Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.
In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.
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17. Juni 1953
Über den Aufstand der Ost-Berliner Bauarbeiter ist alles geschrieben worden, auch von kommunistischer Seite und besonders von den Sympathisanten der DDR, wie dem ominösen Bernt Engelmann.
Bernt Engelmann - der Lügenbaron von Ostberlin
Noch drei Jahre vor dem Zusammenbruch der DDR schrieb er zur 750-Jahrfeier Berlins: »Staat und Wirtschaft sind stabil, die Produktivität wächst stetig, und die >Hauptstadt der DDR< leidet weder an Arbeitslosigkeit noch an Überalterung ihrer Einwohnerschaft ...«
Dieser damalige Generalsekretär des deutschen PEN-Clubs schrieb über den Aufstand des 17. Juni in seinem Jubiläumsbuch »Berlin«:
»Am 16. Juni kamen die Bauarbeiter, die in der Stalin-(früher Frankfurter, heute Karl-Marx-)Allee neue Wohnblocks errichteten, überein, gegen die angekündigte weitere Erhöhung der Arbeitsnormen mit einem Demonstrationszug zu den Ministerien in der Leipziger Straße zu protestieren. Daraus entwickelten sich, kräftig geschürt vom RIAS mit ständig wiederholten Streikaufrufen und >Sondermeldungen<, am 17. Juni heftige Krawalle, und zugleich wurden die Forderungen nach Senkung der Lebensmittelpreise und nach freien Wahlen laut, die der Demonstration gegen die geplante Normerhöhung einen regimefeindlichen Charakter gaben. Aus Westberlin kam >Verstärkung< ins Ostberliner Zentrum - >massenweise<, wie es in den offiziellen Darstellungen der DDR-Behörden hieß, >nur vereinzelte Trupps vonfünfzig bis hundert Leuten<, wie die westliche Seite zuzugeben bereit war. Jedenfalls flammten in der Innenstadt bald die ersten Brände auf, Bücher- und Zeitungskioske standen in Flammen, Schaufenster wurden eingeschlagen, Autos umgestürzt, einzelne Vopos (>Volkspolizisten<) angegriffen und mißhandelt ....
Ausnahmezustand über Berlin
Um 13 Uhr sah sich der sowjetische Stadtkommandant veranlaßt, den Ausnahmezustand über Berlin zu verhängen und Panzer einzusetzen, die die Innenstadt rasch räumten und die Menge Unter den Linden und in der Leipziger Straße teils zerstreuten, teils nach Westberlin abdrängten.
Unmittelbar an der Sektorengrenze, vor allem am Potsdamer Platz, dauerten die Krawalle an; das Columbiahaus, einst Folterstätte der Nazis, nun HO-Warenhaus, wurde geplündert und niedergebrannt - was wiederum bei den diszipliniert und geschlossen zur Demonstration gegen die geplante Normerhöhung aus den Außenbezirken in die Innenstadt marschierten Belegschaften, unter ihnen zwölftausend Stahlwerker aus Henningsdorf, Empörung auslöste, da sie nicht an Zerstörungen, sondern an der Durchsetzung ihrer Forderungen interessiert waren ...«
Und Engelmann zitiert eine Untersuchung des West-Berliner Professors Arnulf Baring: »Vergleicht man die Zahl der Arbeitnehmer (5,5 Millionen) mit der der Demonstranten (300 000), dann zeigt sich, wie verhältnismäßig wenige Arbeiter sich am 17. Juni beteiligt haben« - als ob solche Zahlen bei einer Revolution je eine Rolle gespielt hätten.
»Jedenfalls«, schlußfolgert Engelmann, »waren die Ereignisse nach Umfang und Zielsetzung etwas anderes, als die westlichen Medien, allen voran die Springer-Presse und der RIAS, zunächst daraus machten...«
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Die Springer-Presse und der RIAS.
Die Hartnäckigkeit, mit der Axel Springers Zeitungen daran festhielten, daß Unrecht Unrecht genannt werden muß, störte die offenen und verkappten Kommunisten am meisten - nur: 1953 gab es noch gar keine »Springer-Presse« in Berlin.
»Immerhin«, schrieb Engelmann genüßlich 23 Jahre später, als er sicher zu sein glaubte, daß die deutsche Teilung ewig dauern würde, »wurden einige hundert Personen von sowjetischer Militär- und DDR-Volkspolizei festgenommen, etliche >Rädelsführer<, darunter auch Westberliner, >standrechtlich< erschossen. Insgesamt kamen bei diesen Unruhen, die auch auf andere Städte der DDR übergriffen und erst am 19. Juni überall beendet waren, nach offiziellen Angaben der Ostberliner Behörden 21 Personen ums Leben, 187 wurden verletzt.
Im Westen wurde der Tag des >Volksaufstandes in der DDR<, der 17. Juni, zum >Tag der deutschen Einheit< und zum gesetzlichen Feiertag erklärt. Im Osten erinnert man sich begreiflicherweise ungern an den >von Agenten und Provokateuren gesteuerten konterrevolutionären Putschversuch zum Sturz der Arbeiter-und-Bauern-Macht<, bei dem - wieder einmal - die rote Fahne vom Brandenburger Tor heruntergeholt und verbrannt worden war...«
Der »Chronist«, der nicht dabei war
Soweit dieser »Chronist«, der nicht dabei war. Ich übrigens auch nicht. In West-Berlin fanden gerade zum drittenmal Filmfestspiele statt, und Gary Cooper und William Wyler waren aus Hollywood zu Besuch. Unser großer Westernheld!
Protestmärsche interessierten mich einen feuchten Kehricht
Gerade lief »High Noon« am Kurfürstendamm, für den er seinen zweiten Oscar erhalten hatte! Und William Wyler, der große Regisseur aus dem Elsaß, hatte mich schon 1944 begeistert, als ich an einer geschlossenen Vorführung seines Kriegsfilms »Mrs. Miniver« in einer Reichsfilmstelle teilnehmen durfte.
Inzwischen hatte ich auch seine preisgekrönten Filme »Wuthering Heights« und »Die besten Jahre unseres Lebens« gesehen und war von seinem »Polizeirevier 21« mit Kirk Douglas vollkommen besoffen.
Ich hielt William Wyler damals wie heute für den größten Regisseur aller Zeiten, dabei hatte er seinen »Roman Holiday« und auch »Ben Hur« noch gar nicht gedreht!
Deshalb interessierten mich die Nachrichten über Protestmärsche der Bauarbeiter von der Stalin-Allee »einen feuchten Kehricht!«, wie wir naßforsch zu sagen pflegten.
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Jesus Christ! This Berlin is really something!
Ich weiß nicht mehr, wer es war, der zu unserer Runde »Cafehaus-Juden« ins Bristol gestürmt kam und die erste Nachricht von dem Aufstand brachte. Ich weiß nur noch, daß es ein kleiner atemloser Amerikaner aus dem Vorauskommando der amerikanischen Festival-Delegation war, der am Tag vor dem Beginn der Filmfestspiele, also am 17. Juni, an unseren Tisch trat und sich an den Kopf faßte: »Jesus Christ! This Berlin is really something!«
Russische Panzer, berichtete er aufgeregt, wären über den Potsdamer Platz gefahren und hätten in die Menschenmenge geschossen - und hier saßen wir, nur ein paar Kilometer entfernt, tranken unsere »großen Braunen« und erzählten uns jüdische Witze.
Ich weiß sogar noch, welchen Witz Maxe Strassberg - oder war es Maxe Nosseck? - gerade drauf hatte, es war der von der Wiener Versicherungsgesellschaft Phoenix, die im »achtunddreißiger Jahr« in Konkurs ging, schwadronierte einer der Maxe:
»Und dann hat man im Keller einen Brief gefunden: Sehr geehrter Herr Phoenix, was mein Mann, der Moishe, ist, der soll sich, wie ich gehört habe ...«
In diesem Augenblick kam der Bote mit der Schreckensnachricht an den Tisch, und alle zischten ihm »Shut up!« zu und wollten wissen, was die Frau in ihrem Brief an die Versicherungsgesellschaft Phoenix geschrieben habe, und Max fing von vorne an: »Also, was mein Mann, der Moishe, ist, der soll sich, wie ich gehört habe, eine Schickse angelacht haben - für mich ist er gestorben! Bitte, zahlen Sie aus!«
Hach, haben wir gelacht! Und der Ami aus Hollywood sah uns an, als ob er sagen wollte: Was sind das nur für Menschen in Berlin! Da fahren Panzer in die Menge und erschießen Leute, und daneben sitzen diese Cafehaus-Ungeheuer und erzählen sich blöde Witze!
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Es dauerte etwas bis wir aufgewacht sind ....
Ernstl Neubach aus Wien, der damals zum erstenmal auch wieder nach Berlin gekommen war, rief, wie nach jeder Pointe: »Das erinnert mich an einen Fall in Paris...!« und hätte beinahe auch noch einen Witz angefangen.
Da sahen wir einen Jungen in kurzen Hosen angerannt kommen, der ein Bündel Zeitungen schwenkte und schrie: »Extrablatt! - Extrablatt! - Aufstand in Ost-Berlin! - Russen schießen in Menschenmenge! - Panzer am Potsdamer Platz!« - und da wachten wir endlich auf aus unserer Abgebrühtheit.
Es war nämlich so, daß wir seit Tagen schon von Protesten gegen Normerhöhungen in Ost-Berlin gehört hatten, aber an nichts waren wir mehr gewöhnt in West-Berlin als an Proteste aus Ost-Berlin.
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Diesmal war es aber etwas wie Krieg der Panzer gegen Menschen
Daß es diesmal etwas anderes war als bisher, fiel uns erst an diesem späten Mittag im Cafe Bristol auf. Wäre ich allein gewesen, ich hätte mich wahrscheinlich in den nächsten Bus zum Potsdamer Platz oder Brandenburger Tor gestürzt, um die Russenpanzer zu sehen.
Doch ich hockte zwischen all den alten Filmheinis, die unglaubliche Geschichten aus Hollywood zu erzählen wußten. Maxe Nosseck hatte gerade erst einen letzten Film bei Universal inszeniert und kannte »Will« Wyler natürlich persönlich, spielte mit Billy Wilder Poker, Ernstl Neubach hatte mit Erich von Stroheim in Paris gerade wieder einen Film produziert, sogar Hans Oppenheimer rückte mit dem Geständnis heraus, daß er in einem seiner vielen fehlgeschlagenen Versuche, groß ins Filmgeschäft einzusteigen, nach dem »Black Friday« von 1929 für 5.000 Rentenmark einen »Welt-Exklusiv-Vertrag« mit einem jungen britischen Regisseur abgeschlossen, ihn dann aber wieder »laufengelassen« habe, sein Name sei Hitchcock gewesen - kurz:
Ich blieb bei meinen Filmjuden sitzen und begnügte mich mit dem kleinen Kofferradio der Kellnerin, aus dem laufend neue »Sondermeldungen« des RIAS drangen.
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Der »Rädelsführer« des Aufstandes - ein harmloser Ehemann
Ich bin erst aufgesprungen und mitgefahren, als Lothar Winkler in seinem kleinen Auto vorbeikam und erzählte, er hätte gerade die Witwe eines West-Berliners fotografiert, der von den Russen als »Rädelsführer« des Aufstandes standrechtlich erschossen worden wäre.
Lothar fotografierte den Aufstand für die seit Herbst 1952 wieder erscheinende »Berliner Morgenpost« der Ullsteins, die das Druckhaus in Tempelhof zurückerhalten hatten. War mein alter Helmut Meyer-Dietrich da noch Lokalchef oder schon stellvertretender Chefredakteur?
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Lothar Winkler mit den alten Sensations-Tricks
Jedenfalls hatte M-D den Lothar zu der Witwe jenes Willi Göttling geschickt, der von den Russen erschossen worden war, und der rasende Reporter hatte sich erst mal sämtlicher Privatfotos des Toten bemächtigt, bevor die noch ahnungslose Frau von der nachrückenden Konkurrenz erfuhr, daß ihr - völlig harmloser, arbeitsloser, etwas aus den Fugen geratener - Ehemann soeben zum ersten Märtyrer einer Revolution geworden war.
Dem guten M-D gefielen freilich die Fotos meines Lothar nicht, denn die frische Witwe schien überhaupt nicht unglücklich auszusehen, auf dem einen oder anderen Bild sogar zu lachen.
Lothar erzählte, daß sie ihren »alten Saufkopp« im Tod noch beschimpft hätte und er jetzt noch einmal hinfahren müsse, um ihr Leid auf Film zu bannen, wie es so schön heißt.
Zu diesem Behufe hatte er sich eines alten Fotografentricks bedient und eine Tüte Pfeffer in sein Taschentuch geleert, das er, als er noch mal bei Göttling klingelte, aus der Tasche zog, worauf sich die gute Frau »wie weinend« in die Augen faßte.
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Es war wie bei den Ossis immer, ziemlich übertrieben
Am Potsdamer Platz brannte noch das von ein paar wildgewordenen Demonstranten angezündete Columbia-Haus, das den Krieg und die Bomben beinahe unbeschädigt überstanden hatte. Auch sowjetische Panzer warteten noch auf dem benachbarten Leipziger Platz, aber die ganze Gegend war weitläufig von westlicher und östlicher Polizei abgesperrt, es schien Ruhe eingekehrt zu sein.
Fünf Stunden waren seit der Tragödie vergangen. Am Brandenburger Tor, wo »wieder einmal«, wie Bernt Engelmann schrieb, die roten Fahnen heruntergeholt und verbrannt worden waren, stand »Volkspolizei« in Dreierreihen Wache, beschützt von Sowjetpanzern auf dem Pariser Platz und britischer Militärpolizei, die noch letzte jugendliche Krakeeler auf Distanz hielt.
Das waren meine persönlichen Eindrücke auf westlicher Seite, wie es im Osten aussah, konnte ich mir nur denken.
Auch die »massenhaften« westlichen »Provokateure«, die angeblich in den Sowjetsektor eingedrungen waren, bekam ich nicht zu Gesicht, aber unter den einigen hundert noch herumstehenden Zuschauern traf ich keinen einzigen West-Berliner:
Wer da, bei den ersten Meldungen von einer Massendemonstration, über die Sektorengrenze gewechselt war, das waren in West-Berlin lebende Ost-Berliner, nach Senatsangaben über dreihunderttausend, die es seit der Blockade vorgezogen hatten, nicht länger unter dem Sowjetsozialismus zu leben.
Klar, daß die über den Potsdamer Platz gestürmt waren, in der Hoffnung auf eine Änderung der Verhältnisse. Ich werde nie die kalte Wut in den Gesichtern der Menschen vergessen, die an diesem Spätnachmittag des 17. Juni 1953 da noch herumstanden und nach Osten starrten, die einfach nicht nach Hause gehen wollten, obwohl sie wissen mußten, daß der Aufstand gescheitert war.
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Die Nase voll von "Deutschland"
Während sich am Abend darauf die West-Berliner vor den beiden Festspielhäusern drängten, um Gary Cooper und all die anderen Stars zu sehen, saß mein Freund Hans Joachim Maitre schon in einer Einzelzelle der Russen und fragte sich, ob er noch verhört oder gleich erschossen werden würde.
Wie es in dem FDJ-Sekretär aus Bernau damals aussah, ist er auch heute noch nicht bereit zu erzählen. Er hatte gar nicht an der Demonstration gegen die neuen Normerhöhungen teilgenommen, er war auch kein militanter Antikommunist wie die vielen anderen Demonstranten, er war ein Mitarbeiter des FDJ-Führers Erich Honecker und hatte nur eine »Stinkwut«.
An diesem 17. Juni 1953 nämlich hatte er von Genosse Erich erfahren, daß die neue Nationalhymne der DDR, jene von Hanns Eisler auf den Spuren des Peter-Kreuder-Schlagers »Good bye, Johnny!« geschriebene Melodie, nicht mehr gesungen werden sollte - weil das Wort »Deutschland« darin vorkam.
Die beiden Steinewerfer von der Stalinallee
Erich Honecker war seiner Zeit wieder einmal um Längen voraus.
Wer Jochen Maitre kennt, den Vetter des anderen Berliner Hugenotten Hans Joachim Marseille, der im Alter von 22 Jahren, als jüngster Hauptmann der deutschen Luftwaffe, nach 158 Luftsiegen über Afrika verunglückt ist, kennt einen rauflustigen Mann.
Er war damals 19 Jahre alt und kam auf seinem Fahrrad ganz zufällig über den Potsdamer Platz, als die sowjetischen Panzer durch die Leipziger Straße rasselten und die Demonstranten vor sich hertrieben. Er stellte sein Fahrrad an die nächste Ecke und griff sich einen Stein, um die T-34 damit zu bombardieren.
Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn ihn bei dieser Steinewerferei nicht ein Unbekannter fotografiert hätte. Das Foto, das Maitre und einen anderen jungen Mann, den 22 Jahre alten Elektrikergesellen Erwin Kaiisch aus Hoppegarten, im archaischen Nahkampf mit Russenpanzern zeigt, ging noch am selben Tag um die Welt und wurde zum Symbol des Widerstandes gegen die Kommunisten; es muß tausendmal gedruckt worden sein.
Aber Maitres Fahrrad ist im selben Augenblick von der Ecke gestohlen worden, und wie mein Jochen nun mal gebaut ist, marschierte er nach dem Krawall ins nächste Volkspolizei-Revier in der Wilhelmstraße und erstattete Anzeige gegen Unbekannt.
Die Vopos nahmen ihn gleich hops, das Fahrrad des »Umstürzlers« hatten sie selbst »sichergestellt«.
Der andere war Erwin Kalisch
Der andere Steinewerfer, Erwin Kaisch, gehörte zu den Bauarbeitern der Stalinallee. Er war an jenem 17. Juni, wie jeden Tag mit der S-Bahn zur Arbeit gefahren und hatte sich dem Demonstrationszug angeschlossen. Eifrige Genossen identifizierten ihn auf dem Foto, das am nächsten Tag auf der Frontseite aller Berliner Zeitungen erschien, und er wurde, ebenfalls verhaftet, als »Knecht des amerikanischen Monopolkapitalismus« und »Anstifter des Aufstandes« gebrandmarkt und im sowjetischen Hauptquartier »buchstäblich zu Brei« geprügelt, wie ein Arzt feststellte.
Drei Wochen lang dauerte die Tortur bei den Russen, aber Kalisch weigerte sich standhaft, ein vorgefertigtes Geständnis zu unterschreiben, und blieb dabei, daß er noch nie einen Amerikaner auch nur aus der Nähe gesehen hätte.
Der arme Kerl wurde den »Organen der Staatssicherheit der DDR« übergeben und verschwand für drei Jahre in einem Gefängnis.
Erst 1956 gelang es ihm zu entkommen, aber seine Erlebnisse waren so schrecklich, daß er nicht einmal mehr in der Bundesrepublik leben wollte; er wanderte nach Portugiesisch-Westafrika aus und lebt heute in Brasilien.
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Die Folgegeschichte von Hans Joachim Maitre
Hans Joachim Maitre hingegen bewahrte sein Amt als FDJ-Funktionär davor, wie Kalisch zusammengeschlagen zu werden. Er wurde nach Frankfurt/Oder in eine sowjetische Haftanstalt gebracht, vom Geheimdienst gründlich verhört und von einem DDR-Gericht wegen »Anstiftung zum Aufruhr« zu einem Jahr »Bewährung« in einem Strafbataillon der Nationalen Volksarmee verurteilt.
Bei den im Sommer 1954 stattfindenden Manövern der Ostblockstaaten führte Maitre, inzwischen schon wieder Unteroffizier, seine 15 Mann starke Gruppe über die tschechische Grenze nach Bayern. Auch er hatte die Nase voll von Deutschland, begab sich stracks zum kanadischen Generalkonsulat und wanderte in die Neue Welt aus. Heute ist er kanadischer Staatsbürger, Professor für Geschichte und Dekan des Communication College an der Universität Bostoa.
Bis zur Wende am 9. November 1989 verbat er sich eine Identifizierung auf dem schicksalhaften Foto, denn seine Verwandtschaft lebte noch in Bernau bei Berlin. »Einen T-34 mit Steinen anzugreifen«, sagte er, »ist ein Dummerjungenstreich, sinnlos sogar als Geste...« Das sah ich, und der Rest der Welt, damals ganz anders.
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Das berühmt gewordene Foto von der Stalinallee
Von wem das berühmt gewordene Foto stammt, das den Knipser reich hätte machen können, war nie zu eruieren. Es muß ein Amateur aus dem Ostsektor gewesen sein, der Grund hatte, sich bedeckt zu halten, vielleicht ein Funktionär wie Maitre.
Leider habe ich den Jochen erst sehr viel später kennengelernt, nachdem ihn Berthold Beitz an der McGill-Universität in Montreal entdeckt und für das IOC, das Internationale Olympische Komitee, verpflichtet hatte - sonst hätte ich wahrscheinlich noch einen Film über sein 17.-Juni-Foto, und was daraus geworden ist, gedreht.
Ernst Neubach, der Berliner Wiener
Von all den Typen, die mich auf magische Weise immer wieder ins Cafe Bristol zogen, faszinierte mich in diesen Jahren am meisten der Berliner Wiener, nach seiner Rückkehr aus der Emigration in München seßhaft werdende Ernst Neubach, der Kerl, der in den zwanziger Jahren die Weltnummer »Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren« geschrieben hatte.
Der konnte erzählen! Der hatte Geschichten drauf, daß wir jedesmal vom Stuhl fielen vor Lachen - oder Weinen. Nie wieder habe ich einen solchen Fabulierer getroffen.
Einen meiner unmöglichsten Filme habe ich für ihn inszeniert und bin heute noch glücklich, daß ich ihn, den Produzenten, gezwungen habe, eine Rolle zu übernehmen, in der er immerzu seinen klassischen Satz »Das erinnert mich an einen Fall in Paris...!« sprechen mußte.
An mir hatte er einen Narren gefressen, wahrscheinlich, weil ich sein dankbarstes Publikum war, alles stehen- und liegenließ, wenn ich ihn sah, und ihn, mit Brachialgewalt manchmal, zum Erzählen zwang.
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Wenn Ernst Neubach erzählte ....
Und wie er erzählte! Mit Händen und Füßen, rollenden Augen und auf und abspringend, kreischend und röchelnd - und nie die Gauloises aus dem Mundwinkel nehmend, einen langen Schal, den er sommers wie winters trug über die Schulter geworfen.
Neubach war ein Spieler. Mir wird schwindlig bei dem Gedanken an die vielen Millionen, die er verzockt haben muß. Er war in den zwanziger Jahren einer der vielen Österreicher - wie Billy Wilder, wie Anton Kuh und Geza von Cziffra -, die im Romanischen Cafe herumsaßen und von Gelegenheitsschreibereien lebten, wie dreißig Jahre später der kleine Tremper im Bristol.
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In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei, bei Kuchen und Tee
Ernst Neubach gehörte beinahe schon zu den Arrivierten, denn er verfaßte Schlagertexte am laufenden Band (»In einer kleinen Konditorei, da saßen wir zwei, bei Kuchen und Tee - und das elektrische Klavier, das spielte leise, eine Weise von Liebeslust und -weh...«), aber so viel, wie er gleichzeitig verspielte, konnte er nie verdienen.
»Unsere Pokersitzungen dauerten manchmal drei Tage und Nächte! Wie oft bin ich, ohne Hose, in eine Tischdecke gehüllt, aus der Spielhölle in der Rankestraße ins Freie hinausgetreten, wo die kleinen Zocker ehrfürchtig Spalier bildeten oder sogar applaudierten!«
Dann war es wieder einmal an der Zeit, daß seine Zimmerwirtin ihm das Fahrgeld für die Reise in ein Provinznest lieh, zu einem Gastspiel als Conferencier, bis er wieder ein paar hundert Mark zusammen hatte, neues Betriebskapital für Berlin. »Nirgendwo anders als in Berlin-W«, sagte er, »hätte ich sein mögen!«
Ernstl! Ernstl! Du mußt sofort aussteigen .......
An einem Frühlingstag des Jahres 1925 war Ernst Neubach wieder einmal unterwegs nach Berlin, nach einem Gastspiel im Rheinland, das ihm vierhundert Mark eingebracht hatte. »Ich wartete ungeduldig am Gangfenster des Berliner D-Zuges, der in den Frankfurter Sackbahnhof eingelaufen war, und spürte schon wieder das Kribbeln in den Fingerspitzen - sicheres Zeichen für eine kommende Strähne!«
Da sieht er seinen Freund Friedrich Vesely suchend über den Bahnsteig rennen, der sich als Komponist Fred Raymond nannte und mit Operetten wie »Maske in Blau« und »Saison in Salzburg« erst noch berühmt werden mußte.
»Ernstl! Ernstl!« rief der bei Neubachs Anblick aufgeregt. »Du mußt sofort aussteigen und ein Rheinlied für mich schreiben! Ich habe einen festen Auftrag von Schott Söhne in Mainz, dem berühmten Musik-Verlag!«
Ernstl zeigte ihm einen Vogel und die vierhundert Mark aus Recklinghausen: »Ich fahr' nach Berlin, und kein Geld der Welt kann mich davon abhalten!«
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Zwei blonde Dragoner
Freund Vesely-Raymond kannte die größte Schwäche Neubachs, aber auch die zweitgrößte: hochgewachsene Blondinen! Und so fiel ihm in seiner Not ein, den Spieler mit den Worten »Ich hab' auch zwei Dragoner!« aus dem Zug zu locken.
Dragoner, das waren damals, in der Sprache der Experten, »ganz, ganz große Blondinen« - und schon wurde Neubach wankend, spürte auf einmal ein Kribbeln auch in der Hose und fand, daß er ruhig einen Zug überspringen könnte.
Im nächsten Augenblick lief er mit Fred Raymond über den Bahnhofsvorplatz ins Cafe Schumann und begann auf der Rückseite einer Speisekarte die millionenschwere Zeile eines »Rhein«-Liedes zu dichten: »Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren...«, während der Komponist mit dem Kaffeelöffel dazu einen Marschtakt schlug.
Beide Künstler stammten aus Österreich, wie sollten sie wissen, wo Heidelberg liegt. Als der erste Entwurf fertig war - an einem zweiten feilte später Friedrich Löhner -, war auch Ernst Neubach mit seinem Freund Vesely-Raymond fertig:
»Der hatte weder zwei noch einen Dragoner!« Verärgert nahm Neubach den nächsten Zug nach Berlin und vergaß das Intermezzo.
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Es gab nur ein "in Heidelberg verlorens Herz" ...
Schlager wurden damals noch nicht über Nacht populär. Es war das Jahr, in dem der Rundfunk überhaupt erst anfing zu senden, in dem nur ganz wenige ein Empfangsgerät besaßen.
Es dauerte viele Monate, bis die Salonorchester in ganz Deutschland mit dem Notenmaterial versorgt waren und überall auf einmal »Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren« gesungen wurde.
Und dann wollte der Gesang gar nicht mehr aufhören, aus dem Text auf der Speisekarte wurde, von Berlin bis New York und von Yokohama bis Elberfeld, der größte Hit der zwanziger Jahre.
Jeder Texter, jeder Komponist war nur noch mit dem Erfinden immer neuer Heidelberg-Lieder beschäftigt: »Mein Heidelberg, ich kann dich nie vergessen« und »Das war in Heidelberg, in einer blauen Sommernacht« und »Frühling in Heidelberg« und »Ein Burschenlied aus Heidelberg« oder »In Heidelberg hab' ich mein Glück gefunden« - und das hatte Ernst Neubach nun wirklich:
»Auf einmal kam der Geldbriefträger dreimal am Tag, und die >Dragoner< standen Schlange vor meiner Wohnungstür!«
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An der Wiener Volksoper wurde 1927 ein Singspiel gleichen Titels mit Musik von Fred Raymond und Texten von Neubach & Löhner uraufgeführt und anschließend ein dutzendmal verfilmt, sogar in Hollywood.
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Ernst Neubach erzählte weiter ....
»Aber ein zweites Heidelberg-Lied ist mir nie mehr gelungen«, erzählte Ernst Neubach. »Eines Abends lud mich Franz Lehar zu einer Gesellschaft in seine Grunewaldvilla ein. Damals erschien man im Frack zu dem, was heutzutage Party genannt wird.
Der Lehar Franzi winkte mich in sein Musikzimmer, schloß die Tür und deutete auf einen Telefonhörer, der auf dem Konzertflügel lag:
>Gehen Sie mal ran, Herr Kollege, das ist unser Verleger. Der hat gerade sein Erscheinen abgesagt, weil er sich umbringen will!< - Er sei ruiniert, weinte der Verleger, denn auch mein letzter Text Am Heidelberger Schloß steht eine Linde<, für den er mir fünftausend Vorschuß gezahlt hatte, sei ein Reinfall. Ich hab' ihn angeschrien: Herrgott, dann Schreibens halt Am Rüdesheimer Schloß drüber!< - und den Hörer hingeknallt!«
Als Neubach dies im Bristol erzählte, unterbrach ich ihn: »Das kenn' ich noch! Als Kinder haben wir immer gesungen: Am Rüdesheimer Schloß steht eine Blinde<!«
Neubach schlug mir auf die Schulter: »Recht hast du! Die Änderung eines einzigen Namens, aus reiner Wut geboren, erbrachte wieder einen Hit! Alle sangen und spielten die Nummer - sie hatte nur einen Schönheitsfehler, und das war der Grund dafür, daß das Volk aus der Linde eine Blinde machte:
Es gab nämlich in Rüdesheim gar kein Schloß! Gott der Gerechte, was bin ich in der Presse dafür durch den Kakao gezogen worden!
Der Narr von Verleger hatte nicht einmal den Anfang meiner Verse geändert, da hieß es immer noch: >Leise schlagen die Wellen an den Neckarstrand< - aber Rüdesheim liegt nun mal am Rhein!« Wir hatten wieder was zu lachen im Cafe Bristol.
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Und dann berichtete er weiter ...
Doch das Schöne an Neubachs Pointen war, daß er sich mit einer nie zufrieden gab, also berichtete er weiter:
»Erst nach den Hitlerjahren fand ich Gelegenheit, meinem goldenen Einfall Rüdesheim einen Besuch abzustatten. Ich kam aus Heidelberg, wo ich mit O.W.Fischer gerade unser Singspiel verfilmte, und hatte mich morgens schon geärgert, als ich eine Ansichtskarte vom Heidelberger Schloß kaufte, daneben meinen Text abgedruckt fand und darunter, als Quellenangabe, lesen konnte: Alte deutsche Volksweise!«
Wir amüsierten uns göttlich über Neubach und sein gekränktes Mienenspiel, und Maxe Strassberg fing sich einen Tritt von Neubach gegen's Schienbein ein, als der dazwischenrief:
»Is' eh kloar, der Hitler, der Romantiker, wollte nicht zugeben, daß sein Lieblingslied von einem Juden stammte!«
Schön, also mittags betrat Neubach, vom Rheindampfer aus, die Anlegestelle in Rüdesheim, wo es ja kein Schloß gab, und das erste, was ihm ins Auge fiel, war ein Hinweisschild: Zum Schloß - zwei Minuten! »Ich dachte, ich spinne«, rief er. »Ich rannte durch die Drosselgasse, bog um verschiedene Ecken - und da lag ein herrliches Schloß vor mir! ...
Eine Brauerei, die am Ende gewesen war, hatte sich von meinem Schlager anregen lassen, die Fassade schloßartig verkleidet und sich >Rüdesheimer Schloßbrauerei< genannt!... Ich stürmte in das Schloß, fand einen Pförtner, der mir bereitwillig verriet, daß die Brauerei 1926 ihren Namen erhalten hatte, aber als ich ihm verriet, wer der Schöpfer war, hetzte er seinen Bluthund auf mich!« Ein Mädchen, das mit uns am Tisch saß, hat sich vor Lachen naß gemacht.
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