Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.
In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.
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Berlin ruft - meine Bewerbungen
In den ersten Januartagen 1944 schickte ich Bewerbungen auf Briefbögen des Moselland-Bilderdienstes an alle wichtigen Bildagenturen in Berlin: PBZ Braemer & Gull (das hieß »Presse-Bild-Zentrale«), Weltbild, Transocean-Europapress, an Hitlers Leibfotografen Heinrich Hoffmann, an den Deutschen Verlag, Absender: Postlagernd Koblenz.
Ich holte die Briefe ja jeden Morgen auf dem Hauptpostamt ab. Die Adressen hatte ich mir aus dem Berliner Telefonbuch von 1942 besorgt, das Bubi Krüger mir zum Geburtstag geschenkt hatte, während die Namen der Agenturen den Urhebervermerken unter den Fotos in den Illustrierten entnommen waren.
Außer der Bildagentur von Heinrich Hoffmann nahm sich keiner die Mühe, mir auch nur abzusagen. Von den Hoffmann-Leuten aber kam ein lapidares Schreiben: »Wir haben Ihre Bewerbung an den Reichsausschuß der Bildberichterstatter im Reichsverband der Deutschen Presse weitergeleitet. Mit deutschem Gruß!«
Es kam nur eine Antwort zurück - da taten sich Fragen auf ....
Zuerst war ich ihrem korrekten Umgang mit der Post äußerst dankbar, dann begann ich nachzudenken. Warum hatte mir gerade das nationalsozialistische Paradeunternehmen geantwortet ?
Hatten sie meine freche Bewerbung als »Bildberichterstatter« einer kleinen Prüfung unterzogen? Hatten sie in irgendwelchen Listen nachgeguckt und festgestellt, daß es gar keinen Bildberichter meines Namens gab? Hatten sie mich disziplinieren wollen, als sie meine Bewerbung an die Fachschaft weiterleiteten?
Mußte ich mit einer Betrugsanzeige rechnen? Ich verbrachte ein paar unruhige Nächte, doch dann traf Anfang Februar, hauptpostlagernd Koblenz, ein Brief des »Reichsausschusses« ein, und ich durfte jubeln: Ich wurde aufgefordert, am 14. April 1944, pünktlich um 10.00 Uhr morgens, zur »Aufnahmeprüfung« in der Zimmerstraße 23 zu erscheinen, »mitzubringen ist eine Auswahl eigener Fotos«. Ich war von den Socken.
Meine Hartnäckigkeit hatte sich, ein halbes Jahr nach Besuch des Arbeitsamtes, bereits bezahlt gemacht: Berlin rief mich!
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Ein amtliches Schreiben ist ein amtliches Schreiben
Meine Mutter reagierte verstört, doch ein amtliches Schreiben ist ein amtliches Schreiben, und so mußte sie mir hundert Mark pumpen und mich ziehen lassen. Berlin war für sie das gleiche Ungeheuer wie für die Provinzler von Bonn, 45 Jahre später.
»Du bist doch erst fünfzehn!« jammerte sie. Sie hätte mich mal im Bett ihrer besten Freundin sehen sollen ...
Ich war berauscht von der Möglichkeit, ganz legal nach Berlin reisen zu dürfen. Ich erzählte meinen Freunden, daß »es nun soweit ist«, und ließ mich im voraus beglückwünschen. Keiner zweifelte am Erfolg meines Unternehmens - ich zuallerletzt.
In Koblenz erzählte ich weder dem Fräulein Poremba noch Walter Vollrath ein Wort von der Reise, meldete mich nur am 13. April abends für den nächsten Tag krank
60 Reichsmark den fahrplanmäßigen D-Zug nach Berlin
Eine Viertelstunde später schon, so um 18.00 Uhr rum, bestieg ich im Hauptbahnhof von Koblenz mit einer Hin- und Rückfahrkarte für etwa 60 Reichsmark den fahrplanmäßigen D-Zug nach Berlin-Potsdamer Bahnhof, der aus Brest in der Bretagne kam und bis Breslau fahren sollte.
Der endlos lange Zug war mit Fronturlaubern überfüllt; ich bekam gerade noch einen Stehplatz auf dem Gang und hielt die ganze Fahrt über meinen Kopf aus dem offenen Fenster, weil der Gestank, den die Soldaten verbreiteten, unerträglich war.
Auf dem Kopf trug ich einen Hut meines Vaters, um mich älter zu machen, auf dem Körper meinen grünweiß gesprenkelten Konfirmandenanzug, unter dem Arm meine Schulaktentasche mit belegten Broten der besorgten Mutter.
Doch meine Stimmung war nur mit euphorisch zu beschreiben. Und obwohl ich die Nacht zuvor schon vor Erregung kaum geschlafen hatte, wurde ich auch in dieser Nacht nicht müde, aus dem Zugfenster zu gucken und jede neue Station mit lodernder Neugierde in mich aufzusaugen. Es war der Aufbruch in das Erwachsenenleben.
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Der 14. April 1944 - Beinahe ein Fehlstart
Ein Fehlstart, wie es schien, dem im Morgengrauen ein totaler Zusammenbruch folgte, als der D-Zug, der Koblenz mit nur einer Stunde Verspätung verlassen hatte, vor Brandenburg zwei Stunden stehenblieb, weil ein Luftangriff in der Nacht den Bahnhof verwüstet, vielleicht auch die Strecke nach Potsdam und Berlin zerstört hatte.
Schwarze Verzweiflung erfaßte mich, als es zehn Uhr morgens war und der Zug, der um sieben oder acht Uhr früh in Berlin hätte eintreffen sollen, immer noch vor Brandenburg wartete. Als er um zwölf Uhr mittags endlich im Schrittempo weiterrollen konnte und gegen 14.00 Uhr im Potsdamer Bahnhof ankam, hatte ich meine ganzen Zukunftshoffnungen begraben. Wer wollte was von einem Kerl wissen, der nicht einmal pünktlich zu einer Aufnahmeprüfung erschien!
Ich rannte mit heraushängender Zunge, in Schweiß gebadet, den Hut meines Vaters festhaltend, über den Bahnhofsvorplatz in die Saarland-und Prinz-Albrecht-Straße, die heute Stresemann- und Niederkirchner Straße heißen.
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»Herr... Tremper aus Koblenz?«
Ich hatte den Stadtplan studiert und kannte mich blind aus. Ich stürzte die Treppe in der Zimmerstraße 23 hinauf, läutete neben dem Schild »Reichsausschuß der Bildberichterstatter«, ein Summer ertönte, die Tür ging auf, ich stand in einem Gang vor einer anderen Tür, klopfte an und öffnete sie - genau in dem Augenblick, als auf der gegenüberliegenden Seite eines großen Berliner Zimmers eine Tür aufging und eine ältliche Sekretärin mit einer Liste in der Hand hereinblickte, sich umsah und etwas zögerlich rief: »Herr... Tremper aus Koblenz?«
Sie zögerte, weil das Zimmer voll mit jungen Damen war, hübschen, eleganten Weibern, die aussahen wie Filmschauspielerinnen. Sie hielten großformatige Schwarzweiß-Aufnahmen, auf graue Pappe aufgezogen, vor sich auf den Knien, rauchten Zigaretten in langen Spitzen oder malten sich die Lippen.
»Hier -!«japste ich und stürmte durch das Zimmer. Die Sekretärin ließ mich eintreten, und ich stand vor der Längsseite eines Konferenztisches, an dem acht oder zehn Herren saßen, die bei meinem Anblick zusammenfuhren.
Ich muß ungeheuer ausgesehen haben, wie ich später durch einen Blick in den Spiegel feststellen konnte, denn in der langen Nacht im Zug, in der ich ständig den Kopf aus dem Fenster hielt, hatte ich den Ruß der Braunkohlenfeuerung von der Dampflokomotive voll ins Gesicht bekommen. Ich sah wie ein Schornsteinfeger aus - schlimmer noch: In den Morgenstunden, als die Verspätung meine Euphorie in Hoffnungslosigkeit verwandelt hatte, muß ich, ohne es zu merken, in Tränen ausgebrochen sein, deren Spuren sich nun wie weiße Fäden durch mein verrußtes Gesicht zogen.
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Was haben Sie denn da unter dem Hut, Mann?
Jedenfalls, die Herren Prüfer des Reichsausschusses der Bildberichterstatter, die sich durch einen endlos langen Vormittag hindurch hauptsächlich mit den ambitionierten jungen Damen beschäftigt hatten - in Berlin war im Herbst 1943 der Film »Großstadtmelodie« von Liebeneiner angelaufen, mit Hilde Krahl in der Rolle einer feschen Bildberichterstatterin, die sich den Chefredakteur der »Berliner Illustrirten« angelt -, wurden auf einmal hellwach und betrachteten mich wie eine Erscheinung von einem anderen Stern.
Nach einem langen Schweigen fragte einer nur: »Wer ist denn das?« Und ein anderer beugte sich vor, als ich »Tremper aus Koblenz« sagte, und fragte mit Pokermiene: »Was haben Sie denn da unter dem Hut, Mann?« Was mich, an Berliner Humor noch nicht gewöhnt, lediglich veranlaßte, den Hut meines Vaters fester auf den Kopf zu drücken und »Nichts... gar nichts!« zu stammeln.
Auf die Idee, ihn beim Betreten des Zimmers abzunehmen, war ich schon deswegen nicht gekommen, weil ich sicher zu sein glaubte, daß dann jeder mein wahres Alter erraten würde. Die Brüder vom Reichsausschuß aber fingen sofort an, mich mit dem sonderbaren Hut über dem Schornsteinfegergesicht durch den Kakao zu ziehen: »Ach«, sagte einer, vertraulich blinzelnd, »ich weiß doch, was Sie da drunter haben!« Und ein anderer stand auf, marschierte um mich herum, betrachtete mich genauer und flüsterte mir zu: »Lassen Sie sich nicht provozieren, junger Mann! Das ist schließlich Ihr Hut, und den können Sie so lange auf dem Kopf behalten, wie Sie wollen!«
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Haben Sie Fotos mitgebracht ?
Na ja, ich muß ihn dann wohl doch abgenommen haben, als ich auf die nächste Frage »Haben Sie Fotos mitgebracht?« die Herren mit einem heftigen Kopfschütteln irritierte. Der kurze Blick ins Wartezimmer mit all den toll aufgezogenen Vergrößerungen der jungen Damen hatte mich belehrt, daß ich mit meinen bescheidenen 9 X 12-Vergrößerungen mit Büttenrand keine Chance haben würde.
»Ja, aber ohne eigene Fotos - wie sollen wir Sie da prüfen können?« fragte der Vorsitzende, ein Dr. Jahnke. Nun fing ich an, in den Taschen meines Konfirmandenanzugs zu suchen, murmelte: »Vielleicht habe ich irgendwo noch eins...«, und überreichte schließlich den kleinen Packen Fotos, die ich für meine besten hielt: »Leider keine Vergrößerungen...«
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Die Wirkung war phänomenal!
Die Herren hatten, wie ich später erfuhr, mit langen und immer länger werdenden Zähnen die hochprofessionell aufgezogenen Fotos der vielen Bewerberinnen und ihre funkelnagelneuen Leica-Ausrüstungen betrachtet, die sie sich wohl »hintenherum«, durch Beziehungen, verschafft hatten.
Und nun stand ein komischer Bursche vor ihnen, der ihnen etwas von seiner selbstgebauten Zigarrenkiste mit Box-Objektiv erzählte und Bildchen mit Büttenrand vorwies. »Du hattest eigentlich schon durch dein linkisches Auftreten gewonnen«, verriet mir Hanns Spudich, der unter den Prüfern saß, »und dadurch, daß du ein Mann warst!«
Normalerweise hätten sich zu den zweimal jährlich stattfindenden Aufnahmeprüfungen nie mehr als ein Dutzend Männer und zwei, drei Mädchen gemeldet, erfuhr ich, durch den Film »Großstadtmelodie« aber sei eine Art Seuche ausgebrochen, und sie hätten »über siebzig Weiber!« vorgefunden, als sie sich an diesem 14. April 1944 in der Zimmerstraße trafen.
»Dazu vier Männer, alle in Soldatenuniform - sogar zwei Verwundete darunter, und du warst der letzte.« Nur drei der über siebzig Frauen wurden aufgenommen, aber alle fünf Männer.
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Wie haben Sie das gemacht?
Ich merkte, daß der Hase auf mich zulief, als sie die Köpfe zusammensteckten und meine Bildchen leise kommentierten: »Das hier mit der Riesenpranke dieses Besoffenen auf dem Hintern der Kellnerin«, fragte Dr. Jahnke, »wie haben Sie das gemacht?«
Ein Schnappschuß, antwortete ich, am Stammtisch meines Vaters, und ich hätte meine Zigarrenkiste ganz nahe herangehalten an die Pranke, damit sie perspektivisch verzerrt erscheine. Darauf wechselten die Prüfer einen respektvollen Blick und murmelten Anerkennendes.
Daß die »Kellnerin« meine Mutter war und die Pranke des »Besoffenen« dem Onkel Hermann gehörte, daß ich den »Schnappschuß« sorgfältig inszeniert und ausgeleuchtet hatte, verschwieg ich.
»Und diese Waldhexe mit der Trage Holz, wie haben Sie das zahnlose alte Weiblein dazu gebracht, so zu grinsen?« Na, ich hätte sie angerufen und, als sie sich umdrehte, auf den Auslöser gedrückt, ganz einfach. So ging das fast eine Stunde lang, unterbrochen von Fragen nach der Zusammensetzung eines Entwicklers, des Fixierbades - »Und was brauchen Sie noch dazu?« »Kaliummetabisulfit« antwortete ich ohne Stocken, was wiederum wohlwollendes Gemurmel hervorrief. Kurz, als sie sich erhoben und mir nacheinander die Hand reichten, wußte ich, daß sie mich nehmen würden. »Sie hören von uns!« sagte Dr. Jahnke.
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»Gratuliere!«
Doch da geriet ich in Panik und flehte sie an, mir das Ergebnis gleich zu sagen: »Mein Vater erlaubt mir sonst nie, den Beruf zu ergreifen!« Auch darüber zeigten sich die Herren Prüfer zunächst verblüfft, dann schickten sie mich für eine Viertelstunde zu den Weibern ins Wartezimmer, und dann kam der Dr. Jahnke heraus und sagte: »Gratuliere!«
Ich schwebte wie auf Wolken davon, verlor keinen Blick mehr auf mein geliebtes Berlin, rannte mit dem Hut in der Hand zum Anhalter Bahnhof und bestieg gegen 16.00 Uhr einen Zug nach Frankfurt/Main mit Anschluß nach Braubach. Zwei Stunden war ich in der Reichshauptstadt gewesen, und sie hatten mich nicht einmal nach meinem Alter gefragt!
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Sie werden nie Bildberichterstatter!
Erzähl!« haben mich meine Freunde in Braubach gelöchert. »Wie war's in Berlin?« - und haben damit die Trümmer des Bombenkrieges gemeint. Ich mußte zugeben, daß ich nichts gesehen hatte, was mir besonders aufgefallen wäre.
Auch heute noch, wenn mich jüngere Leute erschauernd nach den Bombenangriffen fragen, habe ich so meine Schwierigkeiten, ihnen das Grauen nahezubringen, das in ihrer Phantasie viel deutlicher haust als in meiner Erinnerung. An von Bomben zerstörte Häuser waren wir auch in Braubach längst gewöhnt.
Dort waren zwar noch keine Bomben gefallen, aber mit meinem Jungzug von der HJ waren wir nach größeren Angriffen ständig zu Hilfeleistungen und Aufräumungsarbeiten nach Köln oder Frankfurt gefahren worden. Und im Frühjahr erst war auch Koblenz heftig bombardiert worden und sah in der Innenstadt wie eine Mondlandschaft aus.
Die großen Luftangriffe auf Berlin
Berliner Straßen um den Anhalter und Potsdamer Bahnhof herum wirkten dagegen schon wieder ordentlich aufgeräumt, weil viel weniger Häuser zerstört waren als in westdeutschen Städten.
Der erste große Luftangriff hatte Berlin-Mitte und den Südwesten erst vor gut einem Jahr, am 1. März 1943, getroffen, der zweite große am 23. August die Wohnviertel von Lankwitz und Südende, und der bis dahin schwerste hatte am 22. und 23. November den Alten Westen südlich des Kurfürstendamms und Teile von Moabit und Tiergarten durch erstmals geworfene Bombenteppiche ziemlich verwüstet.
Das Erstaunliche stellte sich erst nach dem Krieg heraus, als die Verluste gezählt wurden: Auf Berlin waren zwar die meisten Bomben gefallen, doch sie hatten nur 35 Prozent der Wohnungen zerstört; beinahe die Hälfte aller Bomben war in die Wälder und Gewässer jener Gartenstadt gefallen, die sich Groß-Berlin nennt.
Köln und Essen, Frankfurt und Hamburg sahen dagegen, bei weniger Bomben, viel zerstörter aus. Der Bombenkrieg also hatte meinen Drang nach Berlin nicht um ein Jota gemindert.
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Fräulein Porembas Bösartigkeit
Ich konnte es gar nicht abwarten, dem Fräulein Poremba in Koblenz gegenüberzutreten und »Hurra! Ich bin Bildberichterstatter in Ausbildung!« zu schmettern. Doch da erhielt mein jugendliches Ungestüm den ersten Dämpfer: »Sie sind wohl wahnsinnig!« belehrte mich die Chefin eisig. »Der Beruf sieht ein Jahr Fotolabor-Anlernling vor, dann zwei Jahre Fotolaborant, und wenn Sie dann die Laborantenprüfung bestanden haben, dürfen Sie sich zur Aufnahmeprüfung als Bildberichterstatter in Ausbildung anmelden!«
Das war wie ein Eimer kalten Wassers auf mein Haupt. Anstatt mich mit einer Kamera auszurüsten und auf Reportage zu schicken, drohte sie mir mit eben jenem Reichsausschuß in Berlin, der kein Wort über meine Vorbildung hatte wissen wollen.
»Ich werde den Herrschaften in Berlin einen Brief schreiben! Weiß der Himmel, was Sie denen alles erzählt haben! Sie werden nie Bildberichterstatter! Dafür werde ich sorgen! Und nun - an die Arbeit!«
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»Hüte dich vor frustrierten Weibern«
Ich weiß nicht, wie ich diesen furchtbaren Tag überstanden habe. Ich war wie betäubt. Ich machte meine erste Erfahrung im Berufsleben und fand auf das unangenehmste heraus, daß es nicht nur freundliche Menschen gab, wie ich sie im Betriebsbüro des Nationalblattes und in der Berliner Zimmerstraße kennengelernt hatte. »Hüte dich vor frustrierten Weibern«, sagte Walter Vollrath, der
meine Begeisterung über meinen Blitzbesuch in Berlin enthusiastisch und ohne eine Spur von Neid teilte.
»Die Poremba ist eine fanatische Naziziege, die ihren Chef Herbert Ahrens liebt. Während er an der Front ist, will sie seinen Laden mustergültig führen, und dazu gehört auch die Lehrlingsausbildung nach Vorschrift.« Dazu gehörte auch, daß sie den Verführungsversuchen Walter Vollraths tapfer widerstand.
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In Harmonie mit dem NS-Regime leben
Mein Sohn Philip, 1960 geboren (jetzt ist er 19), liest das und meint: »Naziziege? Dann warst du also doch dagegen!«
Aber nein, mein Junge, so eng darfst du die Sache mit den Nazis nicht sehen. Für Typen wie mich und meinen Freund Vollrath war es durchaus möglich, in Harmonie mit dem Regime zu leben und eine übereifrige Frau »Naziziege« zu nennen.
»Nazi« war übrigens ein seltenes Wort, noch im Krieg. Erst hinterher teilten die Sieger das ganze Volk in »Nazis« und »Antinazis« auf. Ich hätte mich auch nicht aufgeregt über einen, der sich als »Antinazi« bezeichnete. Nach unserem damaligen Verständnis wäre das einer gewesen, der die SA oder die Partei nicht mochte, na und? Was hatte das mit unserem glorreichen Führer zu tun?
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Ich muß nochmal nach Berlin
In der Nacht nach meiner Rückkehr schlief ich schlecht, wachte irgendwann schweißgebadet auf und sah den Dr. Jahnke vom Reichsausschuß vor mir stehen, zornbebend einen Brief schwenkend: »Sie haben mich belogen!« schrie er. »Sie werden niemals Bildberichterstatter!«
Da stand für mich fest, daß ich noch einmal nach Berlin mußte - und zwar schnellstens, bevor noch der Brief der Poremba eingetroffen war. Ich versuchte gar nicht erst, meine Mutter erneut um hundert Mark anzupumpen, klaute sie ihr einfach aus dem Versteck im Schlafzimmerschrank und sprang auf den nächsten Zug nach Osten.
Ich kam an einem Samstagvormittag auf dem Potsdamer Bahnhof an und rannte in die nächste Telefonzelle, um J wie Jahnke, Dr., herauszusuchen, fand nicht weniger als acht, darunter zwei mit »ck«, und unter den restlichen sechs einen einzigen, der nicht Zahnarzt, Ministerialrat, Vortragender Legationsrat oder Facharzt für Frauenkrankheiten war, sondern nur »Dr.«.
Eine Stunde später stand ich vor einer Tür in Steglitz, entschlossen, mich auf gar keinen Fall abwimmeln zu lassen, denn dann, sagte ich mir, hätte ich ihn ja auch vorher anrufen können; mein Instinkt, den ich später als Reporter richtig ausbildete, verriet mir schon damals, daß am Telefon jeder Schwache stark ist.
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»Sie!?« Was machen Sie denn immer noch in Berlin?
Es dauerte endlos, bis Dr. Werner Jahnke mir im Bademantel öffnete, mit schlaftrunkenen Augen und zu
Berge stehendem Haar. »Sie!?« rief er. »Was machen Sie denn immer noch in Berlin?« Schon wieder, sagte ich, schon wieder - und platzte mit der Frage heraus, ob der Brief vom Moselland-Bilderdienst schon angekommen sei.
Der arme Mann war völlig verwirrt, lud mich in seine Küche ein, wärmte einen Muckefuck auf und hörte sich kopfschüttelnd meine Geschichte an. Zwischendurch entschuldigte er sich, seine Frau und die Kinder seien »ausgelagert«, die halbe Nacht hätte er wieder im Keller verbracht, und was das Ganze eigentlich sollte, warum ich nicht in Berlin meine Ausbildung zum Bildberichterstatter machte, und überhaupt: »Moselland-Bilderdienst? Ist das der Ahrens mit dem riesigen Stempel auf den Bildern?«
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Meine Ausbildung gleich in Berlin ? - Ein Traum wird wahr
Ich hatte einen richtigen »double take«, wie sie das in Hollywood nennen, hörte seinem Gebrummel zu und spürte plötzlich, wie nach einem Schlag in die Magengrube, ein Schwindelgefühl, ein Ohrensausen, einen trockenen Hals, ich weiß nicht was. »In Berlin?« rief ich. »Sagten Sie eben in Berlin, Herr Doktor?«
Bis zu diesem Augenblick hatte ich zwar ständig von Berlin geträumt, mir aber vorgestellt, daß ich in Koblenz zuerst Bildberichterstatter werden müßte, um dann, wie Vollrath, bei den großen Agenturen in der Reichshauptstadt vorstellig zu werden.
Die Aufnahmeprüfung in Berlin hieß ja nur, daß ich eine Berufsgenehmigung bekommen hatte - und jetzt sagte dieser unwahrscheinliche alte Mann im speckigen Bademantel, ich sollte doch einfach in Berlin bleiben!
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Ich glaubte immer noch zu träumen.
»Na ja«, meinte er, »was ist dagegen zu sagen? Ich gebe Ihnen 'ne Liste mit von all den Fotografen, die ausbilden dürfen, und wenn Sie die besuchen, wird sich schon einer finden, der Sie nimmt. Die leiden doch alle Not, haben nur Weiber an der Hand ... Wie alt sind Sie eigentlich?« Ich druckste herum: »Achtzehn...«Er musterte mich: »Na, na... Wie alt wirklich?« Bedrückt gab ich zu: »Siebzehn...«Er grinste: »Aha, dann also sechzehn und demnächst siebzehn. Ist ja auch egal... Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.«
Ich hätte auch noch keine Laborantenprüfung, gab ich endlich zu. Er guckte, als ob er das Wort noch nie gehört hätte, zuckte mit den Schultern und brummte: »Kaliummeta... Wie heißt das wieder?« Ich schnurrte »Kaliummetabisulfit« herunter. Er schlug mir auf den Rücken: »Verdammt, ich kann's bis heute nicht. Wer das Wort Kalimmeta.. .meta.. .fit aussprechen kann, der is' Fotolaborant, was heißt schon >Prüfung<, >Examen<, alles Schwindel, Kleiner!«
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Und darauf einen Schnaps
Schließlich fand er sogar noch einen selbstgebrannten Schnaps, goß ein, hob das Glas - ich nippte an meinem nur, ich stand noch nicht auf Alkohol -, trank es leer und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch: »Was soll's, ich ruf mal meinen Stellvertreter an, den Spudich. Der wird schon wissen, was wir mit dir anfangen.«
Fünf Minuten später war ich engagiert. »Stell dir vor«, hörte ich den Dr. Jahnke ins Telefon rufen, »da ist dieser jungsche Kerl aus Koblenz, ja, der mit dem Hut, jawoll« - und er guckte sich um, als ob er fragen wollte: Wo isser denn, der Hut? -, »den müssen wir unterbringen, ja, in Berlin unterbringen. Hast du 'ne Idee, wer da in Frage kommen könnte?«
Dann gab er mir den Hörer und griff noch mal zur Flasche. »Haben Sie Zeit?« fragte eine forsche Stimme. »Dann kommen Sie bis zwölf Uhr vorbei, schaffen Sie das? Winsstraße dreizehn, Sie fahren zum Alexanderplatz, nehmen die Straßenbahn über'n Prenzlauer Berg und steigen an der Ecke Immanuel-Kirch-Straße aus.«
Ich war schon unterwegs.
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Der geheimnisvolle Hanns Spudich
Jedes Wort, das an diesem denkwürdigen Samstagmorgen vor fünfzig Jahren gesprochen wurde, habe ich im Gedächtnis behalten, als wäre es gestern gewesen.
Wie auf Wolken schwebend, bin ich durch die Riesenstadt gelaufen. Was für eine Hürde hatte ich da genommen! Ich meine, für einen abgebrochenen Gymnasiasten aus Braubach am Rhein, der seinem Traum vom Filmregisseur nachhing, ohne eine Spur von realer Chance, hatte ich an diesem Tag etwas Ungeheures erreicht: Ich war in Berlin gelandet!
Ich hatte die Reichshauptstadt nicht nur mal eben zu einer kleinen Prüfung besucht, ich hatte hier eine Stellung gefunden, ich würde hier arbeiten - und nicht als Koofmich oder Banklehrling, nein, als Bildberichterstatter!
Für mich stand fest, daß ich damit schon so gut wie auf dem Weg war, Filmregisseur zu werden.
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Hanns Spudich engagierte mich wirklich
Schwierigkeiten sah ich überhaupt keine. Ich wußte, ich würde mich in jeder Lage durchbeißen. Dieses ganz außerordentliche Hochgefühl, das ich an jenem Tag zum erstenmal in meinem Leben spürte, das würde ich jetzt immer empfinden.
Hanns Spudich war ein leicht fülliger Mann mit auffallend scharf rasiertem Gesicht, vierzig oder fünfzig Jahre alt, das eisgraue Haar ganz kurz geschnitten, der mich, solange ich ihn kannte, dauernd aus den Augenwinkeln zu mustern schien.
Einer, der höflich, aber kurz angebunden war, von jedem sofort Begreifen erwartete und, wenn er sich aufregte, ganz leise und schrecklich zynisch werden konnte. Ich wußte in den fünf Jahren, die ich ihn kennen sollte, nie so recht, was ich von ihm zu halten hatte.
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Auffallend war die Kleidung, die er bis Kriegsende tagaus, tagein trug: braune Reitstiefel, braune Reithose, braunes Partei- oder SA-Hemd mit braunem Schlips, auf dem das Parteiabzeichen prangte, darüber einen zivilen, einreihigen Sakko in braun oder grau.
Ich erkannte ihn sofort als einen der Männer wieder, die mich ein paar Tage vorher in der Zimmerstraße geprüft hatten; da war mir seine halbe Uniform nicht aufgefallen. Viel, sagte er, könne er mir nicht zahlen, aber er werde die Kosten für ein möbiliertes Zimmer übernehmen und seine Frau werde für ein Mittagessen sorgen, ob ich mit 50 Mark einverstanden sei?
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Seine Frau, was für ein Schatz!
Damals waren 50 Reichsmark ein Haufen Geld - ein Sperrsitz im Kino kostete 90 Pfennig, zehn »Schusterjungs«, wie die Berliner diese Brötchen aus Roggenmehl nennen, 30 Pfennig. Natürlich stimmte ich begeistert zu. Dann stellte er mir seine Frau vor, eine zierliche, immer gehetzt wirkende Person in seinem Alter, das gewellte dunkle Haar fest an die Kopfhaut geklebt, die dunklen Augen hinter einer Brille versteckt, in stets unauffälliger dunkler Kleidung, eine Frau zum Übersehen - aber was für ein Schatz! Sie hat sich, vom ersten Tag an, wie eine Mutter um mich gekümmert.
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Politik war irgendiwe tabu .... eher eine Art Geheimcode
Nie fiel ein Wort über Politik zwischen den beiden, wenn ich zugegen war. Sie sprachen überhaupt nur in halblaut geäußerten Kürzeln miteinander. Er trat aus dem Herrenzimmer, in dem sein Schreibtisch stand, hinaus auf den langen Berliner Flur, rief ihren Namen, und sie erschien lautlos, wie ein Gespenst, aus der Gegend der Küche.
Vorangehend murmelte er etwas, das klang wie: »Mittermeier macht Schwierigkeiten in der Sache Bramholt...« Sie folgte ihm ins Herrenzimmer, den Kopf zur Seite geneigt, an den Lippen nagend, und sagte plötzlich: »Rotholz? Daß er vielleicht...«
Und Spudich schlug sich klatschend gegen die Stirn und rief: »Aber ja! Daß ich nicht von selbst darauf gekommen bin!« Und schon war sie wieder hinausgehuscht. Wäre ich ein Jahr oder zwei älter gewesen, hätte ich die Spudichs für mysteriös gehalten, ein seltsames Paar, das mit den übrigen Hausbewohnern, solange ich da war, keinen Verkehr pflegte.
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Die Überraschung meiner Erkenntnis kommt weiter hinten
Es juckt mich, schon jetzt zu verraten, mit wem ich es da zu tun hatte. Aber die Überraschung kann nur um so größer werden, wenn ich mich zurückhalte und einigermaßen chronologisch erzähle.
Hanns Spudich tippte mit zwei Fingern einen unkonventionellen Vertrag, in dem aufgeführt wurde, was er mir an Leistungen zugesagt hatte, ließ ihn von mir unterschreiben, gab mir das Original mit und sagte: »Ich seh' Sie dann am 1. Mai hier, Hei'tler!«
Ich knallte die Hacken zusammen: »Heil Hitler!«, und rannte zurück zum Alexanderplatz, um mit der S-Bahn erneut zum Anhalter Bahnhof zu fahren. Mein Vater, so hatte ich gehört, machte in einer Kaserne bei Heidelberg einen Gasmasken-Lehrgang also fuhr ich zuerst über Frankfurt nach Heidelberg.
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Du wirst am Galgen enden, im Großstadtsumpf versinken
Am Kasernentor ließ ich den Zollgrenzschutzassistenten Heinrich Tremper herausbitten, stürmte ihm enthusiastisch, wie schon lange nicht mehr, entgegen, küßte ihn ab und sprudelte: »Ich gehe nach Berlin!«
Mein Vater, einer der herzlichsten und liebevollsten Menschen, brauste auf: »Was soll das heißen!?« Ich zeigte ihm den Vertrag mit Spudich. Er zerriß ihn auf der Stelle und schrie mich an: »Du bist wohl verrückt geworden! Nach Berlin! Berlin!«
Er war vollkommen außer sich, so hatte ich ihn selten erlebt. Ohne meinen Argumenten auch nur zuzuhören, befahl er, mich »auf den Hosenboden zu setzen« - sein Lieblingsausdruck - und die Lehre in Koblenz erst einmal zu beenden.
Inzwischen sei der Krieg sowieso vorüber und man könne über Berlin nachdenken - »falls es dann Berlin noch gibt!« Er dürfte gemerkt haben, daß er mich nicht umstimmen konnte, mußte aber in die Kaserne zurück und rief mir zum Abschied den unvergeßlichen Satz zu: »Du wirst noch mal am Galgen enden!«
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Hier ein wenig über meine Mutter und unsere Familie
Meine arme Mutter indessen meinte, daß mein Vater verrückt geworden sei, als ich in Braubach mit den Worten vor sie hintrat: »Ich war beim Papa in Heidelberg - er ist einverstanden, daß ich nach Berlin gehe!«
Die arme Frau, damals 38 Jahre alt, war in den zwanziger Jahren als Dienstmädchen vom Land ins »Gasthaus zur Marksburg« gekommen.
Mein Vater hatte sie am 24. Dezember 1927 geheiratet und scheint in der Heiligen Nacht zum erstenmal mit ihr geschlafen zu haben, denn am 19. September 1928 gebar nicht nur sie ihren ersten Sohn, sondern auch die Frau seines besten Freundes, der am selben Tag geheiratet hatte. Die liebe gute Emilie!
Drei Jahre nach mir kam meine Schwester Gisela, sechs Jahre später mein Bruder Dieter und wieder drei Jahre später Bruder Ulrich.
Ich hatte Grund zu der Annahme, daß sie sich um den Ältesten am meisten sorgte, weil sie ihn nicht mehr bändigen konnte; mein Entschluß, nach Berlin zu gehen, muß der guten Seele mehr Leid zugefügt haben als der ganze Krieg.
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Mutter hatte unbewußt ihren bäuerlichen Instinkt
Noch in der Nacht fing sie erbittert an, meine ganzen Klamotten zu verstecken, alles, was ich ihrer Meinung nach für meinen Umzug nach Berlin brauchte.
Wie weise und vorausschauend war sie in ihrem bäuerlichen Instinkt! Alles, was sie wegtrug und verschloß, meine selbstgebaute Kamera, meine gesammelten Illustrierten-Ausschnitte über Schlachten und Helden, meine Bücher, Fotoalben, Schmalfilme, Auszeichnungen der Hitlerjugend - alles rettete sie vor den Berliner Bomben.
Als ich am nächsten Morgen aus Angst, mein Vater könnte anrufen, schon früh ging, in der Tasche noch einmal geklaute hundert Mark, unter dem Arm einen Karton mit sechs Büchern, die sie mir gelassen hatte, darunter Knaurs Konversationslexikon und Felix Dahns »Kampf um Rom«, stand sie heulend in der Wirtshaustür, den kleinen Uli auf dem Arm, und rief mir den ebenfalls unvergeßlichen Satz nach: »Du wirst im Großstadtsumpf versinken!«
Woher sie das wohl hatte?
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Schon im Zug nach Berlin meldete sich der Sumpf ....
Ich glühte vor Berlin-Fieber, fühlte mich leicht und siegessicher und war nicht einmal beunruhigt darüber, daß ich weder einen Mantel noch ein zweites Hemd besaß, sondern nur das, was ich auf dem Leib trug: meinen grünweiß gesprenkelten Konfirmandenanzug, ein weißes Hemd und einen roten Schlips, eine Unterhose, ein paar braune Halbschuhe und graue Socken.
Schon im Zug nach Berlin meldete sich der Sumpf, vor dem meine Mutter mich warnen zu müssen geglaubt hatte, in Gestalt eines furchtbar netten Herrn, der sich über meinen Persilkarton wunderte und dem ich »mit roten Backen«, wie er mir später sagte, von der abenteuerlichen Woche erzählte, die ich hinter mir hatte.
»Jetzt fahr' ich schon zum dritten Mal nach Berlin!« prahlte ich. »Ich fühl' mich da schon wie zu Hause!« Ob ich denn auch schon eine Bleibe hätte, wollte der Herr wissen, und ich mußte gestehen, daß ein Untermieterzimmer erst am 1. Mai auf mich wartete.
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Dieser freundliche großherzige Mensch hieß Bruno
Da war dieser freundliche Mensch so großherzig, mir eine Unterkunft in seiner Wohnung in Neukölln anzubieten!
Als wir in Berlin aus- und in die U-Bahn umstiegen, durfte ich ihn schon Bruno nennen Alles war tipptopp in seiner Junggesellenwohnung, eine herrlich große Couch wartete auf mich, die er auch noch mit duftender Bettwäsche überzog. War ich ein Glücksjunge!
Und das war ich wirklich, denn wenn ich nicht seit drei Jahren schon in lebhaftem Verkehr mit einer Frau geübt gewesen wäre, hätte ich womöglich nur stillgehalten, als sich in der Nacht eine Hand unter meine Bettdecke verirrte und nach meinem Dingsda tastete.
Bevor ich richtig wach war, hatte der gute Bruno es schon im Mund. Ich schlug wild um mich, sprang auf und schrie dem Samariter alle nur denkbaren Grobheiten ins Gesicht. Das war eine andere Zeit damals als heute.
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Die erste "Erfahrung" ging verdammt schnell zuende
Homosexuelle mußten befürchten, für die Verführung eines Jugendlichen nicht nur einen Klaps auf den Hintern zu bekommen. Ich hatte zwar von den entsprechenden Gesetzen keine Ahnung, drohte aber wild mit der Polizei - und erzielte die erschreckendste Wirkung: Der Mann warf sich mir zu Füßen, umklammerte meine Beine und weinte und schluchzte geradezu um sein Leben.
Angewidert zog ich mich an und verließ fluchtartig seine Wohnung, tastete mich durch die pechschwarze Hermannstraße zur U-Bahn und landete in einem öffentlichen Schutzkeller, denn die Sirenen heulten auf einmal.
Ich war, ich kann es nicht anders beschreiben, begeistert, war einfach selig, in der ersten Nacht in Berlin schon einen Luftangriff mitzuerleben. Und wie enttäuscht war ich, als draußen nur ein bißchen geschossen wurde, aber keine Bomben fielen!
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Ich war zu früh in Berlin - Gehen Sie zu Leineweber!
Mir kommt's in der Erinnerung so vor, als ob ich nach dieser ersten Nacht wochenlang durch Berlin gewandert wäre, immer den Karton unter dem Arm, daß ich nachts im Tiergarten auf einer Bank schlief, mit den Büchern als Kopfkissen, und einmal am Tag auf einer Bahnhofsmission des Roten Kreuzes eine warme Suppe bekam.
Aber mehr als drei, vier Tage werden es nicht gewesen sein, denn ich weiß noch genau, wie stolz ich meinen abgehakten Zettel hervorholte, auf dem gut hundert Sehenswürdigkeiten aufgeführt waren, als ich am 25. April 1944 kapitulierte und mich kleinlaut bei den Spudichs in der Winsstraße meldete, fünf Tage zu früh.
Ich hatte das Olympiastadion und das Brandenburger Tor, den Funkturm und das Schloß, den Wannsee und den Müggelsee besucht, sämtliche U- und S-Bahnlinien kennengelernt, mich vor dem TOBIS-Atelier in Johannisthai und der UFA-Filmstadt Babelsberg herumgetrieben.
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Gleich am Sonntag den General Wlassow fotografieren
Und nun war ich halb verhungert und stank vor Dreck, und Frau Spudich wusch mir Hemd und Unterhose und steckte mich in ihre Badewanne. Und Herr Spudich meinte, ich käme wie gerufen, ich könnte gleich einen ersten Auftrag übernehmen und am Sonntag den General Wlassow fotografieren, der vor russischen Arbeiterinnen bei Sarotti in der Tempelhofer Oberlandstraße eine Ansprache hielte, und ob ich mich mit der Contax auskennen würde. Ich nickte nur überlegen und fragte: »Oberlandstraße? Gibt's da nicht ein UFA-Atelier?«
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Wie aufregend Berlin war! - Das Haus brennt!
Kaum hatte ich vier Straßen weiter mein Untermieterzimmer bezogen und meine sechs Bücher auf dem komischen Nachttisch neben der Nippesfigur abgestellt, gab's einen frühabendlichen Fliegeralarm, und als ich mit den Spudichs wieder aus dem Keller kam, stand da schon meine gehbehinderte Zimmerwirtin im Treppenhaus und schrie: »Das Haus brennt! Das Haus brennt!«
Ich rannte ihr voran in die Chodowiecki-Straße und dort in den zweiten Stock - was brannte, war nur der Dachstuhl des vierstöckigen Mietshauses. Da aber die Feuerwehr anderweitig im Einsatz war und die »Hausgemeinschaft« mit Wassereimern, Sand und Feuerpatsche wenig ausrichten konnte, brannte es schließlich den Rest des Tages und die halbe Nacht und war am nächsten Morgen nur noch eine rauchende Ruine.
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Eine Nacht auf der Couch bei den Spudichs
Ich rettete meine sechs Bücher und die Nippesfigur und mußte bei den Spudichs auf der Couch schlafen. Was am nächsten Morgen zu einem ernsthaften Krach zwischen den Eheleuten führte. Die liebe Frau Spudich hätte mich am liebsten als Untermieter dabehalten, was ihrem Mann jedoch überhaupt nicht gefiel; er telefonierte herum und fand ein neues Zimmer bei einem Kollegen namens Fischer am Friedrichshain, direkt neben dem großen Flakbunker.
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Ein munteres Treiben in einer riesigen Atelierwohnung
Dort herrschte in einer riesigen Atelierwohnung ein munteres Treiben: Die Tür wurde mir von einer splitternackten Frau geöffnet, die seelenruhig nach meinem Begehr fragte, sich auf hohen Absätzen umdrehte, voranstolzierte und mir eine dunkle Kammer zeigte, in der neben allerlei Gerumpel ein eisernes Bettgestell an der Wand lehnte.
»Wir machen dir das zurecht, Kleiner!« rief der Fotograf aus seinem Atelier. Eine zweite Nackte, die sich wenigstens einen Frisiermantel übergezogen hatte, gab mir einen Schlüssel, und im Hinausgehen sah ich dann noch eine dritte und vierte Nackte in dem von Scheinwerfern peinlich hell ausgestrahlten Atelier. Von dem ominösen Wohnungsinhaber Fischer sah ich nur den Rücken.
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Meine dritte Unterkunft in zwei Tagen
Als ich abends, nach endlosem Schlangestehen auf dem Polizeirevier und dem Wirtschafts- und Ernährungsamt (wir sind noch im April 1944), meinem neuen Zuhause zustrebte, polizeilich angemeldet und mit Lebensmittelkarten und Bezugscheinen versehen, wurde ich vom nächsten Luftangriff überrascht und schaffte es gerade noch zum Bunker am Friedrichshain.
Das war nur ein kurzer Alarm, und es fielen nur Brandbomben, aber das Haus, in dem ich meine Bücher in Fischers Atelier abgestellt hatte, brannte lichterloh.
Ich ging zurück in den Bunker, übernachtete auf einem Metallrost ohne Matratze und bekam am nächsten Morgen den Tip, mich nach einem Platz im Jugendwohnheim in der Wehlauer Straße in Weißensee zu erkundigen.
Ein Anruf von Hanns Spudich genügte, und ich hatte meine dritte Unterkunft in zwei Tagen.
Frau Spudich war wirklich ein Schatz
Doch jedes unangenehme Erlebnis hat auch seine angenehmen Seiten, wie ich jetzt feststellen konnte: Die liebe Frau Spudich jagte mich gleich nach der zweiten Ausbombung erneut zum Wirtschaftsamt, Formulare für »Luftkriegsgeschädigte« holen, und an ihrem Küchentisch sitzend, trug sie all das als »verlorengegangen« ein, was ich aus Braubach nicht mitgebracht hatte: 8 Oberhemden, 9 Unterhemden (ich hatte noch nie Unterhemden getragen), 9 Unterhosen, 4 Anzüge, 2 lange Hosen, 2 kurze Hosen, 4 Paar Halbschuhe, 22 Paar Strümpfe (»geflickt« schrieb sie klugerweise hinzu), 1 Wintermantel, 1 Wolldecke, 1 X Bettwäsche neu, 1 X Bettwäsche »ausgebessert« und was weiß ich, was noch alles.
Staunend sah ich, wie diese kleine, verhuschte Person beim Ausfüllen der Formulare richtig in Rage geriet, rote Flecken auf den Wangen bekam und sich ohne Zögern neben meiner Unterschrift »an Eidesstatt und in Kenntnis der strafrechtlichen Folgen« mit ihrem Namen als »Zeuge« in Gefahr stürzte. Ihr Mann war nicht zu Hause.
»Sie werden sowieso nur die Hälfte bekommen!« verscheuchte sie meine Bedenkea »Aber dann haben Sie doch wenigstens was zum Anziehen! Is' ja fürchterlich, wie Sie rumlaufen! Gehen Sie zu Leineweber!«
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Die vielen Nackten in dem Atelier
Spudich selbst verlor nicht viel Worte über die zweite Ausbombung, auch nicht über seinen Kollegen Fischer, »der wenigstens die Kameras mit in den Keller genommen hat...«
Als ich ihm zögernd von den nackten Frauen in Fischers Atelier erzählte, verzog er keine Miene, erklärte nur, gleichmütig nickend: »Jaja, der arbeitet auch für den Reichsnährstand ... « Was mich verwirrte, denn den »Reichsnährstand« hatte ich bis dato für eine Organisation der deutschen Bauern gehalten.
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Die nackte Bille aus der Nürnberger Straße
Ein paar Wochen später bekam ich mit, daß auch Hanns Spudichs Sportbild-Verlag schon lange keine Sportereignisse mehr dokumentierte. Da schickte mein Chef mich mit einem verschlossenen Umschlag in die Nürnberger Straße, im Hinterhof der Mampe-Bar, drei Treppen, zu einem jungen blonden Wesen das sich »Bille« nannte und mit einem U-Boot-Fahrer verheiratet war.
Sie riß den Umschlag auf, kicherte heftig, lud mich zu einem Tee mit Gebäck ein, und als wir eine Stunde später im Bett lagen, zeigte sie mir, was ich ihr gebracht hatte: Aktfotos.
Die zwischen den Beinen kunstvoll rasierte Bille und dazu lauter nackte Blondinen, die sich an den Händen faßten und Ringelreihen in wogenden Kornfeldern tanzten. Mir dämmerte, was es mit dem »Reichsnährstand« auf sich hatte.
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»Schönheit und Fruchtbarkeit« oder »Kraft durch Sinnenfreude«
Bille erzählte, daß der Reichsbauernführer Darre ganz versessen auf diese Art der optischen Darstellung seiner Erfolge war und auch im Krieg noch in regelmäßigen Abständen Kalender mit Titeln wie »Schönheit und Fruchtbarkeit« oder »Kraft durch Sinnenfreude« herausbrachte, die deutschen Landwirte wären ganz hingerissen davon.
Sie zeigte mir sogar einen ganzen Stoß Verehrerbriefe »an das Mädchen mit dem seidig-goldenen Schamhaar und den lustigen Augen«.
Lustig war meine Bille, die sich eingebildet hatte, sie müßte mich, den sie für »siebzehn« hielt, in die Sexualität einführen, wie ihren jungfräulichen Ehemann, der sich als U-Bootfahrer auf den Weltmeeren herumtrieb.
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1944 - Feste in der Privatvilla des Dr. Robert Ley
Auch über gewisse Feste in der Privatvilla des Dr. Robert Ley, seines Zeichens Leiter der Deutschen Arbeitsfront, plauderte sie ungeniert, obwohl sie im gleichen Atemzug erwähnte, daß alle, die dort nackt (»nur so'n paar Schleierchen, die er uns gerne selbst vom Leibe riß!«) aufgetreten waren, Schweigeerklärungen mit Strafandrohung unterschreiben mußten.
Ich blieb damals gleich bei ihr wohnen, traute mich aber nicht, aus dem Jugendwohnheim wieder auszuziehen - man konnte ja nie wissen, wer zuerst ausgebombt werden würde. Und ich dachte oft an Mutters Prophezeiung vom »Großstadtsumpf«.
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Endlich mal richtige Klamotten
Wie ich auch an Vaters Prophezeiung vom »Galgen« denken mußte, als ich mich mit zwei neuen Anzügen, vier neuen Unterhosen und -hemden und einem Paar Halbschuhe im Jugendwohnheim vorstellte.
Frau Spudich hatte recht behalten: Es gab zwar nicht alles, was ich als Opfer des Luftkriegs angeblich »verloren« hatte, aber doch mehr, als ich je besessen hatte. Endlich konnte ich den gräßlichen Konfirmandenanzug wegpacken und kam mir wie erwachsen vor in dem neuen hellgrauen Zweireiher.
Auf den Fähnleinführer der Hitler-Jugend, der dem Wohnheim vorstand, machte der Anzug einen tiefen Eindruck.
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Das Wohnheim in der Wehlauer Straße
In der Wehlauer Straße wohnten sonst nur Lehrlinge der Rüstungsindustrie, die zu viert oder sechst auf einer Bude schliefen. Ich wurde in einem Zweibettzimmer bei dem kindergelähmten kaufmännischen Lehrling Heinz Herbert Krüger untergebracht, der in der Buchhaltung der Argus-Flugmotorenwerke in Reinickendorf arbeitete und wegen seines Gebrechens morgens nicht zum Appell antreten mußte.
Was für ein großer Augenblick, als ich beim ersten Wecken um sieben Uhr vor der Tür Stimmen hörte: »Nein, laß das! Bei Krüger wohnt der Neue, der muß nicht antreten!« - »Wieso nicht?« - »Das ist ein Bildberichterstatter, ungeregelte Arbeitszeiten und so!« - »Ein richtiger Bildberichterstatter von der Presse?« - »Ja doch, wichtiger Mann!« - »Ohh...«
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Mein erster Berliner Freund Heinz Krüger
Heinz Krüger wurde mein erster Berliner Freund und blieb es bis zu seinem Tod im Jahre 1984. Was hat es zwischen den beiden gegenüberstehenden Betten für lange nächtliche Gespräche gegeben!
Der Bursche, drei Jahre älter als ich, war in Pankow geboren, auch dort zur Schule gegangen, hatte sich beim Baden mit seiner Schulklasse in einem verseuchten Tümpel die Kinderlähmung geholt, war durch lange Krankenhausaufenthalte zu einem zynischen Außenseiter mit dem frechsten Mundwerk geworden, das ich je von einem Berliner gehört habe, und hatte absolut keine Achtung vor Gesetz und Moral. Von Heinz wird noch viel die Rede sein müssen.
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