Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.
In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.
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Meine erste Nacht in Berlin
Meine erste Nacht nach meiner Rückkehr nach Berlin habe ich in meinem alten Zimmer in der Nürnberger Straße auf der alten Couch verbracht. An Billes Stelle wohnte jetzt Uschi hier, und das war nicht ganz dasselbe. Ich bin im Schlaf aufgestanden und wie in alten Zeiten an den Eisschrank gegangen, doch der war leer.
Um sechs Uhr früh war ich schon unterwegs zum Alex. Am Eingang des Stadthauses nahm der Pförtner Haltung an, als er den Namen Spudich hörte.
Ich trat meinem ehemaligen Chef mit einer »Täglichen Rundschau«, dem Blatt der Sowjetarmee, entgegen, und das erste, was er, hinter einem imposanten Schreibtisch thronend, zu mir sagte, war:
»Brav! Du hast die Zeitung bei dir, für die du in Zukunft arbeiten wirst. Wie geht's dir denn?« Jetzt sagte er wieder »du«, und seine sonst so kalten blauen Augen blitzten vor Ironie.
Ich sagte ihm nicht, daß ich die viel interessantere »Berliner Zeitung« um sieben Uhr früh schon nicht mehr bekommen hatte. Er schenkte Kaffee ein, gab mir ein halbes Wurstbrot von seiner Frau und ließ mich erzählen, wie ich das Kriegsende erlebt hatte.
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Arthur, willst Du mal einen Werwolf sehen ?
Über den »Werwolf« lachte er lauthals, sprang zur Tür des Nebenzimmers, riß sie auf und rief: »Arthur! Du wolltest doch immer mal einen Werwolf sehen!«
An der Tür erschien ein gemein aussehender Typ, starrte mich an, sagte: »Zweihundertfünfzig und keinen Pfennig mehr!« und schloß die Tür wieder.
Spudich lachte: »Das war Arthur Pieck, der Stadtrat fürs Personal. Der dachte wohl, du willst Magistratsangestellter werden. Der säubert die Verwaltung von Berlin, schmeißt alle Nazis raus, macht aber auch Ausnahmen. Aber alle ehemaligen Parteimitglieder bekommen nicht mehr als zweihundertfünfzig Mark!«
Ich sagte, ich wäre ja nur in der Hitlerjugend gewesen. Spudich lachte wieder. Er war ein ganz anderer Mensch als der, den ich in Erinnerung hatte : lebendig, laut, aus allen Knopflöchern strahlend, wie man so sagt.
»Ich habe schon mit Oberst Kirsanow telefoniert«, sagte er. »Das ist der Chefredakteur der Täglichen Rundschau, er empfängt dich, und wenn du dich ordentlich anstellst, machst du bei ihm genauso Karriere wie bei der Hitlerjugend!«
Er lachte schon wieder, telefonierte, empfing Angestellte, die ihm was zur Unterschrift vorlegten, brüllte einen auch an, lachte wieder, entschuldigte sich bei einem anderen und schob mich zur Tür hinaus. Ohne zu fragen, ob ich denn auch Lust hätte, beim Blatt der Roten Armee zu arbeiten. Lieber verreck' ich, schwor ich mir.
Ich sollte Spudich im Laufe der nächsten Monate noch oft sehen. Und er lachte immer weniger.
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Nicht mal ein Mord...
Was habe ich bloß im August und September 1945 in Berlin gemacht?
Die Erinnerung ist wie ausgelöscht von den Ereignissen des Oktober. Nur einzelne Szenen stehen, wie Blitzlichtbilder, in meiner Erinnerung: Wie ich nachts vor dem Piccadilly-Club am Kurfürstendamm auf diesen hühnenhaften britischen Militärpolizisten losgehe, der wie ein Berserker auf eine rothaarige Frau im Abendkleid einprügelt. Vor den Besatzern verdrückten wir Deutsche uns nach Möglichkeit, vor der Military Police wechselte man am besten die Straßenseite, das waren rauhe Burschen, wie unsere »Kettenhunde«.
Aber diese Szene vor dem Nachtclub war so ungeheuerlich, daß ich mich vergaß und dem Kerl in den Arm fiel. »Stop it! You can't do that!« Ich bekam einen Schlag mit seinem weißen Knüppel auf die Nase, daß meine Brille wegflog und ich Sterne tanzen sah.
Der Schmerz war so überwältigend, daß ich mich vollkommen vergaß. Mit einer Wut, wie ich sie nie wieder empfunden habe, stürzte ich mich, der ich mehr als zwei Köpfe kleiner war, auf den Briten und schlug ihn mit einem tierischen Gebrüll in die Flucht.
Er rannte einfach weg, die Straße hinunter. Ich hätte mich auch auf ihn gestürzt, wenn er mir seinen dicken Revolver vorgehalten hätte.
Der Schmerz machte mich einfach wahnsinnig. Im Krankenhaus stellte sich am nächsten Tag heraus, daß der Kerl mir mit seinem Schlag die Innenwand zwischen den Nasenflügeln verbogen hatte. Die eine Seite war ganz zu, die andere weit offen. Tagelang lief ich mit einem roten Clowns-Klumpen im Gesicht herum, der nur ganz langsam abschwoll. Noch heute ist die Nasenwand bei mir schief.
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Die Erinnerung vom Piccadilly-Club ist immer noch schwach
Wenn ich darauf angesprochen werde, erzähle ich die Geschichte; so habe ich sie in Erinnerung behalten. Aber fragen Sie mich nicht, was ich nachts vor dem Piccadilly-Club zu suchen hatte. Oder ob die Rothaarige, eine Nutte wahrscheinlich, sich bei mir bedankt hat. Ich weiß nur noch, daß sie die Brille suchte und unbeschädigt wiederfand.
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Cornelia Herstatt, die ehemalige Feuilletonchefin des »12-Uhr-Blattes« und weitere Geschichten
Ich sehe mich zur Babelsberger Straße in Wilmersdorf rennen, wo jetzt dieser »Berliner« erschien, ein flott gemachtes Nachrichtenblatt der Briten für die Berliner Bevölkerung, bei dem ich unbedingt arbeiten wollte.
Dort traf ich Cornelia Herstatt wieder, die ehemalige Feuilletonchefin des »12-Uhr-Blattes« und der »B.Z. am Mittag«, die ich von den Film-Sondervorführungen her kannte. Sie teilte ihren Kartoffelsalat mit mir, aber die Jobs waren alle vergeben.
An Uschi in der Nürnberger Straße, ein süßes, dunkelhaariges »Blitzmädel« der Luftwaffe, knüpfen sich die sonderbarsten Erinnerungen:
Wir sind am Wannsee, wie früher mit Bille, und sie ist besoffen und schwimmt so weit hinaus, daß ich es mit der Angst kriege. Sie läßt mich bei ihr übernachten, aber in ihrem eigenen Bett nur, wenn sie getrunken hat. Sie war eine echte Säuferin geworden im Krieg, erzählte die tollsten Geschichten über ihre Erlebnisse in Paris.
Doch eines Abends öffnete ein Mann, der behauptete, mit Uschi verlobt zu sein, und ließ mich nicht mehr in die Wohnung. Das war's.
Ich weiß, daß ich Anita aus der Florastraße in Pankow gefunden habe, auf der Suche nach Heinz Krüger. Und daß ich eines Nachts mit ihr die Sperrstunde der Russen übertrat, als wir in einem Park in Niederoder Hohenschönhausen zu lange herumschmusten.
Wir wurden in einem russischen Wachlokal splitternackt ausgezogen und von den Soldaten aufgefordert, es vor ihren Augen zu treiben.
Ich konnte aber nicht. Die arme Anita haben sie dabehalten. Überall traf man in diesen ersten Monaten nach der »Befreiung« Frauen, die wüste Geschichten von ihren Vergewaltigungen erzählten, einige prahlten sogar damit; es war durchaus nicht so, daß jede an Selbstmord gedacht hätte. Die, denen wirklich übel mitgespielt wurde, redeten wohl nicht darüber.
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Immer wieder hungrig durch die Riesenstadt gewandert .....
Ich sehe mich, wenn ich an diese Zeit vom Herbst 1945 zurückdenke, immer nur hungrig durch die Riesenstadt wandern, irgendeinem Tip oder Gerücht nachlaufend.
Ich sehe mich im Kino sitzen und staunend amerikanische Filme betrachten. In einer Kneipe in der Leibnizstraße, die ich später nie mehr wiederfand, habe ich nächtelang geputzt und Geschirr gespült, um etwas zu essen zu kriegen.
Was habe ich mit meinen Lebensmittelkarten gemacht? Irgendwo muß ich doch polizeilich gemeldet gewesen sein? Warum fallen mir nur Frauen ein, wenn ich an diese beiden Monate zurückdenke?
Warum ist mir völlig entschwunden, wovon der Kollege Hans Borgelt in seinem aufregenden Buch »Das war der Frühling von Berlin« schreibt?
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»Das war der Frühling von Berlin«
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- »Bizarr aufgerissene Fassaden, denen man nicht zu nahe kommen durfte, neben Schutt- und Trümmerbergen. Luftminenkrater, auf deren Grund man die U-Bahn fahren sehen konnte. Viele Sfraßen noch durch Panzergräben gesperrt. Als wir die S-Bahn irgendwo verlassen mußten, weil eine Brücke fehlte, führte ein Trampelpfad durch Hinterhöfe, Treppenhäuser und Reste ehemaliger "Berliner Zimmer" auf die andere Seite des Damms, auf dem auf freier Strecke ein Pendelzug wartete.
- Ausgebrannte Geschütze, Panzer, PKWs und Straßenbahnen als gefahrvolle Kinderspielplätze. Provisorische Gräber in Parks und auf Höfen, kaum beachtet, nur hier und da ein welker Blumenstrauß am rohen Holzkreuz ohne Namen, manchmal noch ein Stahlhelm dran.
- Wie war es möglich«, schreibt Borgelt, der Mitte August aus Mecklenburg zurückkam, »daß in dieser Stadt des Grauens noch zwei Millionen Menschen lebten? Wo lebten sie, wie und wovon?«
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Ob mein armes Hirn sich daran erinnert ?
Keine Ahnung mehr. Ein amerikanischer Psychiater in Palm Springs, dem ich von meinen merkwürdigen Gedächtnislücken berichtete - denn andere Episoden, wie die mit Spudich, kann ich bis heute im Detail nachbeten - vermutete einerseits die Sorglosigkeit der Jugend dahinter, die sich noch keine Gedanken über Familie und Besitz machen muß, andererseits »ganz fürchterliche Erlebnisse« -
»Possibly a murder?« Dann nämlich verweigere das Gehirn die Erinnerung daran, so sei der Mensch wunderbarerweise geschaffen, sonst könnte er mit seinen Erlebnissen nicht fertig werden.
Bullshit - Nicht mal ein Mord fällt mir ein. Ich vermute das Gegenteil von »ganz fürchterlichen Erlebnissen«: Diese ersten Berliner Sommermonate nach dem Zusammenbruch waren einfach ereignisarm, erschöpften sich im täglichen Kleinkrieg um Eßbares, im sinnlosen Herumwandern. Warum sollte mein armes Hirn sich daran erinnern?
Ein besonderer Tag Ende September 1945
Doch dann kam der Tag Ende September, an dem mein Gedächtnis wieder Tritt faßte, an den ich mich glasklar erinnern kann, an dem ich mein gewohntes Glück wieder beim Schopf packte, wie man so sagt, und nicht mehr losließ. Und wie ich mich erinnere!
Ja, aus der Gegend von Koblenz ... hier geht die Geschichte los:
Eine Woche nach meinem 17. Geburtstag begegnete ich Cornelia Herstatt wieder, im Eingang zur Reichsfilmkammer in der Schlüterstraße. Die hieß jetzt »Kammer für Kunstschaffende« und war für die Entnazifizierung belasteter Künstler, auch Journalisten, zuständig.
»Ich bin unbelastet!« jubelte sie und riet mir, bei der »Allgemeinen Zeitung« vorstellig zu werden, die neuerdings von den Amerikanern herausgegeben wurde.
»Aber eigentlich solltest du zuerst mal dein Abitur nachholen! Ohne Abi kannst du doch nicht Journalist werden! Inzwischen macht auch die Universität wieder auf...«
Fünf Minuten später traf ich im 19er-Bus Ilse Urbach, die Freundin von Fritz Dettmann, und erzählte ihr von den Ratschlägen Cornelias. Ilse hatte offenbar schon wieder ein Gläschen intus, denn sie schlug mir auf die Schulter und rief: »Quatsch! Dich nehmen sie auch so! Du trägst doch eine Brille!«
Dr. Kurt Zentner - blonder Haarschopf und himmelblaue Augen
Solchermaßen gestärkt, schmuggelte ich mich am Abend in einen Vortrag im Haus am Waldsee in Zehlendorf, der so ähnlich wie »Die Aufgabe der Presse im demokratischen Deutschland« hieß, und fragte einen Mann, der gerade gehen wollte, ob er wüßte, wo die »Allgemeine Zeitung« ihren Sitz habe.
Anstatt zu antworten, starrte mich der Mann, ein kleiner athletischer Typ mit einem blonden Haarschopf und himmelblauen Augen, durchdringend an und rief:
»Tote deutsche Soldaten! Stimmt's? Sie sind doch der, der all die toten deutschen Soldaten fotografiert hat?«
Ja, so war es . Vor genau einem Jahr hatte mich Spudich zur »Berliner Illustrirten« geschickt, irgendwelche Fotos abholen, und eine ganze Reihe Redakteure war zusammengelaufen, um mich wie ein seltenes Tier zu betrachten
»Ich war der Chef vom Dienst!« half er mir auf die Sprünge. »Doktor Zentner! Was machen Sie denn so? Kommen Sie mal Montag ins Ullstein-Druckhaus in Tempelhof. Kennen Sie das? Am Teltow-Kanal! Wir machen eine neue Zeitung! Tschüs, ich muß los!« Und stürmte hinaus. Ich habe den Dr. Zentner immer nur in höchster Eile gesehen.
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»Daily Mirror!« heißt die Zeitung
»Wie heißt'n die Zeitung?« rief ich ihm nach.
»Daily Mirror!« kam die Antwort. »Daily Mirror!«
Ist ja'n Ding dachte ich, jetzt geben sie den neuen Zeitungen schon englische Namen! Daily Mirror, das hieß auf deutsch doch "Täglicher Spiegel" ?
Am Montagmorgen stand ich um neun beim Pförtner des riesigen Druckhauses neben der zerstörten Brücke über den Teltow-Kanal und hörte, daß die neue Zeitung »Tagesspiegel« genannt werde. Aber die »leitenden Herren« wurden erst um zehn erwartet.
Ein bebrillter Jüngling kam auf dem Fahrrad über die Fußgängerbrücke, drückte es dem Pförtner in die Hand und sagte: »Aber behalten Sie es im Auge! Mein Rad ist hier auf dem Hof gestohlen worden - und dieses habe ich selbst gestohlen! Es ist viel besser als meins! Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht...«
Und wickelte eine Handvoll Tabak aus einem Taschentuch: »Von meinem Balkon!« Der Pförtner bedankte sich überschwenglich und sagte: »Vielleicht können Sie den jungen Mann schon mal mit nach oben nehmen, Herr Luft. Er wartet auf Doktor Zentner!«
Auf der Wendeltreppe in den Turm des Druckhauses machten wir uns bekannt. Friedrich Luft war ebenso neugierig wie ich auf die neue Zeitung und hoffte, Theaterkritiken schreiben zu dürfen. Statt dessen bekam er eine Kolumne über Gartenbau und den Namen »Urbanus«, einmal wöchentlich.
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Tremper - haben Sie keine Fotos mitgebracht ?
Der Dr. Kurt Zentner war ein lauter, temperamentvoller Illustriertenmann, der englisch, französisch und italienisch durcheinander parlierte und gleich nachdem er gekommen war, nach Fotos schrie.
Auch ich wurde gefragt: »Haben Sie keine Fotos mitgebracht? Großer Gott, was soll denn das werden ohne Fotos!« Viel später erst erfuhr ich, daß er bereits vor dem Krieg mit Hermann Dannenberger aus dem Ullstein-Buchverlag, der sich als Autor »Erik Reger« nannte, von einer eigenen Zeitung geträumt hatte, die er nach dem englischen Massenblatt »Daily Mirror« nennen wollte.
Nun war es soweit, und nun hatte der Dr. Zentner nicht genug Fotos, und aus dem »Tagesspiegel« wurde eine seriöse Tageszeitung. Ohne viel zu fragen, winkte er mich zu sich und zeigte mir den Entwurf einer »Weltspiegel« genannten Beilage mit vielen Fotos im Kupfertiefdruck.
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Erik Reger - wie das Eis gebrochen wurde ....
Dann schickte er mich zu Erik Reger. Das war ein schrecklich ernster Mann, der mich lange schweigend anstarrte und schließlich wissen wollte, wo ich mit meinen 17 Jahren herkäme und was ich bisher geschrieben hätte.
»Aus der Gegend von Koblenz«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »und geschrieben habe ich schon eine Menge!« Worüber man geteilter Meinung sein konnte. Anstatt zu fragen, wo die »Menge« veröffentlicht worden sei, insistierte Reger:
»Woher genau?« Ich weiß nicht, warum sich jeder Provinzler in Berlin geniert, sein Dorf zu nennen. Auch ich murmelte: »Ach, das kennen Sie sowieso nicht, das liegt zwölf Kilometer oberhalb von Koblenz...«
Da lächelte der ernste Mann zum ersten Mal und sprach: »Ich komme aus Neuwied, zwölf Kilometer unterhalb, und auch ich habe immer gesagt: aus der Gegend von Koblenz...«
Damit war das Eis gebrochen, und ich brauchte nur noch etwas »zur Probe« zu schreiben.
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Kein Wort über Abitur!
Ich bekam ein leeres Zimmer, eine Schreibmaschine und Papier und tippte mit zwei Fingern: »Mein Deutschlehrer, der Studienrat Nicolai aus Oberlahnstein, hatte einen Rochus auf mich ...«
Ich erzählte die ganze Geschichte, wie ich aus Braubach abgehauen war, beim Sportbildverlag Spudich in Berlin als Bildberichterstatter ausgebildet und nach Rußland geschickt wurde, dort beinahe vor die Hunde gegangen wäre, wie ich anschließend in Berlin viermal ausgebombt und einmal sogar verschüttet worden war, wie ich mich vor der Ankunft der Russen zu den »Werwölfen« gemeldet hatte, die es gar nicht gab, und zu Fuß nach Westdeutschland marschiert war, wo ich in einem französischen Offiziersclub mit meiner Band »Bill's Hot Five« gespielt und mich über München und Hamburg nun doch wieder nach Berlin durchgeschlagen hatte.
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Ein Glück, daß wir den Krieg verloren haben ....
Ich schrieb wie besessen, von elf Uhr vormittags bis elf Uhr in der Nacht, und zwischendurch kam immer mal wieder der Dr. Zentner hereingeschossen, nahm neue Seiten an sich und schlug mir krachend auf den Rücken: »Weiter so, Tremper! Immer weiter, immer weiter!«
Bis er um 23 Uhr in Hut und Mantel erschien, das Licht ausknipste und mich anschrie: »Sie haben ja noch nicht mal den Vertrag unterschrieben, den ich Ihnen heute nachmittag hingelegt habe!«
Da lag, unter all dem Papier, ein Volontärsvertrag auf ein Jahr für 500 Reichsmark monatlich, unterzeichnet von Erik Reger.
Auf dem Hof des Druckhauses wartete der »Lumpensammler«, ein alter Opel mit Chauffeur, der die letzten Redakteure nach Hause brachte. Nach ein paar Kilometern ließ Dr. Zentner vor einem frierenden amerikanischen Wachtposten anhalten, denn er hatte eine Zigarette, aber kein Feuer bei sich, und als wir weiterfuhren, sprach er die denkwürdigen Worte:
»Ein Glück, daß wir den Krieg verloren haben, sonst ständen wir, wie dieser arme Gl, jetzt irgendwo in Rußland auf Wache...«
So hatte ich die Sache noch nie gesehen.
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Der unvergeßliche Kurt Zentner
Der Dr. Zentner wurde mein Mentor beim »Tagesspiegel«, mein beruflicher Vater, der mich mit seinem Temperament so begeisterte, daß ich alles daransetzte, ihm auch privat näherzukommen.
Er war Elsässer, Sohn eines Landgerichtsrats, hatte Philosophie studiert und über Coubertin, den Wiederbegründer der Olympischen Spiele, promoviert. Er war selber Leichtathlet gewesen und hatte 1928 mit seiner 4 X 100-Meter-Staffel Europarekord aufgestellt.
Als die Nazis ans Ruder kamen, hielt er sich als Masseur über Wasser, knetete eines Tages Rudolf Ullstein und bekam durch ihn - obwohl Mitglied der SPD! - eine Anstellung bei der »Berliner Illustrirten«.
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Die »Berliner Illustrirte« kostete 20 Pf. !
Im Olympiajahr 1936 überredete er die Verlagsleitung zu einer Sondernummer über die Spiele, die zum damals unmöglich hohen Preis von einer Mark kalkuliert werden mußte. (Die »Berliner Illustrirte« kostete 20 Pf.!)
Als eine Million Exemplare im Handumdrehen verkauft waren, erlaubte der Verlag Zentner, noch ein zweites Sonderheft mit den vollständigen Ergebnissen aufzulegen. Bedingung: Es mußte am Morgen nach der Schlußfeier im Handel sein.
Zentner brachte das Kunststück durch eine journalistische Brachialleistung zustande und wurde mit einem Studienaufenthalt in den USA belohnt. Als er 1937 von dort zurückkehrte, erklärte er dem Deutschen Verlag - so hieß Ullstein inzwischen -, die Zukunft gehöre dem Farbdruck.
Den »Stern« gabs bereits 1938
Im Jahr darauf - 1938 - brachte er den »Stern« heraus, die erste Vierfarb-Illustrierte Europas, zum Preis von 10 Pfennigen. Der »Stern« wurde ein Riesenerfolg, verkaufte sich innerhalb von sechs Monaten eine millionmal wöchentlich, drohte aber während der Tschechenkrise im Frühjahr 1939 eingestellt zu werden.
Offiziell wegen Papiermangel, inoffiziell erfuhr Zentner vom zuständigen Reichsleiter der NSDAP, Max Ammann, daß der deutsche Soldat keine »nackten Weiber« sehen wolle und »Stern« ohnehin ein jüdischer Name sei.
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Nackte Weiber? - na dann eben "Erika" ....
Seine Auflage hatte der geniale Journalist unter anderem mit Nummerngirls des »Scala«-Varietes auf der Titelseite gemacht. Cholerisch, wie Zentner werden konnte, schmiß er alles hin, schlug seinen jüngsten Mitarbeiter Helmut Kindler als »Hauptschriftleiter« vor und bemühte sich um einen Auslandsjob.
Der junge Kindler ging zu Reichsleiter Ammann und akzeptierte einen neuen Titel für die Vierfarb-Illustrierte, der nichts mehr Jüdisches an sich hatte: »Erika«, nach dem populären Soldatenlied von Herms Niel: »Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein - zwei, drei, vier! - und das heißt - Erika!«
Sofort bekam Kindler wieder reichlich Papier, und »nackte Weiber« druckte auch er. Indessen Kurt Zentner als Korrespondent des Deutschen Verlages nach Lissabon ging - der Krieg hatte begonnen.
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Sein Aufnahmeantrag in die NSDAP - nur bis 1937
Wie so mancher Sozialdemokrat hatte auch Zentner nach einer gewissen Zeit resigniert und den Aufnahmeantrag in die NSDAP gestellt.
Während seines Amerikaaufenthaltes kam dann heraus, daß er eine jüdische Großmutter hatte, und er wurde noch 1937 aus der Partei wieder ausgeschlossen. Er durfte zwar weiterarbeiten, wurde aber 1940 nach neun Monaten unter dem Vorwand, an einer Konferenz teilnehmen zu müssen, aus Lissabon nach Berlin zurückgelockt und bekam den Reisepaß entzogen.
Dieses Jahr NSDAP musste er teuer bezahlen
Nach dem Krieg ließen ihn die Amerikaner für seinen kurzen Ausflug in die NSDAP teuer bezahlen: Der Mann, der während des Krieges mit Erik Reger den Plan einer modernen Nachkriegszeitung fix und fertig ausgearbeitet hatte, durfte selbst nicht Lizenzträger werden.
Der »Tagesspiegel« mit drei (Alibi-) Lizenzträgern
Aber er schaffte die anderen drei Lizenzträger, neben Erik Reger, herbei: Das waren der Theaterkritiker Walter Karsch, der Reichskunstwart der Weimarer Republik, Professor Edwin Redslob, und der Papierlieferant Heinrich von Schweinichen, der allen die notwendige Einlage von 30.000 Reichsmark vorstreckte.
Inoffiziell freilich war Dr. Kurt Zentner mit Erik Reger der Chefredakteur des »Tagesspiegel«. Daran gab es keinen Zweifel, auch wenn er offiziell nicht im Impressum stehen durfte.
Er fand auch den lateinischen Wahlspruch des Blattes: Rerum cognoscere causas - die Ursachen der Dinge erkennen.
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Hat denn keiner 'ne Lulle?
Ich liebte meinen Dr. Zentner, versuchte dauernd in seine Nähe zu kommen, obwohl ich der Lokalredaktion zugeteilt worden war, und rannte meilenweit für ihn, wenn er ächzte: »Hat denn keiner 'ne Lulle?«
Natürlich schenkte ich Nichtraucher ihm meine Zuteilung an »Rauchwaren«, aber Zentner war an »Amis« gewöhnt, und so gewöhnte ich mir an, eine Stunde früher aufzustehen und einen kleinen Umweg von fünf Kilometern zum Friseur Seiler in der Nürnberger Straße zu machen, bevor ich in der Redaktion erschien.
Seiler hatte immer eine Stange Chesterfield parat, die er zum Stückpreis von elf Reichsmark verkaufte. Nein, nicht die Stange, die einzelne »Lulle« kostete elf Mark! Ich trug immer einen Hundertmarkschein von Zentner in der Tasche, für den es 9 Zigaretten gab - und eine Mark zurück
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Die Zentners hatten drei Kinder ... Christian, Zerline und Celia
Natürlich konnte der Doktor, wie ihn alle nannten, schon nach kurzer Zeit nicht umhin, "seinen wertvollsten Mitarbeiter" sonntags mal nach Hause einzuladen, in die Palmzeile 7 in Nikolassee. Dort zauberte seine tüchtige Frau Hede, eine in Sibirien aufgewachsene ehemalige Tänzerin, aus den unglaublichsten Resten auch für den Gast noch eine Extramahlzeit, die schmeckte.
Die Zentners hatten drei Kinder zu dieser Zeit: Christian, Zerline und Celia, und weil sich meine Sonntagseinladungen zur lieben Gewohnheit auswuchsen, bekam ich die jüngste Tochter Celia, drei Jahre alt, regelmäßig in die Hand gedrückt:
»In Friedenau spielt ein Zirkus!« oder »Geht spielen auf der Rehwiese!« Die Kleine war ein süßes Kind, ich seh' sie noch heute auf wackeligen kleinen Beinchen, in ihrem winzigen Berchtesgadener Jäckchen, mir entgegeneilen und jauchzen.
Als Celia elf Jahre alt war, entdeckte ihre Mutter in ihrem Poesiealbum den Satz: »Ich liebe Tremper!«
Als sie achtzehn war, ergab es sich, daß ich ihr erster Mann wurde.
Und als sie vierundzwanzig war, wurde sie meine vierte Frau und ist sie es heute noch (geschrieben 1993 !!!). Es waren, wie Zentner zu sagen pflegte, »schicksalhafte Zeiten!«
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