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Will Tremper war 16 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg zuende ging.

In seiner Biografie von 1993 beschreibt Will Tremper, wie er als überzeugter Hitlerjunge die Zeit ab 1939 erlebt hatte und was davon bei ihm unauslösch- lich im Kopf hängen geblieben war. Und er erzählt von seinen Erlebnissen in Berlin unter den Bomben. Lesenswert ist dazu auch "Als Berlin brannte" (Hans-Georg von Studnitz). Der Zusammenhang schließt sich über die Curt Riess'sche Biografie "BERLIN 1945-1953" und dessen beide dicken Film-Bücher, in der der Name Tremper aber nicht genannt wird. Will Tremper hingegen schreibt daher sehr genüsslich über "die anderen Seiten" bekannter Personen aus Politik und Film - natürlich auch über Curt Riess. Die einführende Seite steht hier.

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Heisser Sommer 1945

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Am 21.April bis 7.Mai von Naumburg/Saale nach Braubach/Rhein

Bei Einbruch der Dunkelheit schlich ich mich aus Naumburg an der Saale heraus; es war Samstag, der 21 April 1945. Am Montag, dem 7. Mai, traf ich in Braubach am Rhein ein, nach 16 Tagen Fußmarsch, stur nach Westen.

Ich bin nie wieder »dem Feind« in die Hände gefallen, denn ich hielt mich eisern an die Regel: tagsüber in einem Versteck schlafen, nachts wandern. Was insofern gefährlich war, als in diesen Tagen der Krieg ja erst zu Ende ging und alle Deutschen bei Einbruch der Dunkelheit von der Straße verschwunden sein mußten, »Curfew« herrschte, das »Ausgehverbot«; bei Zuwiderhandlung wurde sofort geschossen.

Praktisch bin ich von einem Wald zum anderen gelaufen, ließ Weimar und Erfurt links und Gotha rechts liegen, überquerte den Thüringer Wald und die Rhön, schlug einen großen Bogen um Fulda, das eine amerikanische Supergarnison zu werden schien, und marschierte über Gießen, Wetzlar und Limburg bereits durch den heimatlichen Taunus, bis ich in Nastätten landete, mitten unter Verwandten mütterlicherseits.
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Hitler ist tot

Durch die Woche in Naumburg hatten die Amerikaner jeden Schrecken für mich verloren, doch ich mußte befürchten, als »Werwolf« auf ihren Fahndungslisten zu stehen Was sich als unbegründet herausstellte, während die Franzosen richtig unangenehm wurden.

Aber bevor ich auf die Rankünen dieser Besatzer komme, muß ich unbedingt noch den bizarren Effekt erwähnen, den die Nachricht von Hitlers Tod auf mich hatte. Das war am 1. Mai vormittags - in Berlin hatten sie's schon am Abend vorher erfahren -, als ich bei Bad Salzschlirf gerade ein Flüßchen namens Schlitz durchwatet hatte und in einem dichten Gebüsch an einem besonnten Hang meine Hose auszog, deren Beine naß geworden waren; Stiefel und Strümpfe hatte ich in der Hand getragen.

So lag ich faul in der Sonne und dachte wahrscheinlich über das einzige nach, das mich von morgens bis abends bewegte - wo kriegst du was zu essen her? Da hörte ich das Quietschen eines Leiterwagens direkt über mir, raffte meine Sachen zusammen und verzog mich tiefer ins Gebüsch.

Erschrocken, weil ich nicht bemerkt hatte, daß sich da ein Fahrweg aus dem Wald herabschlängelte, sah ich eine Kuh näherkommen, die vor einen Leiterwagen gespannt war, und hörte zwei Männer miteinander reden: »Ei, wenn er dood is', kännese ihm doch nix mi mache«, sagte ein alter Bauer, der die Kuh an einem Pferdejoch führte. Hinten, auf dem Leiterwagen, saß ein Landser, auf der Flucht vor der Gefangenschaft wahrscheinlich, wie ich, und meinte: »Im Radio sagen sie: Der Führer ist an der Spitze seiner kämpfenden Truppe gefallen!« Der Bauer: »Des glawese doch selber net! Erschösse hatter sich!« Ich war wie vom Donner gerührt. Der Führer tot? Das war doch nicht möglich!

Eine entsetzliche Depression kam über mich

Normalerweise sprang ich aus dem Gebüsch, wenn ich Deutsche sah. In diesem Fall blieb ich wie gelähmt in meinem Versteck und versuchte, die Nachricht zu verarbeiten. Was mit dem geliebten Führer passieren würde, wenn die Russen Berlin besetzten, hatte mich sonderbarerweise noch nie beschäftigt.

Irgendwie muß ich damit gerechnet haben, daß er »an der Spitze seiner kämpfenden Truppe« fallen oder sich selbst eine Kugel geben würde. Aber aus heiterem Himmel so plötzlich davon zu hören - nachdem unterwegs immer nur von »Kämpfen in Berlin« die Rede war -, das war doch etwas anderes.

Eine entsetzliche Depression kam über mich, und zwar nicht so sehr der Person Hitlers wegen, den ich ja nie selbst kennengelernt hatte, sondern der ganzen, mit Hitler gestorbenen Zukunftsperspektiven wegen.

Auf einmal überkam mich eine schreckliche Gewißheit: Es ist alles zu Ende, du wirst nie wieder Peter Kreuder und Zarah Leander hören! Meinen Lieblingskomponisten, meine Lieblingssängerin! Ach, war das ein Elend, da im Gebüsch an der Schlitz!

Im Grunde saukomisch, und meine Freunde haben jedesmal auch schallend gelacht, wenn ich ihnen davon erzählte: Zarah Leander und Peter Kreuder! Mit denen identifizierte ich auf einmal das ganze Dritte Reich! So sah es im Kopf, nein, in der Seele, muß ich da schon sagen, eines 16jährigen Hitlerjungen bei der Nachricht von Hitlers Tod aus!
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und ich warf die 700 Reichsmark weg

Als ich mich schließlich aufraffte und weitermarschierte, tat ich etwas heute völlig Unverständliches: Ich warf die 700 Reichsmark weg, die mir die Amerikaner zuerst beschlagnahmt, dann aber gegen Quittung zurückgegeben hatten - demonstrativ schmiß ich die Scheine in die Luft und sah mich nicht einmal mehr nach ihnen um.

Wozu brauchte ich noch Geld? Das Leben war zu Ende! Außerdem war unser Geld sowieso nichts mehr wert. Meine Chefs bei der Reichsjugendführung hatten mir für jeden mehr oder weniger privaten Kurierdienst stets Hundertmarkscheine in die Taschen gestopft, aber es gab nichts zu kaufen dafür.

Ich trug diese 700 Mark die ganze Zeit mit mir herum, während ich abends an die Türen einsam gelegener Bauernhöfe klopfte und um etwas zu essen bat, meistens auch bekam; aber wenn ich Bezahlung anbot, winkten die Bauern nur ab: Geld war nicht mehr das Papier wert, auf dem es gedruckt worden war, nicht am 1. Mai 1945.

»Willkommen, Majestät, in meinem Schlitz!«

Im Zusammenhang mit dem Flüßchen Schlitz fällt mir noch eine hübsche Anekdote ein, die Angela Wepper, geborene Gräfin von Morgen, die Frau des Schauspielers Fritz Wepper, mir erzählte, als ich in den 19siebziger Jahren in München wieder einmal von meinen Erlebnissen berichtete.

»Was?« rief Angela, »du warst in der Schlitz? Weißt du, daß die ganze Gegend dort meiner Großmutter gehört? Kaiser Wilhelm ging dort einmal im Jahr auf die Jagd, und nur für seinen Sonderzug aus Berlin wurde dann der kleine Bahnhof von Schlitz geöffnet - das ist nämlich auch ein Ort, nicht nur ein Fluß. Dann fand sich meine Großmutter auf dem Bahnhof ein, knickste vor dem Kaiser und rief: »Willkommen, Majestät, in meinem Schlitz!«
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Wenn einem die Erinnerung Streiche spielt - Lothar Loewe

Ich fragte in den 19siebziger Jahren alle möglichen Leute, wie sie vom Tod Hitlers erfahren hätten. Auf meine ursprüngliche Frage nach dem Kriegsende in Berlin bekam ich die widersprüchlichsten Angaben zu hören: Erinnerung spielt Streiche, noch und noch, muß dauernd überprüft werden.

Bis ich auf Hitlers Todesnachricht kam: Da war auf einmal Klarheit bei allen: Der »von Gott Gesandte« hat sich zwischen 15.30 und 15.40 Uhr am Montag, dem 30. April, im Bunker umgebracht, die Nachricht wurde offiziell über verbliebene Sender des »Großdeutschen Rundfunks« um 20 Uhr verkündet - aber schon um 17 Uhr schien ganz Berlin Bescheid zu wissen.

Wie auf unsichtbaren Wellen hüpfte die wichtigste Nachricht des Krieges aus dem Führerbunker heraus und von Mund zu Mund durch die ganze Stadt; afrikanische Buschtrommeln waren gar nichts dagegen Kollege Lothar Loewe, der spätere SFB-Intendant, lief in Halensee den Kurfürstendamm hinunter, in der Hand eine italienische Beretta, als er auf dem Flachdach des Mendelssohnbaus am Lehniner Platz, in dem sich heute die »Schaubühne« befindet, zwei Sowjetsoldaten sah, die einen Granatwerfer aufbauten.

Erschrocken warf sich Luftwaffenhelfer L. L. hinter einen Baum, und dabei lösten sich aus seiner nervösen Maschinenpistole ein paar Schuß. Worauf sich hinter ihm, an der Ecke Nestorstraße, die Haustür öffnete und ein oller Luftschutzwart herausrief: »Hör uff, Junge, der Hitler ist doch tot!«
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Manfred Barthels Erinnerungen

Zur selben Zeit verfolgte der Gefreite Manfred Barthel, aus dem ein bekannter Filmdramaturg wurde, mit zwei Hitlerjungen und einer Panzerfaust einen sowjetischen T-34 die Kantstraße hinunter, Richtung Savignyplatz, und erledigte das Ungetüm aus einer Souterrainwohnung heraus.

Dabei verbrannte sich einer der Hitlerjungen die Hand, wie immer hatte keiner ein Verbandspäckchen dabei. Sie fanden in der Grolmannstraße, hinterm S-Bahnbogen, eine offene Drogerie und kauften eins für 35 Pfennig. Sagte der Drogist: »Haben Sie schon gehört? Hitler ist tot!«

Otto Heinrich Zwiebelkorn erinnert sich

Oder mein Freund Otto Heinrich Zwiebelkorn, der als Ole Jensen später Berühmtheit erlangen sollte: Er hatte sich in die Ludwigkirche am Platz gleichen Namens geflüchtet, weil er als Marineobergefreiter vom Heimaturlaub nicht mehr zu seiner Einheit in Holland zurückgekehrt war und fürchten mußte, im letzten Augenblick noch erwischt und aufgehängt zu werden.

Nun, im Keller der Ludwigkirche verpaßte Jochen Severin, ein weiterer Freund, desertierten Soldaten Petroleumspritzen, die kurzzeitig hohe Fieberanfälle hervorriefen. Bei fast allen ging das gut, bei Otto-Ole schien es schiefzugehen: Er kollabierte, und alle Wiederbelebungsversuche halfen nichts. Da kam einer von der Straße gerannt und schrie: »Hitler ist tot!« Und da schlug mein Ole wieder die Augen auf.
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General Tschuikow erobert Berlin oder:
So eine Schweinerei auf dem Gipfel seiner Karriere

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Mein Freund James Preston O'Donnell

Solche Geschichten habe ich in den 19siebziger Jahren pfundweise unter meinen Freunden gesammelt. Aber die schönste ist immer noch die, zu der mir mein Freund James Preston O'Donnell verhalf.

Ich habe sie oft geschrieben und schreibe sie hier noch einmal nieder, weil sie sich in derselben Nacht in Berlin ereignet hat, in der ich, von der Rhön herabsteigend, bei Marbach über eine schnurgerade Straße Richtung Bad Salzschlirf marschierte und jedesmal, wenn Motorengeräusch sich näherte, in den Straßengraben sprang.

Die Geschichte geht so .........

Mit Jim O'Donnell bei »Peppino« in der Grolmannstraße

Bei »Peppino« in der Grolmannstraße habe ich 1944 meinen ersten Asti Spumante getrunken, weil der italienische Attache, für den er bestimmt war, seine Rechnung nicht mehr bezahlen konnte.

Mein Chef Hanns Spudich hatte mich, bevor er ins Umland flüchtete, zu einem Abschiedsessen dorthin eingeladen. Bei »Peppino« habe ich nach dem Krieg dann fast vierzig Jahre lang auch regelmäßig mit ausländischen Korrespondenten gegessen, die hinter besonderen Berliner Geschichten her waren.

Jim O'Donnell schreibt in seinem brillanten, definitiven Buch »The Bunker« über die letzten Tage Hitlers, daß »Peppino« das älteste und immer noch beste italienische Restaurant Berlins sei; das kleinste war es bestimmt.

Jim O'Donnell und der dicke alte Russe

Hierher brachte Jim eines Tages einen dicken alten Russen mit, der eine gewaltige Erdbeernase im Gesicht trug, eine Stimme wie aus dem Grab hatte und vor Asthma laut keuchte. Iwan soff den Wodka wie Wasser, schwieg aber beharrlich auf alle Fragen, die Jim ihm stellte.

Ab und zu warf er einen beklommenen Blick zum Nachbartisch und keuchte:

»Amerikanskij Spion!« - »Aber, nein«, flüsterte ich. »Das ist Lietzau, der Intendant des Schiller-Theaters!« Doch Iwan schüttelte geheimnisvoll den Kopf, er wußte es besser.

Auf der anderen Seite saß George Bailey, der Autor eines Buches über »The Germans«, der nicht nur einer der größten Rußlandexperten, sondern überhaupt eine Novität war: ein amerikanisches Sprachgenie, das zwölf oder mehr Sprachen beherrschte und auch noch vier oder fünf chinesische Idiome.

George tuschelte in fließendem Russisch auf Madame Godunow ein, die Leningrader Ballerina, die gerade aus New York zurückgekehrt war, wo sich ihr schöner blonder Mann Alexander nach einem Gastspiel abgesetzt hatte und jetzt Jacqueline Bisset beglückte.

»KGB!« keuchte Iwan.

So ging das durch die Minestrone und Spaghetti bis zum Espresso und Sambuca..

Iwan taute auf und begann zu erzählen ...

Erst nachdem alle anderen Gäste gegangen waren und Peppino seine Siesta hielt, taute Iwan auf und begann zu erzählen.

Nicht so flüssig, wie ich das hier hinschreibe, sondern röchelnd und japsend, mit langen Pausen und in manchmal kaum verständlichen Brocken, und das ging so bis sechs Uhr abends, als die ersten Theaterbesucher wieder hereinstürmten.

Iwan hatte dem Stab von General Tschuikow angehört, der die 8. Gardearmee in der 1. Bjelorussischen Front von Marschall Schukow befehligte und sich gern »der Eroberer von Berlin« nennen ließ.

In den letzten Apriltagen 1945 hatte Tschuikow sein Hauptquartier am Schulenburgring 2 in Tempelhof aufgeschlagen - das wissen alle Historiker. »Aber da waren wir nie«, sagte Iwan in seinem korrekten, schwer rollenden Deutsch.

»Wir saßen bis zum Ende in einem vorgeschobenen Hauptquartier, einer komischen Bierkneipe in der Belle-Alliance-Straße, da, wo sie zum Kreuzberg ansteigt.«
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Stalin wollte den 1. Mai als Sieg feiern

Womit er den heutigen Mehringdamm meinte, und zwar die Hausnummer 80, Ecke Kreuzbergstraße. Jim und ich haben das Lokal später besucht, das schon zu Kaisers Zeiten eine beliebte Tränke war, in der die Offiziere auf dem Rückweg von der Parade auf dem Tempelhofer Feld einkehrten.

Jahrelang war der Eingang mit Schildern deutscher Hundevereine gepflastert, wie dem »Reichsverband der deutschen Dackelzüchter e.V.« und ähnlichen. Später war das Szene-Restaurant »Gusto« in dem alten Haus mit dem herrlichen kleinen Biergarten untergebracht.

»General Tschuikow«, sagte Iwan, »saß im ersten Stock vor einem Stadtplan von Berlin und brauchte sich nur aus dem Balkonfenster zu lehnen, wenn er seine Hauptkampflinie am Halleschen Tor sehen wollte...

Am 30. April abends ließ Marschall Schukow anfragen, ob er am 1. Mai die Siegesmeldung haben könnte. Der 1. Mai!... Davon träumte Stalin. Von einer Maiparade der Roten Armee "Unter den Linden". Tschuikow antwortete: Ganz unmöglich! In der Innenstadt verteidigen noch Tausende fanatischer Hitler-Soldaten jedes Haus...«

Kurz darauf jedoch sei ein Anruf vom 102. Gardeschützenregiment am Landwehrkanal gekommen, daß zwei deutsche Offiziere mit weißer Flagge die Kapitulation anbieten würden - und auf einmal sei der 1. Mai doch möglich erschienen.
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Hans Krebs - General der Infanterie

Einer der deutschen Parlamentäre war der General der Infanterie Hans Krebs. Als Tschuikow den Namen hörte, habe er sich aufgeregt: »Doch nicht der Krebs?«

Denn den kannte Wassilij Iwanowitsch Tschuikow schon seit den Zeiten der geheimen Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee in den zwanziger Jahren. Mit Krebs hatte er Panzerattacken auf dem Manövergelände von Zaryzin geübt, das später Stalingrad genannt wurde und heute Wolgograd heißt.

Zu Anfang des Krieges, als Hitler und Stalin noch Kumpane waren, arbeitete Krebs als Oberst und stellvertretender Militärattache an der deutschen Botschaft in Moskau. Zwei Jahre später, kurz vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion, war Oberst Krebs für 24 Stunden eine bekannte Figur geworden, als er auf dem bjelorussischen Bahnhof in Moskau zufällig Stalin begegnete, der den japanischen Außenminister Matsuoka verabschiedete.

Stalin hatte das Treffen zum Anlaß genommen, den deutschen Militärattache für die Fotografen demonstrativ zu umarmen, um der ganzen Welt zu zeigen, was er von den Gerüchten über eine bevorstehende Invasion der Deutschen hielt.
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Eine der ersten medialen Katastrophen - für beide

Selten hat sich ein Diktator so blamiert - und ein deutscher Oberst so unbeliebt gemacht bei den Sowjets, denn als das Foto in der »New York Times« erschien, überquerte die deutsche Wehrmacht gerade den Bug.

»Ihr könnte euch vorstellen«, sagte Iwan, »wie die Nachricht auf General Tschuikow gewirkt hat - ausgerechnet Krebs war dazu verdammt, ihm die Kapitulation anzubieten! Dieser Krebs, der für uns der personifizierte Verrat war! Der für Hitler den deutschen Einmarsch ausgekundschaftet hatte...«
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Helle Aufregung im russischen Generalstab

»Beruhigen Sie sich«, sagte Jim O'Donnell, »auch in Großdeutschland war der Krebs nicht sehr beliebt und galt im Generalstab als fanatischer Parteigänger Hitlers, der ihn im letzten Augenblick ja auch noch zum Stabschef des Heeres gemacht hat!«

Iwan fuhr fort: »General Tschuikow geriet in helle Aufregung und schickte seine Ordonnanz zum Schulenburgring in Tempelhof, um aus seinem Gepäck die Paradeuniform mit allen Orden herauszusuchen, die er im ganzen Krieg nur einmal getragen hatte - als Stalin ihn für seinen Einsatz in Stalingrad auszeichnete.

Jetzt wollte er, als siegreicher Feldherr, mit Pracht und Pomp vor Krebs glänzen, schnauzte uns an, die Uniformen zu säubern, und scheuchte seinen Stab mit dem Befehl auf, für ein kaltes Büffet mit Kaviar und Wodka zu sorgen.

Das vorgeschobene Hauptquartier stand Kopf, so hatten wir unseren General noch nie erlebt.«
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Höllenqualen vor den gedeckten Tischen mit allen Köstlichkeiten

Um neun Uhr abends hatte General Glazunow, der in der Reichsbahndirektion am Landwehrkanal lag, die Parlamentäre angekündigt, um Mitternacht waren sie immer noch nicht da.

Aber Tschuikows Vorbereitungen waren getroffen: Der ganze erste Stock des ehemaligen Offizierstreffs blitzte vor Sauberkeit, die Tische bogen sich vor Köstlichkeiten, die manche Stabsoffiziere in ihrem Leben noch nicht gesehen hatten, und die Männer, sagte Iwan, »wirkten so echt wie Filmschauspieler in ihren geputzten, ordengeschmückten Uniformen. So ein Prachtbild hatte es seit 1941 in der ganzen Roten Armee nicht mehr zu sehen gegeben...«

Marschall Schukow, der sein Hauptquartier in Strausberg, vor den Toren Berlins, aufgeschlagen hatte, war von der Nachricht über die deutschen Parlamentäre so animiert, daß er einen ganzen Haufen Kriegsberichterstatter zu Tschuikow in Marsch setzte, darunter »zwei richtige Dichter«, wie Iwan bemerkte.

Auch sie wurden von Tschuikow auf Hochglanz gebracht, sollten die Überlegenheit der siegreichen Sowjetmacht schon im Aussehen zur Geltung bringen.

»Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens, am 1. Mai nun schon, litten die Wartenden Höllenqualen, weil sie das reiche Büfett nicht anrühren durften, solange die Deutschen nicht da waren, und weil der General sogar den Wodka unter Verschluß hielt.

Die Feldtelefonleitung zu General Glazunow, der die Deutschen zur Belle-Alliance-Straße begleiten sollte, war wieder einmal unterbrochen...«
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Das Telefon in Berlin funktionierte immer noch .......

Die in Groß-Berlin eindringenden Sowjets waren pausenlos damit beschäftigt, Telefonstrippen zwischen ihren Verbänden zu ziehen. Sie ahnten nicht, daß während der ganzen Kämpfe das vollautomatische Telefonnetz intakt blieb, daß sie also nur einen Hörer hätten abzunehmen brauchen, um überallhin telefonieren zu können.

Ich habe dieses technische Phänomen später für ein Buch von Curt Riess gründlich recherchiert und weiß von Leuten in Dahlem, die aus dem östlichen Stadtteil Erkner angerufen worden waren: Die Russen sind bei uns und nehmen Armbanduhren und Fahrräder weg - und versteckt eure Frauen!

Charlottenburger riefen in Neukölln an: Lebt ihr noch? Wie sind die Russen so?

General Tschuikow hätte nur das in der Ecke auf dem Fußboden stehende Telefon zu nehmen und die Reichsbahndirektion anzurufen brauchen, um mit General Glazunow zu sprechen - er hätte sogar die Nummer der Reichskanzlei wählen und direkt nach General Krebs fragen können!
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Die Russen wußten es nicht oder konnten es nicht

Iwan röchelte: »Die Berliner waren gewohnt zu telefonieren, wir Russen nicht. Wir hätten nicht einmal ein Telefonbuch lesen können. In Moskau gab es keine Telefonbücher, wegen der Spione...

Bis drei Uhr morgens rief Marschall Schukow unentwegt über die Militärleitung an, dann legte er sich schlafen - und wurde um 3.50 Uhr von General Tschuikow wieder geweckt: General Krebs und der Stabschef des 56. deutschen Panzerkorps, Oberst von Dufving, waren im Erdgeschoß eingetroffen.« Doch zuvor habe sich noch eine groteske kleine Szene im vorgeschobenen Hauptquartier abgespielt, sagte Iwan.

Ein Kriegsberichterstatter in staubigem Zivil machte alles zunichte

»Gegen 3.45 Uhr war noch ein weiterer Kriegsberichterstatter bei Tschuikow eingetroffen - ein von Stalin persönlich nach Berlin beorderter jüngerer Komponist namens Medjew Blanter, der eine Symphonie >Die Rote Armee erobert Berlin< schreiben sollte.

General Tschuikow, mit Orden behangen wie ein Weihnachtsmann, starrte den Jüngling wie ein Gespenst an - der Komponist trug Zivil! Einen zerknautschten, staubbedeckten Anzug mit einem schmutziggrauen Hemd, das vielleicht einmal weiß gewesen war, darüber eine traurige schwarze Krawatte. Ihr könnt euch nicht vorstellen«, sagte Iwan, »wie dieser unwürdige Anblick dem General die Petersilie verhagelte! Er schrie eine Ordonnanz an, die Uniform auszuziehen und sie dem Genossen Komponista zu geben. Vor aller Augen begann Medjew Blanter die Hose herunterzulassen - da ertönte von unten der Ruf: Die Germanskijs sind da!

Nun blieb überhaupt keine Zeit mehr zu verlieren. General Tschuikow sah sich mit wild rollenden Augen um, riß die Tür eines langen schwarzen Eichenschrankes auf, der hinter ihm an der Wand stand, ergriff Blanter mit seinen Hosen in den Kniekehlen, warf ihn eigenhändig hinein und schmiß die Tür zu.

Auf der Treppe erklangen schon die genagelten Stiefel von General Krebs und dem Oberst, und Tschuikow zischte: >Achtung!< Alle in dem großen Zimmer versammelten Stabsoffiziere und Berichterstatter - insgesamt 16 Mann -nahmen Haltung an, als ob nicht sie, sondern die Deutschen die Sieger wären!«
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Tschuikow hatte nämlich die Deutschen Offiziere bewundert

Tschuikow wußte, was er tat. Als junger Offizier schon, hatte er die Kollegen von der deutschen Reichswehr wegen ihrer Zackigkeit bewundert und sein Leben lang versucht, den eigenen »Lumpenhunden«, wie er seine Soldaten liebevoll nannte, etwas von der preußischen Exaktheit beizubringen.

»Jaja«, bestätigte Iwan, »diese geschlagenen Deutschen sahen zwar verdreckt aus, boten aber ein wundervolles Bild militärischer Zucht, wie sie die Hacken zusammenknallten und vor uns salutierten. Keiner unter uns, der sie nicht lieber auf Knien um Gnade hätte winseln sehen!«

General Krebs bat General Tschuikow, der ihm ohne Zögern die Hand reichte, vorab eine »wichtige Meldung« erstatten zu dürfen. Die Sowjets staunten über die Arroganz, mit der diese Deutschen sofort die Szene beherrschten.
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Sie bitten, eine »wichtige Meldung« erstatten zu dürfen

Ein paar Stunden vorher noch waren diese Rotarmisten ein wilder Haufen gewesen, der sich den Arsch mit der Hand abwischte und dieselbe dann an der nächsten Hauswand oder Tapete... jetzt deuteten sie instinktiv eine leichte Verbeugung an, als Tschuikow sie den Deutschen einzeln vorstellte. Es geht eben nichts über die Internationale militärischer Umgangsformen.

Die »wichtige Meldung«, die Krebs zu machen hatte, betraf Adolf Hitler. »Der Führer«, sagte er feierlich, »hat sich heute nachmittag - das heißt, gestern - an der Spitze seiner kämpfenden Truppen selbst den Tod gegeben. Ich bin autorisiert, Ihnen zu melden, daß Dr. Goebbels zum neuen Reichskanzler des Großdeutschen Reiches ernannt wurde.«

General Tschuikow, und nicht nur er, war baff. In seinen 1965 in Moskau veröffentlichten Memoiren behauptet der General, die sensationelle Meldung kaltblütig mit »Ich weiß!« beantwortet zu haben, gibt aber im gleichen Atemzug zu, völlig ahnungslos gewesen zu sein, und Iwan konnte uns das erklären: »Die Wahrheit ist, daß die gesamte Sowjetführung keinen blassen Schimmer von der Anwesenheit Hitlers in Berlin hatte! Stalin nahm ganz selbstverständlich an, daß Hitler sich in seiner Alpenfestung verschanzt hätte - wie er das wohl getan haben würde.

Stalin hatte die Berliner Angriffsziele und die Reihenfolge, in der sie erobert werden sollten, höchstpersönlich bestimmt: zuerst der Reichstag, der durch den Brand von 1933 eine große symbolische Bedeutung für die Bolschewiki bekommen hatte, dann das Brandenburger Tor mit dem Pariser Platz und den amerikanischen, englischen und russischen Botschaftsgebäuden, schließlich das Oberkommando der Wehrmacht im Bendlerblock - und dann erst die Reichskanzlei.
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Stalin bekam einen Wutanfall

General Tschuikow mußte sich erst mal entschuldigen und Marschall Schukow anrufen, der nicht zögerte, seinen Oberstkommandierenden in dessen Datscha in Moskau zu wecken, um ihm die Nachricht vom Tode Hitlers als erster mitzuteilen.

Stalin scheint einen Wutanfall bekommen zu haben, »daß ihr ihn nicht lebendig erwischt habt!«, schreibt der Marschall in seinen Memoiren.

Er habe jede Verhandlung mit den Deutschen verboten, erwartete jetzt nur noch die totale Kapitulation, und: »Ich möchte nicht noch einmal geweckt werden!«

Indessen General Tschuikow nichts von einem coitus interruptus hielt, sondern stundenlang mit den beiden Deutschen bei Kaviar und Wodka genüßlich über das Wie und Wo von Hitlers Tod palaverte - und wer denn bei der neuen »Reichsregierung« überhaupt autorisiert sei, bedingungslos zu kapitulieren, da Hitler auch den Großadmiral Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt hatte, der in Schleswig-Holstein saß.

Das dauerte endlos, unterbrochen nur von eintreffenden Siegesmeldungen - und immer wieder von Trinksprüchen, fünfzehnmal auf den Sieg der Roten Armee, dann gnädigst auch einmal auf die Tapferkeit der Unterlegenen. »Um so großartiger konnte Tschuikow sich vorkommen!« sagte Iwan.
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Der deutsche General Krebs sprach fließend Russisch

General Krebs sprach fließend Russisch, sein Begleiter, Oberst von Dufving, nicht, weshalb der mittendrin mit einem sowjetischen Nachrichten-Major weggeschickt wurde, eine Telefonleitung zum Führerbunker zu schalten.

Als er nach Stunden wiederkehrte und meldete, daß der russische Major von seinen eigenen Leuten erschossen worden sei, hatte sich die Atmosphäre in Tschuikows vorgeschobenem Hauptquartier grundlegend geändert: General Sokolowskij, Marschall Schukows Stabschef, war aus Strausberg eingetroffen.

»Draußen war es längst hell geworden«, berichtete Iwan, »wir waren alle todmüde, aber das ganze Gerede begann von neuem. Ich glaube, auch General Krebs war mehr oder weniger besoffen, und als man endlich zum Ende kam, war es ein Uhr mittags!«
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Die Memoiren widersprechen sich in vielen Details

»Ich habe mich immer gewundert«, sagte ich zu Iwan, »daß Tschuikow in seinen Memoiren auf einmal ganz unmotiviert giftig wird und, völlig grundlos, den Abschied von Krebs - um 13.08 Uhr - detailliert beschreibt. Ob ihm die Zensur da nicht einiges gestrichen hat?«

»Hat sie! Hat sie!« keuchte Iwan. »Tschuikow regte sich darüber auf, daß General Krebs zweimal nach dem letzten Händedruck zurückgekommen war - einmal, um seine Handschuhe zu holen, die er auf der Fensterbank niedergelegt hatte, und einmal wegen seinem Knappsack, wie sagt man?« -

»Brotbeutel! Brotbeutel!« riefen Jim und ich. »Ja, richtig, aber einen Brotbeutel hatte er gar nicht mitgebracht!« Was die Zensur gestrichen hatte, war Tschuikows »freundschaftliches Verhalten dem Deutschen gegenüber«, bemerkte Iwan. Statt dessen hatte der General schreiben müssen, daß er »diesen Krebs« keinesfalls mit Handschlag begrüßt, sich ihm überhaupt nicht vorgestellt hätte.

Gestrichen worden war vor allem aber das bizarre Ereignis, das eintrat, als General Krebs zum zweiten Mal zurückgekommen war, um seinen »Knappsack« zu holen.

»Da«, rief Iwan, sich weit über den Tisch beugend, »sprang plötzlich die Tür des langen schwarzen Schrankes hinter Tschuikow auf, und ein ohnmächtiger Zivilist - Medjew Blanter, der Komponist - fiel heraus! Ihn hatten wir völlig vergessen, zehn Stunden ohne Sauerstoff, das war zuviel! Alle Anwesenden reagierten, als ob der Blitz unter uns eingeschlagen wäre - General Krebs machte richtig einen Satz zur Tür!

Alle waren wir wie gelähmt, und alle dachten wir das gleiche: Jetzt glaubt der geschlagene deutsche General, daß der NKWD unsere Kapitulationsverhandlung überwacht hat! Ein Zivilist im Schrank, du lieber Himmel, das konnte nur Geheimpolizei bedeuten, die General Tschuikow noch in der Stunde seines größten Triumphes kontrollierte!

Dieser Hund Krebs verzog den Mund zu einem ganz leichten, spöttischen Lächeln, knallte noch einmal - ein drittes Mal! - die Hacken zusammen, grüßte mit der Hand an der Mütze die ganze Runde und verschwand ...«
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General Krebs hat sich noch am selben Tag erschossen

Als wir uns beruhigt hatten, warf Jim ein: »Er hat sich noch am selben Tag im Führerbunker erschossen, der General Krebs!«

»Ja, natürlich«, rief Iwan, »aber Wassilij Iwanowitsch Tschuikow wäre auch am liebsten tot gewesen, glauben Sie mir! Dieser robuste, vierschrötige Mann lief so rot an wie unsere Fahne! Eine Minute lang herrschte ein entsetzliches Schweigen, als Krebs verschwunden war, und niemand von uns wäre überrascht gewesen, wenn der General, nachdem er dem Komponista einen Tritt versetzt hatte und hinausgegangen war, sich direkt vor der Tür erschossen hätte!
So eine Schweinerei auf dem Gipfel seiner Karriere!«

Wir lachten. Ach, wie wir solche Mittagessen bei »Peppino« liebten.
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