von der Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre.
»Wir haben einfach den Finger auf den Stadtplan gelegt«, versicherte Wolfgang in der Ankündigung den Lesern, »und unter das Dach geschaut ...«
Reiner Zufall, daß die bekannteste Berliner Wahrsagerin Ursula Kardos in diesem Haus wohnte, daß mysteriöse Mordfälle ihre Schatten auf die Mieter warfen, geheimnisvolle Leichenteile im benachbarten Landwehrkanal gefunden wurden und gleich nach dem Bau des Hauses schon der Friseur im Erdgeschoß umgebracht worden war.
Als Leser monierten, das sei doch kein x-beliebiges Mietshaus, haben wir sie vom Gegenteil überzeugt und, mit Hilfe unseres ausgezeichneten Polizeireporters Ewe Wildberger, in jedem anderen Haus, das sie uns nannten, eine Schaurigkeit oder zwei gefunden.
»In Berlin«, hatte schließlich der berühmte Theodor Wolff schon festgestellt, »ist jeder Quadratmeter Geschichte!«
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Polizeireporter Ewe Wildberger
Polizeireporter Ewe Wildberger war der Sohn des schriftstellernden Journalisten Erich Wildberger, der den von mir heißgeliebten Berlin-Roman »Ring über Ostkreuz« geschrieben hatte.
Unser Filmredakteur hieß Oswalt Kolle, ein schöner Junge, der jedes Starlet beim Vornamen nannte. Dann gab es noch Henry Kolarz und später auch Günter Prinz und Horst Fust, und ein besonderes Schätzchen war Sportchef Ekkehard Reinke.
Unser Chefredakteur besaß eine natürliche Autorität und verstand es, seine Jungs zu motivieren; wir rissen uns ein Bein aus, um täglich vor Karl-Heinz Hagen zu glänzen.
Ich spielte den Libero, durfte mich auf allen Gebieten tummeln und verdiente zum erstenmal im Leben gutes Geld, und das auch noch regelmäßig. Aber wie das immer so ist, es reichte nicht vorne und nicht hinten.
Zum Glück hatte Karl-Heinz immer Verständnis für einen klammen Kollegen und einen »Blauen« zu verpumpen. Ich jammerte: »Als ich fünfzig Mark im Monat verdiente, in meinem ersten Jahr in Berlin, hat's nicht gereicht! Als ich fünfhundert Mark im Monat beim Tagesspiegel bekam, hat's nicht gereicht! Als ich bei Curt Riess auf runde zweitausend kam, hat's nicht gereicht! Und jetzt schreibe ich fünftausend zusammen, und es reicht immer noch nicht! Woran liegt das bloß?«
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Der »Telegraf« zahlote längst fünfzig Pfennige ... aber wie lange .....
Kajo Reutlinger verriet mir, daß der »Telegraf« längst fünfzig Pfennige für eine gedruckte Zeile löhnte - bei der »BZ« gaben wir uns noch mit fünfunddreißig zufrieden. Karl-Heinz meinte: »Wenn es den Telegraf < schon lange nicht mehr gibt, wird es die >BZ< immer noch geben!«
Wie recht er damit behielt. Aber mehr Zeilenhonorar konnte er auch nicht bewilligen: »Entscheidungen von so exemplarischer Bedeutung und existenzieller Tragweite hat sich der Verleger persönlich vorbehalten - aber ich melde dich gern bei Heinz Ullstein an!«
Ich lebte, wie immer, über meine Verhältnisse, war bei Hedda Adlon rausgeflogen und hatte ein modernes Dreizimmer-Appartement in dem stehengebliebenen Dreißigerjahreblock am Hohenzollerndamm 35-39 gemietet, der nicht zu Unrecht von den Berlinern »Die Stoßburg« genannt wurde und natürlich elegant möbliert werden mußte.
So faßte ich mir eines Tages ein Herz und ließ mich bei Verleger Heinz Ullstein anmelden.
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Die Vorgeschichte von Heinz Ullstein ... bis 1945
Heinz Ullstein, ein Enkel des Verlagsgründers Leopold, ist von den übrigen Ullsteins sein Leben lang nicht ernst genommen worden, weil er einen Hang zur leichten Muse kultivierte, sogar Schauspieler geworden war!
Aber in der Nachkriegszeit war Heinz, der Lebemann, gewiß der populärste Ullstein in Berlin, denn er hatte es fertiggebracht, die Nazis genauso zu ignorieren wie die Pflichten gegenüber der Familie, die 1934 gezwungen worden war, das riesige Verlagshaus zu verkaufen und außer Landes zu gehen.
Heinz Ullstein indes war in Berlin geblieben, nur relativ beschützt von seiner »arischen« Frau Anne und seinem berühmten Namen. Den gelben Judenstern am Revers, ließ er sich scheinbar gleichmütig zu Arbeitseinsätzen zwingen, zum S-Bahn-wagenwaschen am Lehrter Bahnhof, zum Kohlenausladen am Güterbahnhof Halensee.
Danach spazierte der einst so elegante Müßiggänger, verdreckt von oben bis unten, den Kurfürstendamm hinauf, und wenn er in den Vorgarten-Cafes Bekannte aus alten Zeiten sah, blieb er ostentativ stehen und betrachtete die ausgehängten Preislisten, als ob er, wenn er wollte, immer noch eintreten könnte.
Sein Drogist am Viktoria-Luise-Platz hatte auch im letzten Kriegsjahr noch ein Stück Yardley-Seife für den Gedemütigten, und die »Mieder-Else« von der Lei-La-Li-Bar in der Motzstraße stellte dem maroden Freier, wenn sie ihn über den Hof schleichen sah, ihr Zahnputzglas mit einer Daumenbreite Scotch ans Küchenfenster.
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Dann nach 1945 erfüllte sich Heinz Ullstein alle Träume
Nach dem Krieg dann erfüllte sich Heinz Ullstein alle Träume auf einmal, eröffnete am Nollendorfplatz ein imponierendes, aus einer zweistöckigen Bibliothek bestehendes Nachtlokal und brachte in Zehlendorf mit Ruth Andreas-Friedrich und Helmut Kindler die Frauenzeitschrift »sie« heraus.
Ohne diese Vorarbeit hätten die noch lebenden Ullsteins, da bin ich mir sicher, nicht so schnell ihren alten Besitz zurückbekommen, als sie nach der Währungsreform wiederkehrten.
Heinz war der Sohn von Louis Ullstein, dem Zweitältesten der fünf Söhne des Verlagsgründers Leopold. Die anderen vier hießen Hans, Franz, Rudolf und Hermann, und diese fünf Söhne waren es, die das Imperium schufen, den riesigen Zeitungs- und Buchkonzern, der bei Hitlers Machtantritt 15 Tages- und Wochenzeitungen, Fachzeitschriften und Monatsblätter mit einer Gesamtauflage von 4,3 Millionen Exemplaren herausbrachte, darunter die »Vossische Zeitung«, die »Berliner Illustrir-te« und die »BZ am Mittag«.
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Heinz Ullstein, der »Mißratene«
Schon in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren alle Nachkommen Leopold Ullsteins aus dem mosaischen Glauben geschieden und evangelische Christen geworden, und das betraf am Ende des Zweiten Weltkriegs nicht weniger als 98 oder 99 Kinder, Enkel und Urenkel - mit einer Ausnahme: Heinz Ullstein, der »Mißratene«.
Der konvertierte mitten im Krieg noch vom Protestantismus zum Katholizismus, seiner Frau Anne zuliebe. Und der war es auch, wie er 1947 schon Curt Riess erzählte, der gleich von den Amerikanern eine Lizenz für eine neue »BZ am Mittag« haben wollte, aber erst mal eine Frauenzeitschrift machen mußte.
Immerhin versetzte ihn das sogleich in eine bessere finanzielle Lage als alle anderen Ullsteins (»Ausgerechnet Heinz!« hörte ich Vetter Frederic später klagen).
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Der zum Preußen gewordene Franke Vater Leopold
Sein Vater Louis -»Louis Ferdinand!« nannte ihn Heinz stolz, denn so hatte ihn der zum Preußen gewordene Franke Leopold taufen lassen - sein Vater Louis Ferdinand also hatte die Idee für ein neuartiges »Boulevard«-Blatt gehabt, was 1904 noch nichts anderes hieß, als daß die Zeitung nicht im Abonnement oder am Kiosk, sondern von Zeitungsjungens auf den Boulevards verkauft werden sollte.
Die aus der Idee entstandene »BZ am Mittag« kostete fünf Pfennig und glänzte von Anfang an durch ihre Schnelligkeit, überholte bald sogar die auflagenstärkste »Morgenpost« und wurde zum Leib- und Magenblatt aller Berliner, was heißen soll, daß sie in allen Schichten gelesen und geliebt wurde, vom Generaldirektor bis zu seinem Chauffeur.
Die Gründerväter waren fünf Brüder der ersten Generation
Von den fünf Brüdern der ersten Generation nach Gründervater Leopold lebten bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nur noch drei: Franz, Rudolf und Hermann; die ältesten, Hans und Louis, waren schon in Berlin gestorben. Von den durch Zwangsverkauf erzielten Millionen durften die drei Lebenden nichts mitnehmen.
In 1961 hatte ich Rudolf Ullstein interviewt ....
Rudolf Ullstein, der 1964 als letzter in hohem Alter starb - ich glaube, er ist über neunzig geworden -, erzählte mir 1961 im Garten meines Dahlemer Hauses, daß er »mit fünf Märkern in der Tasche« 1938 in England ankam, und sein jüngster Bruder Hermann, der im Jahr darauf folgte, hätte nur »viere« in der Tasche gehabt.
Mit Rudolf Ullstein verband mich sein schwarzer Pudel »Krösus«. Ich hatte den kleinen alten Herrn schon ein paarmal im Ullstein-Haus in Tempelhof gesehen und ehrfürchtig angestarrt, aber als ich, bei den Endarbeiten an meinem ersten Film, mit meinem Produktionsleiter Heinz Karchow durch die schönste Berliner Straße Im Dol fuhr, wollte der wieder einmal »abkürzen« und bog in den Gadebuscher Weg ein.
Dort sah ich das Haus Nr. 5, ein flaches Gebäude mit tiefhängendem Dach und weißen Säulen vor dem Eingang, dessen Läden geschlossen waren. »Halt mal an!« sagte ich, sprang aus dem Wagen und ging in den Garten, das Tor war offen.
Und dort sah ich dann Rudolf Ullstein unter dem Apfelbaum stehen, noch ein bißchen kleiner geworden, und seinem »Herrn Krösus« zusehen, der schnüffelnd herumlief und hier und da das Bein hob. Ich stellte mich vor, er reichte mir ein
Kinderhändchen und sagte, er wohne auf der anderen Straßenseite, aber seinen Pudel ziehe es nun mal in diesen Garten hier, das Haus stehe leer, zum Verkauf - es war im März 1961, wie gesagt, und alles, was in Berlin noch was zum Verscherbeln hatte, entledigte sich seiner und haute in den Westen ab; das Ultimatum Chruschtschows steckte allen noch in den Knochen.
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Ich wollte jetzt mal angeben : Ich kaufe das Haus
»Heute«, gab ich groß vor Rudolf Ullstein an, »haben Sie Ihren Pudel zum letzten Mal hierher geführt! Ich kaufe das Haus, ich bin verliebt in seinen Anblick!« Der alte Herr kicherte und gab mir sogar die Adresse der Besitzerin.
Ich habe meine stolze Rede zwar nur halb wahr gemacht, das Haus am selben Tag für 125.000 DM von Otto Scheuermann erwerben lassen - zehn Zimmer, drei Bäder, zwei Garagen auf 3.500 Quadratmeter, das heute sechs Millionen kostet - , aber ich habe Rudolf Ullstein weiter seinen Pudel in meinen Garten pinkeln lassen.
Beim Abschied sagte er: »Sie erinnern mich an meinen ungeratenen Neffen Heinz, der kauft auch auf Pump ...« Er selber war da von anderem Schrot, hatte 1940 sein Hobby zum Beruf gemacht und in einer britischen Maschinenfabrik »auf Dreher gelernt«, hatte eine Nachtschicht nach der anderen geschoben, den ganzen Krieg hindurch, weil es dafür »fast zwei Pfund in der Woche mehr gab als in der Tagschicht«, bevor er nach Berlin zurückkehrte und, von einem zum anderen Tag, wieder Millionär wurde. 75 Jahre alt.
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Jetzt zu Heinz Ullstein ... er war natürlich vorgewarnt ....
Heinz Ullstein aber hatte sich gegen all die anderen Ullsteins durchgesetzt und war nun Verleger der »BZ« geworden. »Was wollen Sie eigentlich, Tremper?« fragte er mich, durch Karl-Heinz Hagen vorgewarnt, von der hohen Warte seiner sechzig Jahre herab.
»Wollen Sie Millionär werden?« Da ich ohne Zögern bejahte, schaute er mich genauer an, ließ das Theaterspielen und beugte sich über die Schreibtischplatte: »Wie alt sind Sie - fünfundzwanzig? Und Sie glauben noch immer, wenn Sie Millionär sind, haben Sie keine Sorgen mehr? Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen, mein Lieber?« Ich hatte überhaupt noch nichts sagen können, außer »Ja«.
Er kroch geradezu über die Schreibtischplatte, noch näher auf mich zu, und senkte seine Stimme bühnenwirksam, bis ein geheimnisvolles Krächzen daraus wurde:
»Ich wer' Ihnen mal was flüstern...! Mit 'ner Million auf dem Konto fangen Ihre Probleme überhaupt erst an!... Ihre Bank dreht Ihnen faule Aktien an! Ihre Mieter zahlen nicht mehr pünktlich, denn Sie haben's ja, glauben die! Sie haben die Steuerfahndung dauernd auf der Hacke! Jeder Kellner erwartet das dreifache Trinkgeld von Ihnen! Jeder Knallkopp«- meinte er mich damit? - »hält die Hand auf!
Beim Kaufmann müssen Sie jede Rechnung überprüfen! An der Tankstelle drehen sie Ihnen Super an, auch wenn Sie nur Gewöhnliches brauchen! Sie stellen fest, daß Sie auf einmal keine Freunde mehr haben! Den Mädchen können Sie auch nicht mehr trauen! Wenn Sie Urlaub machen, Gott behüte, werden Sie schon scheel angesehen! Die Verwandten stehen Ihnen dauernd auf der Matte! Der Neffe braucht 'ne teure Zahnspange und die Tante 'ne kostspielige Kur! Und trotzdem sind Sie der bestgehaßte Mann in der Straße! ... Ein Millionär? Ein armer Hund sind Sie!«
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Nichts Dümmeres als ein toter Millionär
Er hatte sich in Rage geredet, war aber noch nicht am Ende seiner Ausführungen, sondern lehnte sich zurück, legte die Hand über die Augen und murmelte mit gebrochener Stimme: »Und dann, unberufen, werden Sie krank!... Sie wachen morgens auf, und die Leber schmerzt! Sie haben Fieber! Die Füße tun Ihnen weh!...
Was machen Sie dann? -Versuchen Sie mal Geldscheine draufzulegen, ha! Dann sehen Sie erst, was Ihre Million wert ist - nämlich nüscht! Sie können sich zwar'n Taxi zum Arzt leisten oder ihn zu sich nach Hause kommen lassen - aber ein Mittelchen für Millionäre hat auch der nicht!... Auf einmal sind Sie nichts weiter wie der letzte Prolet in seinem Wartezimmer - schlimmer: Sie sind 'n Millionär, der wie 'n Prolet behandelt wird! Das ist ein Gefühl, Tremper, ich kann Ihnen sagen!... Da liegen Sie in einem Erster-Klasse-Zimmer und sterben wie irgend so'n Nebbich! - Und dann, Tremper, wissen Sie endlich, was Ihre Million wert ist! Es ist furchtbar, sage ich Ihnen, als Millionär zu sterben!... Es gibt nichts Dümmeres als 'n toten Millionär!«
Ich hatte übrigens zum zweiten Male geheiratet
Ob er all das, in dieser Reihenfolge, gesagt hat, der Heinz Ullstein, weiß ich nicht mehr, aber an den letzten Satz erinnere ich mich genau - wie auch daran, daß es mir nicht gelungen ist, mehr Zeilenhonorar zu schinden.
Ich habe noch oft an Heinz Ullstein denken müssen, an diesen Sarkasmus, in dem so viel Bitterkeit steckte. Ich habe mich gefragt, ob er jedem, der fünfzehn Pfennige pro Zeile mehr haben wollte, solche Vorträge hielt, und mich dann damit getröstet, daß ich der einzige sei.
Meine Ulla - habe ich schon erwähnt, daß ich auch wieder geheiratet hatte? - sagte, als ich ihr davon erzählte: »Du hättest mich hinschicken sollen! Ich hätte die Beine übereinandergeschlagen und meinen kürzesten Rock angehabt!«
O ja, die hübschen Mädchen haben den »ungeratenen«, wie Onkel Rudolf Ullstein ihn nannte - er sagte nicht »Mißratenen« -, bis zuletzt mehr interessiert als das Zeitungmachen. Den mühseligen Aufbaujahren konnte er keinen Reiz abgewinnen.
Deshalb schrieb er so gerne Theaterkritiken und ging zart mit Schauspielerinnen um. Millionär wurde er erst durch Axel Springer, der ihm Ende der fünfziger Jahre seine Anteile abkaufte und den Lebenslustigsten der Ullsteins in die Lage versetzte, noch viele Jahre nur seinen Neigungen zu frönen. Als Heinz Ullstein 1973 starb, war er achtzig Jahre alt, und er kein dummer Millionär.
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Am 22. Juli 1954 war die Hölle los - der Fall Dr. Otto John
Heute wissen wir ganz genau, was sich am Abend des 20. Juli 1954 abgespielt hat, doch am 22. Juli 1954 war die Hölle los - und nicht nur in der Redaktion der »BZ« -, weil niemand wußte, was das Verschwinden des Präsidenten unseres Verfassungsschutzamtes, Dr. Otto John, zu bedeuten hatte.
Dem ehemaligen Lufthansa-Syndikus, in den 20.-Juli-Aufstand gegen Hitler verwickelt, war es 1944 gelungen, über Madrid und Lissabon nach London zu flüchten, wo er in den deutschsprachigen Propagandasendungen des Sefton Delmer mitwirkte und, trotz seiner homosexuellen Neigungen, die sechs Jahre ältere Witwe eines deutschen Schauspielers heiratete, eine gewisse Lucie Marien.
Dies alles, auch daß Herr Dr. John 1950 an die Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz berufen worden war, wußten wir im Handumdrehen aus dem Archiv, mehr aber nicht.
In der offiziellen Mitteilung der Polizei hieß es nur, daß Dr. Otto John am Abend des 20. Juli, nach den üblichen Feierlichkeiten zum nun schon zehnten Jahrestag des Attentates auf Hitler, mit einem Taxi zum "Maison de France" am Kurfürstendamm, Ecke Uhlandstraße, gefahren und seitdem »verschwunden« war, eine Entführung durch den sowjetischen Geheimdienst läge nahe.
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Otto John hat sich doch nur absetzen lassen
»Komm, Lothar!« sagte ich zu meinem Freund Lothar Winkler, und wir sausten erst mal ins Cafe Bristol, dem Ausgangspunkt sämtlicher Unternehmungen dieser Art. Dieser Entschluß war ein Volltreffer: Allein an einem der hinteren Tische auf der Terrasse saß Hasso Osterkamp, Sohn des ehemaligen Luftwaffengenerals und Ehemann von Hilde Sessak, der erotischsten Schauspielerin des deutschen Films im Dritten Reich, die schon Hans Albers' Maskottchen gewesen war und den jungen Curd Jürgens am Stadttheater von Guben »angelernt« hatte.
Weil Hasso aus dem Munde seiner Frau weiß, was Curd Jürgens zwanzig Jahre später in seinen Memoiren schreiben wird, kommen wir schnell weiter:
»Quatsch, der Otto John hat sich doch nur absetzen lassen vor der Maison de France! Der ist in die Uhlandstraße, zu seinem Intimus Wohlgemuth!«
In den Curd Jürgens-Memoiren» ... und kein bißchen weise« heißt es über diesen Intimus: »Hilde aus Guben brachte einen jungen Arzt mit, den sie in Leipzig kennengelernt hatte, wohin sie fürs erste Engagementsjahr abgeschlossen hatte. Er sah mein Schlagzeug im Salon, schleppte es auf die Terrasse und holte eine Trompete aus dem Wagen. Gegen zwölf ließ er seine Band kommen, ein paar tollkühne Motorradfahrer aus Steglitz ... In einer Verschnaufpause der Band erklärte Hildes Freund einem Schulkameraden von mir, heute Rektor in Erlangen, sein Konzept für gynäkologische Therapie: > ... und als letztes Instrument, mein lieber Herr Ober, nimmst du am besten dein eigenes. Wenn du das einführst, werden sie alle gesund. Hahah Er hieß Wolfgang Wohlgemuth, wurde 1942 Assistent von Dr. Morell, dem Leibarzt Hitlers...«
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An der Praxis des Dr. Morell, Uhlandstraße 175
Hasso Osterkamp kam gleich mit zur letzten Adresse des Dr. Morell, Uhlandstraße 175, in der jetzt der Gynäkologe und Chirurg Dr. Wohlgemuth seine Praxis hatte. Eine verheulte Sprechstundenhilfe öffnete, bevor wir die Praxistür ganz eingeschlagen hatten, leugnete zuerst und gab dann zu, daß »Herr John« dagewesen war - »doch ich habe ihn nicht gesehen, er kam erst abends, aber der Herr Doktor kam in der Nacht noch mal zurück und hat uns einen Abschiedsbrief hinterlassen, daß er in falschen Verdacht geraten könnte, weil der Herr John nicht nach West-Berlin zurückkehren wollte, und er sei jetzt in der Charite, und wir sollten alles mit seinem Anwalt besprechen - ach Gott, was wird denn jetzt bloß mit der Praxis, mit all unseren Patienten!«
Ging er jetzt freiwillig oder unfreiwillig
Womit durchaus noch nicht feststand, daß Dr. Otto John freiwillig nach Ost-Berlin gegangen war. Obwohl mir die Vorstellung, daß ein Gynäkologe wie Wohlgemuth seine blühende Praxis von gut fünfhundert Privatpatienten und fast ebenso vielen Kassenpatienten aufgegeben hatte, um dem sowjetischen Geheimdienst gefällig zu sein, nicht recht einleuchten wollte.
Der Mann war ein Frauenheld, nach Ehen mit dem UFA-Sternchen Ingrid Lutz und der rassigen Schauspielerin Charlotte Thiel zum drittenmal verheiratet mit einer ehemaligen Patientin, die jedoch in einer eigenen Wohnung lebte.
»Ich weiß nur, daß sie Rosemarie heißt!« sagte die Sprechstundenhilfe. Lothar fotografierte die Innenansicht der Tür seines Behandlungsraums mit dem gynäkologischen Stuhl, dessen Anblick schockierend auf mich wirkte, und erst im Labor konnten wir entziffern, was der Arzt da mit der Hand draufge-kritzelt hatte: »Was eine Frau im Frühling träumt, das wird im Herbst ihr ausgeräumt...«
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Die Story Dr. John haben wir 30 Tage lang ausgeschlachtet
Von diesem ersten Tag an haben Lothar, Hasso Osterkamp und ich dreißig Tage lang die Frontseite der BZ mit der Hauptschlagzeile zum Thema John & Wohlgemuth besetzt gehalten.
Es war ein täglicher Wettlauf mit dem Uhrzeiger. Wenn wir morgens auf Jagd gingen, hatten wir noch keine Ahnung, was wir suchten, aber jeden Tag gelang es mir, einen neuen Aspekt in dieser größten Affäre der jungen Bundesrepublik zu finden.
Wobei die Ereignisse sich am Anfang überschlugen, als John im Ost-Berliner Rundfunk eine Erklärung des Inhalts abgab, daß in der Bundesrepublik wieder die Nazis am Werke wären, das »bessere Deutschland« hingegen in der DDR zu Hause sei - hundertprozentig der Propaganda der Kommunisten entsprechend.
Und die Bundesregierung, wie auch alle Freunde Johns, behauptete, der Verfassungsschutzpräsident sei von Wohlgemuth »betäubt« und unter dem Vorwand, mit alten Kameraden des 20.-Juli-Kreises zusammentreffen zu wollen, in den Ost-Sektor »gelockt« worden.
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Das Puzzle um Dr. John löst sich langsam auf
Sehr bald schälte sich der weiche Charakter Otto Johns aus den vielen tausend Informationssplittern heraus, die wir tagtäglich aufsammelten: das Bild eines Mannes, der durch seinen später hingerichteten Bruder Hans zum Kreis der Widerständler gestoßen war, aber keine fundierte politische Meinung hatte und erst durch die Verhaftung und Quälerei eines geliebten jüngeren Mannes zum Gegner des Hitler-Regimes wurde.
Eines Mannes, der sich in der »provisorischen Bundeshauptstadt«, wie Bonn damals noch ganz selbstverständlich genannt wurde, überhaupt nicht zurechtfand, der sein Amt mit lascher Hand leitete, keinen Überblick über seine Verfassungsschutzaufgaben gewinnen konnte, aber bei jedem »alten Nazi«, auch harmlosem PG, wie seinem vorgesetzten Innenminister Gerhard Schröder, einen übertriebenen Wutanfall bekam.
Es war also gar keine Entführung
Es war ausgerechnet Sefton Delmer, der Star-Reporter des Londoner »Daily Express«, der Otto John doch nun wirklich kennen mußte, von dem wir »räudigen Straßenköter der >BZ <« an dem Tag um Hilfe gebeten wurden, an dem Otto John beim sogenannten Nationalrat der Nationalen Front im ehemaligen Goebbelsministerium eine internationale Pressekonferenz abhielt und seinen Übertritt als »freiwilligen Entschluß«, nun nicht mehr nur vor einem Mikrofon, sondern vor aller Augen und Ohren deklarierte.
Mr. Delmer hatte gerade eine Artikelserie im »Daily Express« über die »neue Nazigefahr« in Westdeutschland veröffentlicht, die ihn entweder als üblen Propagandisten oder schlechten Journalisten auswies - das erste war der Fall, denn ich hörte zu meinem nicht geringen Erstaunen eine Verteidigung des »alten Nazis« Dr. Hans Globke aus dem ehemaligen preußischen Innenministerium, den Kanzler Adenauer zum Chef seines Vorzimmers gemacht, jenes Globke, der die Nürnberger Rassengesetze kommentiert hatte.
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Mr. Delmer belehrte mich Grünschnabel - dachte er
»Als Journalist«, belehrte mich Mr. Delmer, »sollten Sie wissen, daß die Auslegung von Gesetzen zum täglichen Beamtenbrot gehört und nicht das Geringste mit der persönlichen Meinung des Kommentators zu tun hat! Herr Doktor Globke war nicht einmal in der Partei!« Und das von einem Engländer.
Delmer hatte übrigens darauf bestanden, mich allein, sozusagen »inkognito« zu treffen, und ich war der Einladung nicht nur aus Neugier gefolgt, sondern auch des Gerüchtes wegen, das in der Stadt umlief:
Angeblich hatte Sefton Delmer auf der überfüllten Pressekonferenz im großen Konferenzsaal des alten Propagandaministeriums die Frechheit besessen, ein Gespräch unter vier Augen mit Otto John zu fordern - was ihm, gegen den wütenden Protest von Hunderten in- und ausländischer Korrespondenten, auch gewährt worden sei.
»John ist vollkommen freiwillig nach Osten gegangen!« versicherte er mir im abendlichen Cafe Bristol. Es war das letzte, was ich von Sefton Delmer zu hören bekam, denn im nächsten Augenblick wurde die schummrige Terrassenbeleuchtung von einem grellen Blitz zerrissen - Lothar hatte sich herbeigeschlichen und ein Foto gemacht!
Sefton Delmer sprang auf und schrie, ich weiß nicht, »Verrat!« wahrscheinlich, aber Lothar war schneller. Wenn man sicher sein wollte, daß er fotografierte, brauchte man ihm nur zu sagen, daß Fotografieren nicht erwünscht sei.
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Lothar Winkler, der der größte Tröster gebrochener Weiberherzen
Hasso Osterkamp verließ uns nicht mehr, seit wir ihn am ersten Tag im Cafe Bristol getroffen hatten, und wurde ein so wertvoller Mitarbeiter, daß ich ihn Karl-Heinz Hagen vorstellte und er noch für die BZ arbeitete, als ich längst nicht mehr dabei war.
Der Bursche kannte eben all die Leute, die ich oder Lothar noch nicht kannten, pochte entweder auf seinen berühmten Vater, der irgendwie in den 20.-Juli-Verschwörerkreis hineingehörte, oder konnte sich bei so manchem Herrn auch auf seine berühmt-berüchtigte Frau berufen, die leider etwas in die Breite gegangen war.
Schließlich fanden wir auch die aktuelle Freundin Wohlgemuths, das Mannequin Ursula K, in einer Dachwohnung in der Lietzenburger Straße, neben dem Postamt Wl5, in der sie sich versteckt hielt und selbst jetzt noch nicht zugeben wollte, mit dem Arzt näher bekannt gewesen zu sein.
Lothar blieb nach meinem ausführlichen Interview zurück und tröstete die Arme. Er war und ist der größte Tröster gebrochener Weiberherzen.
Eine Zwangsläufigkeit nach der anderen kam raus
Heinz war sogar zur Pressekonferenz im Propagandaministerium gegangen, was wir uns verkniffen hatten, und er ging noch einen Schritt weiter und besuchte Wolfgang Wohlgemuth, als der Staub der Affäre sich gesenkt hatte, in dessen neuer Wohnung auf der Stalinallee.
Der grausame Witz der Geschichte war nämlich der, daß Wohlgemuth wirklich nichts mit einer »Entführung« Otto Johns nach Ost-Berlin zu tun hatte, sondern seinen Freund nur über die Sektorengrenze begleitete und nicht verhindern konnte, daß der stark angetrunkene Verfassungsschutzpräsident um Mitternacht plötzlich erklärte, im »besseren Deutschland« bleiben zu wollen.
Er hatte einige alte Kameraden wiedergetroffen, die zum 20. Juli gehörten, aber Genossen geworden waren, hatte zu dem schon während des Tages konsumierten Alkohol noch ein paar Flaschen Wein geköpft und das heulende Elend bekommen.
Als der leichtsinnige Gynäkologe und Trompetenbläser merkte, daß er ohne den Verfassungsschutzpräsidenten zurückkehren müßte, war ihm plötzlich bewußt geworden, wie sehr er verdächtigt werden würde, die Hand dabei im Spiel gehabt zu haben.
»Wo Wo« hatte sich selbst in die Falle manövriert
Um dieselbe Zeit recherchierte auch der Kollege Heinz Losecaat van Nouhuys die Wohlgemuth-John-Connection. Heinz arbeitete für Armin Schönberg, der längst nicht mehr das »Heute«-Büro in der Buggestraße leitete, sondern jetzt sämtliche Objekte John Jahrs vom Schöneberger Ufer aus betreute, einschließlich des »Spiegel«-Büros und des »Stern«.
»Wo Wo«, wie ihn seine Freunde nannten, hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihn der Kommunismus faszinierte; er hatte während des Krieges schon, als Stabsarzt der Luftwaffe, für die sowjetische Spionageorganisation »Rote Kapelle« gearbeitet - oder damit vor so manchem guten Freund angegeben - und saß jetzt in der Tinte. Er konnte nur noch seinen Anwalt aus dem Schlaf reißen, ihm am Telefon Abwicklungsvollmacht geben, noch in der Nacht schnell das Nötigste aus seiner Praxis holen, den Sprechstundenhilfen einen Zettel hinterlassen und zu den Roten zurückkehren, für die er Sympathien empfand, wie gesagt, unter denen er jedoch nie hatte leben oder arbeiten wollea Er muß den Busenfreund Otto John verflucht haben!
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Otto John kam nicht ungeschoren davon - 4 Jahre Zuchthaus
Und der Aberwitz war noch nicht zu Ende: Im Dezember 1955 bereits gefiel es dem Ex-Verfassungsschutzpräsidenten nicht mehr in der DDR, und er schlich sich nach West-Berlin zurück, als sei nie etwas geschehen.
Seinen ehemaligen Untergebenen versicherte er, sein Freund Wolfgang habe ihn betäubt und verschleppt. Seine Rundfunkerklärung? Die internationale Pressekonferenz? »Ich stand unter Drogen!« behauptete Otto John, aber das glaubte ihm keiner im Westen. Er wurde vor Gericht gestellt, bekam vier Jahre Zuchthaus, saß zwei davon ab und verzog sich nach Igls bei Innsbruck.
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Und dann bekam er 1978 einen Herzinfarkt
Während der hereingefallene Wohlgemuth sich zähneknirschend eine neue Existenz in Saarow-Pies-kow aufbauen mußte, am wunderschönen Scharmützelsee zwar, aber unter mißtrauischen Genossen, die ihn nachts, wie einen einsam heulenden Wolf, Trompete spielen hörten.
Um die Lesart aufrecht zu erhalten, Otto John sei von sich aus ins »bessere Deutschland« übergesiedelt, hatten sowohl der sowjetische als auch der Stasi-Geheimdienst ihre Hände von John & Wohlgemuth gelassen. Nachdem er zuletzt das Krankenhaus der Nationalen Volksarmee in Saarow-Pieskow geleitet hatte, kehrte auch »WoWo« in aller Stille 1975 nach West-Berlin zurück und durfte an alter Stelle in der Uhlandstraße 175 weiterpraktizieren, bis er 1978 einen Herzinfarkt erlitt und starb.
Er hatte noch ein viertes Mal geheiratet und mit seiner Sprechstundenhilfe Annedore auch noch eine Tochter gezeugt, die eines Tages im Fernsehen auftrat und bekannte, rauschgiftsüchtig zu sein.
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