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Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus

23.11.99
Mehr als zwei Jahre nach der letzten Eintragung. Mir, uns geht es gut. Wir sind, bis auf ein paar altersbedingte Zipperlein, gesund. Auch Sohn M. ist gesund und zudem ein ausgesprochen fröhlicher Mensch. Wir haben gerade einen erheblichen Geld-Betrag zinsbringend angelegt. Wir sind in eine wunderschöne, riesige, teure Wohnung gezogen. Meine Arbeit läuft blendend ( Zeitungsüberschrift neulich: „M. vereint eine riesige Fan-Gemeinde.“)  

Es geht uns also blendend. Und doch – welch Gratwanderung, welch Tanz auf dem heißen Blechdach. Und so dicht am Unheil wie jetzt war ich – und damit wir – wohl noch nie.  
Sie haben die Sportreporter der DDR, insbesondere jene, die bei den Olympischen Spielen 76 in Montreal und Innsbruck arbeiteten, nach Stasi-Kontakten abgeklopft. Zunächst als wissenschaftliche Untersuchung getarnt, und dann natürlich lauthals in den Medien ausgeschlachtet. Ein umfangreicher Beitrag im „Spiegel“ befasste sich namentlich mit einer ganzen Reihe von Journalisten, die ich alle natürlich persönlich recht gut kenne. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auf mich kommen. Ich warte täglich darauf, vermute hinter jedem Anruf den Beginn des Supergaus.

Kleine, kleinste Hoffnung: Damals, 76, hatte ich kaum Kontakte zur Stasi. Sie waren 68 nach dem CSR-Einmarsch abgerissen. Danach hatten sie mir jahrelang Westreiseverbot verordnet, bis ich 1975 beim MfS offiziell und lauthals eine Erklärung verlangte. Sie beschwichtigten mich und wenig später konnte ich nach Innsbruck und Montreal reisen. Die regelmäßigen Treffen wurden, wenn ich mich recht erinnere, erst danach wieder belebt.   

Dort selbst, bei den Olympischen Spielen, bin vermutlich ich observiert worden. Ich erinnere mich noch gut an den damaligen Chef der „Aktuellen Kamera“, der erstaunlicherweise mit nach Montreal gereist war, obwohl er alles andere als ein Sportfachmann war. In unserer – arg begrenzten – Freizeit unternahmen wir viel gemeinsam, waren sogar zum Striptease, und schließlich war er mir so vertraut geworden, dass ich mich ihm politisch offenbarte und ihn unter anderem fragte, wie er als so sympathischer Zeitgenosse es über sich bringe, Chef der verlogenen „Aktuellen Kamera“ zu sein. Heute ist der Mann als „Oibe“ enttarnt, also als ein „Offizier im besonderen Dienst“ des Ministeriums für Staatssicherheit.  

Aber ich denke, das alles wird mir wenig nützen.  
Was tun, was tun, wenn’s passiert?  

Die Stasihysterie hat noch immer nicht nachgelassen, auch 10 Jahre danach nicht. Wenn den Zeitungen interessanter Stoff ausgeht – Stasi ist immer ein Quotenbringer. Damit muß man leben, das kann man nicht verändern.  

Es bleibt die große Frage: Was tun? Wenigstens die erste Reaktion muß doch geplant sein, muß als feste, eingebrannte Formulierung in einem Gehirnschubkasten abrufbereit vorhanden sein. Ist sie aber nicht.  
Schlagwörter, die mir jetzt durch den Kopf gehen:  
- Zunächst Abenteuerlust, dann Notwehr  
- Die ganze Akte lesen, ich bin auch, vielleicht sogar mehr Opfer als Täter  
- Ich habe niemand geschadet (geht mir nicht gut über Lippen wegen des einen Falls)  
- Keine Erinnerung (was stimmt) an eine Verpflichtungserklärung, war unwichtig  
- Aufrechter, provokativer Umgang mit den Stasi-Leute, bis zu ihrem Unwillen  
usw., usw., alles Blabla, alles Humbug, es wird mir nicht helfen, und schon gar nicht, wenn der Fall – tödliche Vorstellung – durch die Presse geht.  

Eigentlich, wenn im Gefolge der 76er Untersuchungen etwas geschieht, müßte es noch vor Weihnachten passieren (und damit auch vor der nächsten Vertragsunterzeichnung für meine Sendung).  Wir werden sehen.
 
7.12.99    
Noch ist nichts geschehen. Aber ich warte darauf. Besonders montags, wenn der Spiegel erscheint. Und nicht gleich einzuordnende Briefe sind immer auch Drohungen. Und das Blinken des Anrufbeantworters. Jedes Mal warte ich auf die dünne Stimme der Chefsekretärin, und ich höre sogar die Formulierung: „Herr M., der Chef möchte sie dringend sprechen!“  

Aber dieses ganze Elend hat, glaube ich, auch etwas Gutes: Ich genieße in Demut jeden Tag, da es noch nicht geschehen ist. Und ich lasse mich gehen. Ich habe Übergewicht (101 Kilo), trinke viel Alkohol (täglich vier Flaschen Bier) und treibe kaum noch Sport. Das Ergebnis: Die Wirbelsäule muckert, die Ellenbogen tun weh, die Knie vertragen nicht mehr viel, einen Nabelbruch habe ich, einen Leistenbruch vermutlich auch. Wenn man bedenkt, dass ich mal ein guter Zehnkämpfer war!  

Manchmal denke ich, jetzt abzutreten von der Bühne, nicht nur vom Fernsehen, sondern überhaupt, Schluß, aus, das wäre der beste Abgang. Die Zuschauer würden trauern, K. und Sohn M. vermutlich auch, ich falle niemanden zur Last, alle würden mich in guter Erinnerung behalten. Ob das ein paar Jahre weiter immer noch so ist, erscheint mehr als fraglich.  

Außerdem kann ich mir in meinem Leben beim besten Willen in keinem Bereich mehr eine Steigerung vorstellen. Bestenfalls geht’s noch eine Zeitlang auf dem selben Level weiter, wahrscheinlich dümpelts  doch schon langsam und dann immer schneller bergab. Und vielleicht, am nächsten Montag, am nächsten „Spiegel“-Tag, geht’s schon da senkrecht in den Abgrund.  
 
13.1.2000    
Ich habe eine schlimme Nacht hinter mir. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so fürchterlich schlecht geschlafen habe. Der Grund – na, was schon. Zudem bin ich stark erkältet, fiebrig fast.  
Wir sind gestern abend aus einem langweiligen, unüberlegten Urlaub zurückgekommen. Zunächst, über Silvester, Hiddensee, das war noch ganz o.k., die Jahrtausendwende mit Hunderten von Menschen gemeinsam unter dem Leuchtturm der Insel, dann aber, weil wir ohnehin da oben waren, noch fast zwei Wochen Dänemark bei winterlichem Tauwetter, und da reichts einem am Ende.  

Also gut, wir kommen zurück, allerlei Post da, auch Faxe, u.a. von G., ich soll sie anrufen. Tat ich dann auch gleich, schon mit einer fernen Ahnung, und tatsächlich, es soll im Internet eine Liste veröffentlicht worden sein mit allen IM-Namen. Nun hat sie Sorge – obwohl sie ihren Prozeß damals gewonnen hat – sie könnte mit drin stehen. Ich bekam sofort einen fürchterlichen Schreck, eben jenen, den ich erwarte für den Augenblick, da es losgeht. Ich beherrsche mich, beruhige sie, da ihr Fall ja gerichtlich ausgestanden sei, lege auf - und bin fortan kein Mensch mehr.    

Grüblerische, grausige Phantasien lassen mich zusammenfallen, K. bemerkt es, ich schiebe es auf die Grippe. Ich gehe schließlich, ohne Bier (!), zeitig ins Bett und liege dort schlaflos fast ohne Unterbrechung bis zum Morgen, mit schlagendem Herzen und jagenden Gedanken.  

Im Urlaub noch hatte ich wegen meiner vielen Wehwehchen, wegen der bekannten und neuerdings auch wegen des Herzens, gemeint, dass noch vor der Schande das Greisentum mich einholen könnte.  
Nun das.  

Was das für eine Liste ist, welchen Umfang sie hat, und vor allem, ob ich wirklich darin vorkomme, weiß nicht. Aber ich muß damit rechnen.  
Fieberhaft rief ich heute in aller Herrgottsfrühe alle möglichen Kollegen an, um an ihrem Tonfall zu erkennen, ob schon etwas zu ihnen vorgedrungen sei. Nichts. Alles normal.  
Ganz so aufgeregt wie heute nacht bin ich nicht mehr.  

Wenn die Liste neu ist, dauert es ja auch bestimmt einige Zeit, bis sie bei uns im Sender angekommen ist. Und vielleicht bestellen sie dann zuerst auch meine Akte.  
Ich fürchte mich. Ich fürchte mich entsetzlich. Meine leise Hoffnung, doch irgendwie davonzukommen, schwindet immer mehr.  
 
28.5.2000    
Ich leide unter Depressionen. Das musste ja so kommen. Die dauernde Angst muß ja irgendwann einmal etwas durchgeätzt haben.   

Der äußere Anlaß sind eigentlich andere Ereignisse, ein durch anhaltenden Disko-Lärm erzwungener Umzug in eine völlig neue Umgebung und die Ankündigung einer Betriebsprüfung durch das Finanzamt.  
Ich reagierte völlig überreizt, lag (und liege) halbe Nächte wach und ängstige mich. Vom Bauch über die Brust bis zum Hals ist alles in nervösem Aufruhr, jeder Telefonanruf verschreckt mich, jede harmlose Andeutung bringt mich in Panik. Und gerade eben, beim Telefongespräch mit einem alten Bergfreund, der mir berichtete, er habe es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Thema Stasi und Bergsteiger zu durchforsten, schoß es mir wieder heiß und lähmend ins Gehirn (wobei ich gerade aus Bergsteigerkreisen eigentlich nichts zu befürchten habe).  

Ich bin demoralisiert, irgendwie am Ende, ob ich aus diesem seelischen Durcheinander noch einmal halbwegs normal auftauchen kann, weiß ich nicht.  
Wie wenig ich mich noch in der Hand habe, zeigte sich, als wir unsere schöne, große Wohnung übergaben und damit endgültig verließen. Urplötzlich fing ich an, hemmungslos zu weinen. Ich weiß nicht, wann mir so etwas im Leben schon mal passiert ist.  
 
31.5.2000    
Seit zwei Tagen geht es mir etwas besser. Ich nehme keine der  Tabletten mehr („Kava“ oder so ähnlich heißen sie, eine Südseefrucht, sie sind frei verkäuflich) und schlafe trotzdem besser.  
Eine Gefahr sehe ich darin, dass schon nach wenigen Tropfen Alkohol meine Befürchtungen sich in Luft auflösen. Deshalb habe ich gestern z.B. ganz gegen meine Gewohnheit bereits zum Mittagessen ein Bier getrunken.  

Ich denke, wenn es zum Eklat kommt, könnte diese Erfahrung sehr verführerisch sein.  
Parallel zu meinen Ängsten werde ich im Fernsehen zur Zeit noch einmal richtig nach vorn geschoben. In den nächsten Tagen erscheint ein Porträt von mir in der Zeitung, und kommende Woche bin ich der Erste vom Landesfunkhaus, der nach seiner Sendung im eine Stunde lang live zu einem Gespräch zur Verfügung steht, im Internet bei einem sog. „Chat“. Was übrigens Anlass für neue Sorgen ist. Was geschieht, wenn da eine verfängliche Frage gestellt wird? Oder gar Anwürfe geäußert werden?  

Trotzdem, es geht mir im Augenblick etwas besser, und ich hoffe, wenn nichts Sensationelles passiert, dass ich doch aus eigener Kraft wieder aus dem seelischen Sumpf herauskomme.    
 
23.6.2000    
Ganz kurz nur. Es geht rauf  und runter mit meiner Seele, ich nutze jede Gelegenheit, mich zu ängstigen, zuvorderst im Augenblick vor der noch immer andauernden Betriebsprüfung. Mein ehemaliger Steuerberater hat absolut schlampig gearbeitet, und da ich dabei recht gut wegkam, habe ich ihn gewähren lassen. Manches hatte ich geahnt, die wichtigsten seiner Fehlentscheidungen aber, es ging um unterschiedliche Mehrwertsteuersätze und die Frage, welche Zuwendungen versteuert werden müssen und welche nicht, konnte ich beim besten Willen nicht einschätzen. Nun habe ich den Salat. Dabei ist mir das Geld im Prinzip schnuppe. Zwar werden es Unsummen, aber das verkrafte ich. Was ich fürchte, ist die Konfrontation mit dem Finanzamt, dieser heutzutage so wichtigen (und mächtigen) Behörde.  

Einziger Lichtblick (eigentlich Quatsch, es gäbe, bei objektiver Betrachtung, jede Menge Lichtblicke), dennoch also einzige positive Neuigkeit: Ich wiege 20 Pfund weniger als zur Jahreswende, zunächst durch Ernährungsumstellung (abends Salat statt Leberwurst), und neuerdings auch durch – wegen des Umzugs wesentlich erleichterten – Sport. Ich laufe, ich fahre Rad, ich gehe ins Fitneß-Studio.   

10.7.2000    
Das Ende der Betriebsprüfung ist noch immer nicht in Sicht, die Ängste kommen trotzdem nur noch anfallweise, die Daueraufregung hat sich gelegt, aber ein richtiges Wohlbefinden stellt sich natürlich nicht ein. Das hat übrigens auch Auswirkungen auf mein Verhältnis zu unserer neuen Wohnung. Weil der Streß mit dem Finanzamt zeitgleich mit dem Umzug begann, ist mir bis heute kein unverstellter Blick auf diese wundervolle Behausung mit ihrer einmaligen Umgebung möglich. Ganz extrem zeigt sich das beim Arbeitszimmer. Weil ich – vor allem im Juni –vor jedem Telefonklingeln, vor jedem Fax, vor jeder Ansage auf dem Anrufbeantworter Angst hatte, immer also mit unguten Gefühlen mein Arbeitszimmer betrat, habe ich es innerlich deutlich abgelehnt. Und mich auch davor gedrückt, darin zu arbeiten, Ordnung zu schaffen, Übersicht zu ermöglichen.  

Vorgestern nun habe ich fast einen ganzen Tag damit verbracht, die Dinge in dem Zimmer so zu ordnen, wie ich es von der letzten Wohnung her gewöhnt war, und schon fühle ich mich besser in dem Raum.  
Dennoch immer mal wieder Furchtphantasien. Der Gipfel: ich werde wegen Steuerhinterziehung angeklagt, verliere meinen Job, habe keine Einkünfte mehr, sitze aber für zwei Jahre (so der Mietvertrag) in einer Wohnung fest, die mehr als 3000 DM Miete im Monat kostet. Nächster Denkschritt allerdings: Ich gebe die Arbeit an meinem TV-Magazin wegen der Steuervorwürfe auf und – bin fein raus. Gemessen an den Stasi-Vorwürfen werden die Steuergeschichten wohl geradezu als Kavaliersdelikte gewertet, und ich könnte mit erhobenem Haupt weiterleben.  

Anderes Thema. Ich war am Donnerstag in S., und was sich mir da bot, war so trostlos, dass ich mich spontan fragte, weshalb eigentlich ich mein Schicksal beklage.  

Mein Bruder schwebt in ununterbrochener Todesangst. Sein Herz, mehrfach operiert, offenbart immer neue Schwächen, man schließt eine Transplantation nicht mehr aus. Zudem ist er allein, so allein, dass er, wenn es wieder einmal losgeht mit dem Herzen, mich anruft und bittet, ich möge in Abständen zurückrufen und möglichst mit ihm „über irgendein Thema“ reden.  

Und auch mit meiner gehbehinderten Tante ist es rapide bergab gegangen. Sie kann sich fast nicht mehr allein vom Fleck bewegen, sie tastet sich mühsam an den Wänden ihrer Wohnung entlang, sie hatte noch ein paar orthopädische Schuhe bekommen, die aber haben ein Bein aufgescheuert zu einer grässlich offenen Wunde. Die Füße sind ohnehin geschwollen zu formlosen Fleischklumpen, es ist ein Trauerspiel. Und ein übelriechendes dazu, denn sie kann sich offenbar nicht mehr richtig waschen und – oder – ist zudem inkontinent. Es riecht fürchterlich in der Wohnung, ich habe es nur mit Mühe ausgehalten. Obwohl sie mir es untersagte, habe ich ihren Hausarzt angerufen. Irgendetwas muß geschehen, ich werde mich darum kümmern. Was ich tun werde, tun muß, weiß ich noch nicht, heute geht der Arzt zur Tante, ich werde danach mit ihm reden und dann sehen, was nötig ist. So jedenfalls geht es nicht weiter, sie wird sich was brechen oder anderweitig verkommen.   

Mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.  
 
29.1.01    
Es ist so weit.  Mir zittern die Hände.  Ich fürchte mich vor der ersten Nacht.  

Im Ergebnis einer von der „Welt“ ausgelösten Kampagne gegen Stasi-Mitarbeiter im MDR hat der Intendant beschlossen, eine Eilüberprüfung aller festen und freifesten Mitarbeiter zu beantragen.  
Ich bin beliebt und populär wie nie zuvor. Die Enttarnung wird wie eine Bombe einschlagen.  Ich weiß das mit den Anträgen seit einer Viertelstunde (Radio-Meldung).  
Was tun?  Was tun?  

Ich denke an Freiburg, die Stadt, die mir so gut gefiel.  Dort neu beginnen.  

Oder das Problem aussitzen? Was kommt, kommt?  Wenn es durch die Presse geht, wird es fürchterlich.  Es hat in meiner Position aber auch keinen Zweck, einfach so aus dem Programm zu verschwinden. Da würden sie sich erst recht wie die Hyänen auf mich stürzen.  Größte Lebenskrise. Mit 62.  

Und dann, was danach?  

Keine Freunde, keine Heimat, vielleicht – tödlich – keine Frau?  Oder kann ich auf Verständnis, Milde, Entgegenkommen rechnen?  Mein ständiges Entgegensteuern gegen den Parteikurs könnte doch gewertet werden.  Wird aber nicht. Der Zeitgeist will die Köpfe der IM. Möglichst in der Zeitung.  K. muß gleich kommen.  Meine Frau.  Vielleicht bald das Hauptproblem.  

18.2.01    
3 Wochen sind ins Land gegangen. Ich denke, ich bin deutlich gealtert. Die MDR-Stasi-Kampagne in den Medien hält an. Fast täglich Neues, wenn keine neuen Namen, dann neue Details.  
Man unterstellt der Leitung des MDR, insbesondere dem Intendanten Reiter, mit der Stasi-Problematik zu lax umgegangen zu sein. Das müsse anders werden.  

„Die Welt“, die „FAZ“, „Focus“, die „Südeutsche“, die „Sächsische“, die Rundfunkanstalten, alle trugen ihr Scherflein bei.  Der „Spiegel“ hat bis heute auf sich warten lassen, wahrscheinlich wird er demnächst, vielleicht morgen, einen besonders schillernden Beitrag beisteuern.  

Es ist müßig, über mein Befinden zu reden. Das Aufwachen morgens ist fürchterlich.  Ich zwinge mich zur Sachlichkeit:  

Überraschende Erkenntnis, dass im MDR mit Stasi-Verfehlungen unterschiedlich, je nach Ergebnis der Einzelfallbetrachtung, umgegangen wurde. Das hatte ich nicht gewusst und auch nicht erwartet. Einige wenige wurden entlassen, einigen wenigen wurde empfohlen, in aller Stille zu kündigen, die meisten konnten weiterarbeiten.  

So sollte es sein, mehr kann man kaum verlangen, aber genau dieses Verhalten schlägt man dem Intendanten jetzt so um die Ohren, dass es auch an seine Existenz beim MDR geht.  
Logisch, dass er nun zurückrudert, alle überprüfen lässt, auch die „Freien“, was mich so in Panik hält, und dass er die Bewertung einem anderen, strengerem Gremium überlässt.  

Die Medien graben, forschen, wühlen. Sie sind sicher, dass jede neue Erkenntnis auf  Leser-, Zuhörer-, Zuschauerinteresse stößt, und um diese Quote geht es ihnen, nur darum, um nichts anderes. Alles Gefasel von Wahrheit, Gerechtigkeit, Sühne, Vergangenheitsbewältigung – alles Humbug, denn auf diesem Terrain gab und gibt es genug andere Themen, die aufgegriffen werden könnten, es aber nie werden.   

Natürlich gibt es einige, meist vom Stasisystem schwer Gezeichnete, die richtig Rache nehmen wollen. Aber das sind nicht gar so viele, und auch die wissen natürlich sehr gut, dass die Veröffentlichung in den Medien die Rache besonders grausam macht. In Leipzig, in der ehemaligen Stasizentrale, hatte sich vorige Woche ein Publikum zusammengefunden, das den „Aufdeckungs-Journalisten“ frenetisch Beifall zollte (und wild Reiters Ablösung als Intendant forderte).   

Und das Volk? Selbst jene, die meinen, man solle die Stasi-Hexenjagd endlich beenden, gucken doch gern durchs Schlüsselloch in fremde Leben, nehmen genüsslich die Verfehlungen wahr aus noch so ferner Zeit, und je schlimmer, um so unterhaltsamer, um so schöner.  

Dass die Journalisten kaltblütig, aber vielleicht ist das der falsche Ausdruck, dass sie mit bedenkenlosem Jagdeifer Menschen stigmatisieren, Lebensläufe in Frage stellen, Existenzen vernichten, dass sie mit weniger Achtung vor dem Menschen agieren als so mancher IM, das lässt sich eigentlich nur damit erklären, dass sie in den Stasibefleckten eine Art Untermenschentum sehen, das weder die gleichen Rechte noch den selben Anspruch auf Schutz in der Gesellschaft besitzt.  

Bei mir hat sich ein Umdenken eingestellt – seit ich weiß, wie der MDR mit entdeckten Stasi-Mitarbeitern umging, ist nicht mehr meine Hauptsorge, dass die Sache überhaupt bekannt wird. Es wäre für mein ferneres Selbstverständnis sogar bedeutend, von Unvoreingenommenen eine Bewertung meiner Verfehlungen im Verhältnis zu meinem sonstigen Leben vornehmen zu lassen. Ich hoffte natürlich, dass man zu Schlüssen käme, mit denen ich leben  könnte. Aber das wäre dann zweitrangig und fast bedeutungslos, wenn vorher eine Veröffentlichung in den Medien erfolgte. Dann ist die Höchststrafe bereits ausgesprochen und vollstreckt, dann käme eine moralische Rehabilitation oder auch Relativierung nur hinterhergehinkt und würde den Scherbenhaufen nicht kitten können.  

Ich rechne also täglich mit dem Outing. Und beginne einige vorsichtige praktische Schritte für die Zeit danach:  
- ich habe beim Deutschen Sportfernsehen (DSF) angerufen, erklärt, was ich kann, und um eine Unterredung gebeten,  
- ich habe überlegt, ob ich – mit gesundheitlicher Begründung – meinen Vertrag mit dem MDR kündige,  
- ich denke darüber nach, ob ich mich meinem Chef – zunächst im Vertrauen – offenbare, ihm die1993 aufgeschriebenen Zeilen gebe und mit ihm die Folgeschritte berate.  

Es ist natürlich nicht völlig auszuschließen, dass ich gar nicht zu dem Kreis der Überprüften gehöre (weil ich nicht freifester Mitarbeiter bin, sondern freier Produzent), aber daran kann ich – und sollte ich wohl auch - nicht glauben.  

Ich trinke viel, bis 5 halbe Liter Bier pro Abend. Dann geht’s mir gut. Bis ich morgens aufwache.  
Ich wollte eigentlich heute Bedeutendes, Allgemeingültiges so toll wie möglich formulieren. Oder meine grässlichen Ängste plastisch nachvollziehbar schildern.  
Ich habe nicht die Kraft dazu.  
Ich denke, ich altere zur Zeit sehr schnell.  
K. ist wichtig. Nähe, Wärme. Wenn sie mich danach verlässt, das Leben nicht erträgt, wird die Katastrophe potenziert.  
Ich würde das gern den Journalisten nahe bringen. Aber es wird sie nicht interessieren.  
 
4 Stunden später    
Das Wechselbad der Gefühle hält auch heute an.  
Gegen 18 Uhr fahre ich zur Tankstelle und frage voll verhaltener Sorge, ob der neue „Spiegel“ schon da ist (es ist Sonntag). Sie haben ihn natürlich noch nicht, ich bleibe auf meinen bösen Vorahnungen sitzen. Ich kaufe mir eine „Morgenpost“. Da steht drin, dass der Datenschutzbeauftragte es für „fragwürdig“ hält, „die freien Mitarbeiter des MDR ohne dringenden Verdacht überprüfen zu lassen.“  
Hoffnung?   

Bloß nicht beschreien.  
Aber wenigstens etwas, an das ich mich klammern kann, wenn ich morgen früh zwischen 4 und 5 Uhr mit brennendem Oberbauch und leicht zugeschnürtem Hals aufwache.  
 
2 Tage später (20.2.01)    
Erneuter Tiefschlag, qualvolles Wachliegen ab 4 Uhr: Ein anderer MDR-Moderator, O.N.,hat sich selbst geoutet. Hat den Druck vermutlich nicht ausgehalten. Bildzeitung triumphierend auf Seite 1: Stasi! Moderator N. vom MDR! Und drohend: Wer ist der Nächste?  

Mein Herz springt im Dreieck. Hoffentlich zer-springt es nicht. Ich werde zum Arzt gehen. Kleine Hoffnung: Am Ende meines derzeitigen Vertrages mich mit gesundheitlichen Problemen aus dem Vertrag herausmogeln. Aber dann werden sie wohl erst recht hellhörig. Und wer weiß, ob es überhaupt bis dahin unter der Decke bleibt.  
Ich möchte Brandreden halten, aggressiv, zynisch, Gerechtigkeit fordern oder besser: Angemessenheit. Aber das wird die Hexenjäger nur noch mehr anstacheln. Wenn einer der „Verruchten“ auch noch aufmüpfig wird. Das wird ein Festessen in den Medien.  

Als Klügstes bleibt mir vermutlich: „Kein Kommentar, guckt in die Akte, aber richtig.“  

Dennoch hier, für den Hausgebrauch, noch einmal ein paar Sätze, wie sie mir durch den Kopf gehen:  
- In erster Linie war ich ein Kritiker des Systems, der vom Studium an observiert wurde, geduckt werden sollte, und nur an meinem journalistischen Talent kamen sie später nicht vorbei;  
- Von einer Öffentlichkeit, die es zulässt, dass Außenminister Fischer wegen der – durchaus unterschiedlich zu bewertenden – Vorfälle vor 30 Jahren ans Kreuz geschlagen wird, ist nicht zu erwarten, dass sie Stasiverstrickung sachlich bewertet;  
- Dieser Hexenjagd, wie jeder Hexenjagd, fehlt die Angemessenheit, die Inquisitoren, vorweg Gauck, werden in ihrem fanatischen Eifer niemals Einsichten oder gar Gnade zulassen, umso mehr, als ihnen der öffentliche Beifall sicher ist;  
- Die Journalisten, unantastbar, weil scheinbar aus edlen Motiven agierend, produzieren im Namen der Gerechtigkeit menschliches Elend in einem Ausmaß, das diese Gerechtigkeit ad absurdum führt;  
-  Ich habe nach der Wende unter Kollegen wesentlich mehr Berufsverbote erlebt als zu DDR-Zeiten.  
(Das ist alles Scheiße, in meinen Phantasien formuliere ich alles viel akzentuierter, treffender, schärfer, wenn man so will überzeugender, aber beim Aufschreiben gelingt mir das nicht.  

Fakt ist jedenfalls – stehe ich erst in der Zeitung, habe ich die Höchststrafe bereits erhalten und brauche mich danach nicht mehr zu ducken.)

 

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