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Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus

3.1.90
Prosit Neujahr. Es fängt nicht gut an, das neue Jahr.  

Ich habe mich zwischen Weihnachten und Silvester mit meinem „Klartext in eigener Sache“ herumgequält. Die Tatsache, dass niemand ihn eigentlich will und ich ihn bei dem inzwischen erreichten Popularitätsgrad des Unternehmens aber machen muß, belastet mich fürchterlich.  

Der neuernannte Generalintendant, Nachfolger Adamecks, hat für Montag alle ehemals am „Wettlauf“-Projekt Beteiligten zusammengerufen. Man ließ erkennen, dass diese Zusammenkunft mit meinem geplanten Beitrag zusammenhängt.  

Ich habe mir vorgenommen, alles nicht so ernst zu nehmen. Eigentlich sind die Zeiten gut, es ist sowieso alles nur vorübergehend, wichtig ist, dass man gesund bleibt, um dann, wenn die Dinge sich langsam klären und Ziele erkennbar werden, noch richtig mittun zu können.  
Aber ein solches Distanzverhalten liegt mir nicht besonders, ich lasse mich von den Tagesereignissen schnell einhüllen, daran kann ich vermutlich nur wenig ändern.....

Einige Wochen später    
Die Zusammenkunft mit dem Generalintendanten hat stattgefunden. Es wurde versucht, eine Stimmung zu provozieren, die man am Ende als kollektive Ablehnung des geplanten Beitrags hätte auslegen können. Mich selbst behandelte der Intendant mit eisiger Schärfe. Als ich ihn duzte, weil ich ihn jahrelang geduzt hatte, verbat er sich das fast schreiend, für ihn sei ich der „Herr Generalintendant“. Das ließ mich vorsichtiger werden, aber keineswegs weniger entschlossen. Der Intendant meinte, wenn ein solcher Beitrag über den Sender ginge, müsse er uns alle entlassen, denn solcherart öffentlich belastete Leute könne er in der neuen Zeit nicht als Mitarbeiter behalten. Diese demagogische Behauptung hielt er jedoch nicht lange aufrecht, und er änderte völlig sein Konzept, als der größte Teil der Versammelten mit Argumenten, die an Deutlichkeit und Schärfe nichts ausließen, unseren ehemaligen Stellvertretenden Bereichsleiter M.H., einst Leiter der „Wettlauf-Reihe“ und jetzt Chef der Jugendsendung „Elf 99“, moralisch demontierte. Dieses Musterbeispiel eines wendebegabten Karrieristen war der einzige, der in meinem Beitrag namentlich genannt werden sollte (ich hatte mich vergeblich um ein Interview mit ihm bemüht).  

Es gab dann noch einiges Hin- und Her, Verfahrens- und Stilfragen wurden erörtert, aber im Großen und Ganzen bekam ich von den Kollegen und erstaunlicherweise auch vom Intendanten grünes Licht.  
Unser Redaktionsleiter, nachdem er mit ein paar Einzelheiten aus dem Manuskript konfrontiert wurde, distanzierte sich schließlich doch noch von dem Werk, wagte aber nicht, es noch zu stoppen. Auch die für die Endfertigung vorgesehenen Regisseure stiegen einer nach dem anderen aus.   

In der Abnahme wurde der „Klartext in eigener Sache“ schließlich achselzuckend akzeptiert, pikanterweise von jenem Kollegen, mit dem ich damals, am 4.Oktober, die erregte Auseinandersetzung über Ursachen und Folgen der massenhaften Republikflucht führte. Er verlangte nur, dass ich im Text erkläre, selbst zu denen zu gehören, die für die „Wettlauf-Reihe“ einen Orden erhielten, und sagte abschließend hämisch, nach diesem Beitrag könne mir ja nun nichts mehr passieren.  

Und dann mobilisierte er doch noch die Klartext-Truppe, um in einem letzten Versuch die Ausstrahlung vielleicht  zu verhindern. Ich sollte den Beitrag vor der Sendung dem Kollektiv vorführen. Am Tag der Sendung übrigens.  

Ich war aufs höchste erregt und weigerte mich. Sagte, der Film sei abgenommen, und solch kollektive Beurteilungen seien nicht einmal vor der Wende üblich gewesen. Und ich hätte ihn mit journalistischem Verantwortungsbewusstsein gemacht und würde mich auch jeder denkbaren Konsequenz durch die Veröffentlichung stellen.   

Es wurde laut und heftig und kontrovers diskutiert, aber irgendwie hatten sie wohl ebenfalls  nicht den Mut, wahrscheinlich auch nicht die Möglichkeit, die Sendung zu verhindern.  
Der Beitrag wurde ausgestrahlt, es kamen über 60 Briefe, die meisten verlangten die Ablösung des namentlich genannten Chefs von Elf 99. Auch Briefe, die an die Redaktions- oder Bereichsleitung gingen und selbst die an die Intendanz wurden wie eine heiße Kartoffel an mich weitergereicht. Den Antwortbrief werde ich in Teilen hier zitieren.  

Da es der einzige Beitrag zu diesem Thema war, hat sich eine Reihe von Westmedien und auch Medienbeflissener mit ihm beschäftigt. Verschiedentlich wurde ich zu Interviews oder gar Vorträgen eingeladen. Ich habe alles abgelehnt.  

Die Angelegenheit hat mich, so wenig konsequent sie eigentlich war, wahnsinnig mitgenommen. Ich hatte das erste Mal in 2o Jahren Journalistentätigkeit etwas deutlich gegen den Willen meiner Leitung gemacht, noch dazu in der anfälligen Position eines Mittäters, und das fiel mir doch verdammt schwer.     
Antwortbrief auf Zuschauerzuschriften zum „Klartext in eigener Sache“ (Ausschnitte):  
 
30.1.90  
.....ich denke, es wäre nicht angemessen, würde ich mich in dieser meiner Antwort ausschließlich auf den Fall des Chefredakteurs von „Elf 99“ beziehen. Wären andere Affären und andere Sendungen von anderen Kollegen untersucht worden, hätten sicherlich andere Namen genannt werden müssen.....  

.....fast alle bemerkenswerten Positionen im DDR-Fernsehen waren durch SED-Mitglieder besetzt, und die meisten sind es, logischerweise, auch heute noch, denn wo sollte man so schnell andere, gleichgute Fachleute herbekommen. Die Formulierung „gleichgute“ scheint fehl am Platze zu sein, geht das Klischee doch davon aus, dass ein einflussreicher Mann in dem einflussreichen Medium Fernsehen lediglich durch politisches Wohlverhalten und nicht durch fachliche Qualifikation seine Position erreicht haben kann. Das stimmt aber nur zum Teil. Ebenso normal war, dass gute Fachleute, wenn sie durch ihre Parteiabstinenz in eine Sackgasse ihrer beruflichen Entwicklung zu geraten drohten, sich zwar durch einen Beitritt zur SED Chancengleichheit sicherten, dann jedoch ihren Weg weiterhin auf der Basis soliden Könnens beschritten.   

Der Zeitpunkt der Erkenntnis, dass es ohne den SED-Bonus nur schwer oder gar nicht geht, lag besonders im Journalistenberuf sehr zeitig. Schon im Volontariat, erst recht im Studium, wurde den jungen Leuten die demagogische Maxime „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ untergeschoben, und da viele von ihnen auf den Sozialismus hofften und die Partei behauptete, diese Idee gepachtet zu haben, wimmelte es an der entsprechenden Sektion  der Uni in Leipzig und danach beim Fernsehen nur so von Genossen.....  

.....immerhin hat es nach der Wende auf den höchsten Kommandostellen eine Reihe von Umbesetzungen gegeben, aber die Neuen waren doch meist wieder SED-Mitglieder, denn wo sollte man so schnell fachlich kompetente Nichtgenossen herbekommen. Außerdem gab es im Fernsehen für diesen Selbstreinigungsprozeß zu wenig Gärhefe, zu wenig Protest von der Basis, von den einfachen Fernsehmachern. In solch einem SED-durchsetzten Betrieb sind zu viele zu unsicher, wie hoch ihr eigener Anteil an Schuld anzusetzen ist. Weil zu viele sich auch als Täter fühlen und nicht nur als Opfer, bleibt der aufklärerische Eifer moderat  

Ich habe das an mir selbst erlebt, als ich den „Klartext in eigener Sache“ machte. In dem Bewusstsein, früher selbst ausreichend inkonsequent gewesen zu sein, verbot es sich von vornherein, als forscher „Saubermann“ aufzutreten........   
   
17.7.90  (Trivy/Frankreich)  
Wir sind hier in Südburgund (Frankreich) im Urlaub. Das gehört zu dem vor einem Jahr noch Unvorstellbarem, aber im Augenblick ist ja alles ganz anders, misst man es an der Zeit „davor“. Ich hatte das letzte Mal vor einem halben Jahr geschrieben. Inzwischen ist so viel geschehen, dass es fast aussichtslos ist, alles noch zusammenzubekommen.. Aufgehört mit dem Schreiben habe ich vermutlich, weil die Ereignisse mich überrollten und – anders als vor der Wende – die einzig mögliche Reaktion nicht mehr nur Tagebuchschreiben war und ist, sondern die unterschiedlichsten anderen Aktivitäten denkbar, möglich und notwendig wurden.
Die Nachlese wird jetzt natürlich nicht mehr den ursprünglichen Charakter haben wie gleich Aufgeschriebenes. Nicht nur das Land hat sich seitdem abermals völlig verändert, sondern auch unsere Haltungen, Wertungen, Auffassungen und Überzeugungen.  

K. und ich haben hier, als Nachtrag, allein 2 ½  DIN A4-Seiten Stichpunkte von großen und kleinen Ereignissen zusammengetragen (bzw. von unbedingt Erwähnenswerten). Das heißt, dass ich an die 20 Seiten schreiben muß, um all dem gerecht zu werden, was ich für bedeutend hielt und halte. Aber das werde ich vermutlich nicht schaffen, denn wir sind hier im herrlichen Südburgund von morgens bis abends unterwegs, um Landschaft, Dörfer, Kirchen, Burgen, Schlösser und weiße Kühe zu besichtigen, und nur immer abends, draußen vor dem Bauernhof, in dem wir ein billiges Zimmer haben, zwischen 8 und dem Dunkelwerden etwa halb zehn, kommen wir zum Lesen oder zum Schreiben (übrigens kostet das Zimmer mit Frühstück 40 D-Mark für beide).  

Hier wenigstens ein paar Marksteine:  
- Bei den sogenannten Zwei-plus-Vier-Gesprächen haben Kohl und Gorbatschow die letzten Hürden vor der Einheit beseitigt. Wir denken, dass wir spätestens am 2.12.90., dem vorgesehenen Termin gesamtdeutscher Wahlen, ein einiges Deutschland sind.  
-  In den ersten Julitagen haben wir per Währungsunion die D-Mark statt der Ostmark erhalten, eingetauscht eins zu eins oder 2:1, je nachdem, wie viel man hatte.  
- Wir sind ein durch diese D-Mark-Einführung, die alle Schwächen schonungslos offenbarte, wirtschaftlich völlig zerrüttetes Land, in dem Betriebe reihenweise bankrott gehen, unsere Erzeugnisse niemand mehr haben will und die Arbeitslosenzahl die 200.000 überschritten hat.  
- Der annoncierte Neubeginn, Betriebsgründungen beispielsweise, hat längst nicht so schwungvoll eingesetzt wie erhofft. Demzufolge sind große Teile des Volkes niedergeschlagen, pessimistisch, depressiv (ohne allerdings, so mein Eindruck, deshalb die „Ehemaligen“ wiederhaben zu wollen oder deren Untergang zu bedauern). Aber es gibt Streiks, Demos, Kurzarbeit, hektische Debatten, Belagerung der Volkskammer, auch steigende Kriminalität.  
- Im Fernsehen eine ähnliche Situation – Unsicherheit, Depression, Hektik, Mitarbeiterbeschlüsse, die nichts bewirken, alle glauben, dass das Westfernsehen uns schlucken will.    

Da das DDR-Fernsehen wackelt und damit auch meine derzeitige Strecke, das Reisejournal „AZUR“, die Länder starke Sender bekommen sollen und wir sowieso eigentlich nach Dresden wollten, haben K. und ich uns beim Landessender Dresden beworben.  

20.7.90    
Die Einheit Deutschlands ist nunmehr Programm nahezu aller Parteien und aller Gruppierungen, und auch ich, mit ziemlicher Konsequenz, bin schon vor Monaten auf diesen Kurs eingeschwenkt.  

Es ist ein historischer Erdrutsch passiert: Die beiden verfeindeten Teile Deutschlands, einst Flaggschiffe der beiden unversöhnlichen Systeme, werden eins. Das hat niemand in überschaubarer Zeit für möglich gehalten, und ich persönlich war so sicher, dass das zu meinen Lebzeiten nicht mehr passiert, dass ich meine Hand dafür verwettet hätte.   

Hier die wichtigsten Gründe, weshalb ich ein recht vehementer Vertreter einer schnellen Vereinigung geworden bin:  

- Gorbatschow, der Große, der das alles überhaupt erst in Gang gesetzt hat, ist im eigenen Land immer intensiveren Anfeindungen und Schwierigkeiten ausgesetzt. Mithin ist es nicht  auszuschließen, dass die SU wieder zurückdriftet in konservativ-stalinistische Verhältnisse, und das könnte durchaus bedeuten, dass die alte Machtlinie, der eiserne Vorhang, erneut gezogen würde. Sind wir dann noch DDR, wären wir bald wieder dort, wo wir waren. Als Teil eines vereinigten Deutschlands hingegen wären wir aller Wahrscheinlichkeit nach auf der sicheren Seite.  

- der Wahlausgang ließ keinen Zweifel daran, dass die Mehrheit der Bevölkerung jetzt für die Einheit ist. Zunächst hatte niemand vermutet, dass die CDU, die unmissverständlich die schnelle Vereinigung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die Wahl gewinnen würde. Da das nun geschehen ist und auch die Währungsunion durchgeführt wurde, ist es eine Existenzfrage, dass wir so schnell wie möglich an den Kreislauf der BRD angeschlossen werden. Unsere morbide Wirtschaft, nach der Währungsunion auf sich allein gestellt, würde vermutlich in Agonie verfallen. Nach der Vereinigung werden unsere Krankheiten auch die Krankheiten der BRD, und die Möglichkeiten einer erfolgversprechenden Therapie sind dann vermutlich wesentlich größer.  

- mein dritter Beweggrund, für die Einheit  zu sein, ist ein rein persönlicher. Schon immer hatte ich die Sehnsucht nach einer nationalen Heimat, nach einem Vaterland, in dem ich mich als Deutscher bezeichnen darf und mit dem ich mich identifizieren kann. Die DDR  konnte mir das nicht sein, ich denke, ich hoffe, dass ein in Freiheit vereinigtes Deutschland diesem Bedürfnis eher entspricht.    

Vielleicht dies noch zur Charakterisierung der gegenwärtigen Situation: Die Initiatoren der „ersten Stunde“, zuvorderst die vom  „Neuen Forum“, sind heute ausgebootet, haben kaum noch Einfluß auf die Entwicklung. Sie fungieren – zurecht beleidigt – als einsame Rufer in der Wüste, werden kaum gehört, aber noch von vielen gewissermaßen nostalgisch geachtet.

21.7.90    
K. hat Existenzangst wegen des wackligen Fernsehens und dazu nostalgische Beschwerden wegen des Untergangs der DDR und der bedingungslosen Auslieferung „an die blöden Wessis“. Sie sorgt sich um ihre künftige Gleichberechtigung, als Bürger, als „Arbeiter“ und als Frau. An allen Befürchtungen ist sicherlich etwas dran, denn die Siegerpose der Sieger ist nicht zu übersehen und wird uns noch lange zusetzen.  

Ich selbst sehe das gelassener, der DDR weine ich jetzt keine Träne mehr nach, ganz im Gegenteil, ich freue mich drauf, endlich sagen zu dürfen, dass ich ein Deutscher in Deutschland bin, auch wenn ich selbstverständlich die europäische Integration ......ich bin schon wieder dabei, mich dafür zu entschuldigen, dass ich deshalb gern ein Deutscher in Deutschland bin, weil ich eben Deutscher bin. Das Duckmäusertum, das nachhängende, ist zum Kotzen....  

Also die DDR, die in dem letzten halben Jahr zu all dem, was man ohnehin wusste, noch so tragische Züge offenbarte, dass man sich nur mit Grausen wenden kann (Christa Wolf: „Wir lernen jetzt erst den Staat kennen, in dem wir 40 Jahre lang gelebt haben“), die DDR also kann von mir aus kommentarlos auf den Müllhaufen der Deutschen Geschichte geworfen werden. Das Wenige, das gut zu sein schien an diesem Land, sichere Arbeitsplätze oder Kindergärten oder niedrige Preise für Grundnahrungsmittel und Öffentliche Verkehrsmittel, das alles war eigentlich nicht bezahlbar, war auf Kredit erworben, und die Rechnung dafür bekommen jetzt exakt die serviert, die damals scheinbar davon profitierten – die Werktätigen in den maroden Betrieben, die reihenweise in Konkurs gehen.  

Dass die Leute bei uns, was behauptet wird und was ich zunächst auch nicht bestreiten will, enger zusammengerückt waren, mehr menschlichen, wärmeren Kontakt hatten,  war das Ergebnis von Armut und psychischem Druck („Die Armen und Unterdrückten halten zusammen“) und insofern der DDR-Führung wohl kaum als „Verdienst“ anzurechnen.  

Die Auslieferung an die überheblichen Wessis geht mir natürlich auch gegen den Strich. Aber ich muß das zunächst akzeptieren, denn sie sind nicht nur die Sieger, das kann jedem mal passieren, sondern sie sind auch in fast jeder Beziehung und insbesondere in moralischer im Recht.   

Natürlich könnten sich die Sieger daran erinnern, dass sie nur deshalb auf der Gewinnerseite sind, weil nach 45 bei ihnen die Amis und bei uns die Russen einmarschiert waren. Hätte der Zufall es umgedreht gewollt, dann wären wir heute die Sieger der Geschichte.  

Obwohl das auch von den Wessis kaum angezweifelt wird, ist in der Regel niemand  von ihnen bereit, seine Siegerpose aufzugeben.  

Also der Untergang der DDR rührt mich nicht. Beruflich habe ich eigentlich ein solches Selbstbewusstsein, dass ich denke, irgendwo werde ich als erfahrener Fernsehmann (ich kann von Nachrichten über Reportage und Dokumentation bis zur Moderation alles gut bis überdurchschnittlich) schon unterkommen (notfalls bei den Privaten, was allerdings angesichts von deren Programmen eine ziemlich grauslige Vorstellung ist).  
Dennoch fühle ich mich nicht so recht wohl in meiner Haut. Natürlich bin auch ich verstrickt in die böse Rolle, die das DDR-Fernsehen jahrzehntelang gespielt hat. Ich denke, einer wirklich konsequenten Reinigung würde ich nicht standhalten. Wenn gefragt würde, wer tat was, wer arbeitete an welchen Sendungen, wer hat meist ein, gelegentlich beide Augen zugedrückt, wenn es um die Ethik und Moral journalistischer Tätigkeit ging, dann müsste ich den Blick senken und widerspruchslos gehen. Dazu habe ich zu viel Dreck am Stecken, zuviel Leichen im Keller. Und dieses Wissen nimmt mir Sicherheit, Kraft und Engagement.      

22.7.90 (immer noch Trivy/Frankreich)    
Drei Tage lang habe ich hier vor unserem Bauerngehöft geschrieben, und noch immer habe ich nicht einmal begonnen, die Liste, die K. und ich anlegten, abzuarbeiten.  

Der wichtigste Einschnitt war wohl die Wahl im März. Alle Prognosen gingen davon aus, dass die SPD gewinnt. Zunächst war von einem übermächtigen Sieg die Rede, später, als die Unions-Politiker von drüben sich mit geballten Versprechungen an die Seite der DDR-Konservativen stellten, gingen die Pro-SPD-Prognosen zwar bis auf etwa 50 % zurück, aber mit der CDU als stärkster Partei rechnete niemand. Ich empfand  Sympathie und Bewunderung für die mutigen Leute vom Neuen Forum, doch da sie mit großer Wahrscheinlichkeit keine nennenswerte Kraft darstellen würden, glaubte ich meine Stimme bei Ihnen verloren. Übrigens im Unterschied zu K., die meine praktischen Überlegungen zwar verstand, aber nicht teilte und das Neue Forum wählte.  

Mein Argument, der SPD meine Stimme zu geben, war die Befürchtung, sie könnte als künftig stärkste Partei zu wenig Stimmen erhalten, um allein zu regieren, und eine Koalition mit anderen Parteien könnte jene Lähmung erzeugen, von der dann die PDS profitieren würde (die aus allem Nutzen zieht, was in diesen Tagen nicht zur Zufriedenheit des Volkes verläuft).  

Die Parteiprogramme selbst unterschieden sich gar nicht so erheblich, mal abgesehen von der DSU und dem Demokratischen Aufbruch, die sehr weit rechts operierten, und natürlich von der PDS, die nach wie vor den Sozialismus im Schilde führte. Für die Einheit waren alle.  

Das Ergebnis am Wahltag war eine Sensation. Besonders der Süden der DDR und hier insbesondere die Landgemeinden wählten „schwarz“, CDU oder CSU, und insgesamt reichte es für die Rechten zu mehr als 50%. Die PDS bekam 16 %, die SPD etwas über 20 %, das weiß ich schon gar nicht mehr so genau, und das Neue Forum kam auf Werte zwischen einem und zwei Prozent.  

Damit war die 40 Jahre lang gesichtslose DDR-CDU, ein SED-Trittbrettfahrer und als „Blockflöte“ belächelter Steigbügelhalter, zum Sieger der Geschichte geworden (dass die Kirche bei der Wende eine Riesenrolle gespielt hatte, war damit kaum in Zusammenhang zu bringen, denn die Oppositionellen aus der Evangelischen Kirche und die CDU hatten nur wenig miteinander zu tun). Und mit der CDU als Partei siegten natürlich auch all ihre gesichtslosen Mitglieder, unser Freund aus H. beispielsweise, zu DDR-Zeiten ein wichtiger Mann auf Kreisebene, immer anpassungsfreudig und kritisch nur in den eigenen vier Wänden. Der ist nun eine noch einflussreichere Persönlichkeit geworden, fühlt sich tatsächlich als Sieger der Geschichte, und die Mitglieder des Neuen Forums in H., die vor der Wende wirklich allerhand riskiert hatten, bezeichnet er hohnlächelnd als „Spinner“.  

Nach der Wahl also waren die Weichen gestellt auf eine schnelle Vereinigung, und dieser Kurs hält bis heute an.  
In den Wochen und Monaten vor der Wahl hatte der sog. „Runde Tisch“, eine Versammlung aller Strömungen im Lande, sich eine überraschende Autorität verschafft. Das hätte anfangs niemand vermutet, denn zunächst erschöpfte er sich in endlosen Verfahrensfragen. Aber das hatte sich gewandelt, so sehr, dass dem „Runden Tisch“ sogar Regierungsbeteiligung angetragen wurde. K. war von dieser Total-Demokratie schließlich so angetan, dass sie sich den „Runden Tisch“ als Dauereinrichtung zur Führung des Landes vorstellen konnte (eine schöne Utopie, denn zur Zeit bricht sogar die aus nur drei Parteien bestehende Koalition möglicherweise auseinander, weil sie sich nicht einigen können. Die mehr als ein Dutzend Vertretungen am „Runden Tisch“ würden sich mit Sicherheit früher oder später gegenseitig blockieren).  

Die Wahl bot Politiker an, die niemand kannte und die, als sie gewählt waren, auch nachwiesen, dass sie zum Regieren herzlich ungeeignet waren. Aber zunächst übt das Volk Nachsicht, denn wo sollten die Neuen, Unbelasteten und trotzdem Guten auf einmal herkommen?    

4.8.90    
Wir sind zurück aus Frankreich.  
Früher habe ich dieses Tagebuch immer versteckt. Wenn wir auf Urlaub fuhren, habe ich es zwischen den Matrazen verborgen. Ohnehin habe ich einen Durchschlag von jeder Eintragung gemacht und extra aufbewahrt, für den Fall, dass ein Exemplar mal den Machthabern in die Hände fällt. Jetzt mache ich keine Durchschläge mehr und ich verstecke das Geschriebene auch nicht mehr. Ein wahnsinniger Fortschritt, ein epochaler Gewinn, und doch in der Zwischenzeit schon so selbstverständlich, dass man ihn überhaupt nicht mehr in Anrechnung bringt bei der Beurteilung der Gegenwart. Man orientiert sich nur noch an den lawinenartig sich steigernden wirtschaftlichen Schwierigkeiten.  

Gestern hat de Maiziere überraschend vorgeschlagen, Wahl und Beitritt schon im Oktober und nicht erst am 2.Dezmber zu vollziehen (durchsichtiger Grund: wir werden, hervorgerufen durch die übereilte Währungsunion, in der DDR einen so bösen Herbst erleben, und auch der Bundesbürger wird davon berührt werden, dass die Zeit deutlich gegen die dafür verantwortliche CDU arbeitet. Also schnell wählen, ehe das Chaos in seiner ganzen Größe sichtbar wird).  

Auch privat stehen Veränderungen an – wir werden ab 3.12. beim DFF-Landessender Sachsen in Dresden beginnen, ich als Reporter für „Land und Leute“ sowie als Moderator, K. als Redakteurin und Regisseurin für Kindersendungen und Live-Übertragungen.   
 
7.9.90    
Die Zeit hetzt. Noch immer gleicht keine Woche der vorangegangenen.  

Die Währungsunion, der Umtausch unserer Ostmark in die Westmark, hat unsere ohnehin marode Wirtschaft dermaßen durcheinandergewirbelt, dass nun überhaupt nichts mehr funktioniert. Arbeitslose, die wir nie hatten, gibt’s bereits in Millionenhöhe (von 1,5 Millionen sprechen die Ehrlichen, die auch die Kurzarbeiter mit Nullbeschäftigung dazuzählen, 360.000 sagen die um das Wahlergebnis besorgten Politiker). Die Tendenz ist sturmflutartig ansteigend. Es gibt Streiks, Besetzung von Ämtern, Blockierung von Straßen usw.. Überall grassiert die Sorge um den Arbeitsplatz, alles klagt über steigende Preise (nicht nur der Waren, das war nur am Anfang so, es geht immer mehr um Steuern, Dienstleistungen u.ä., und dräuend am Horizont stehen die Mieten).  

Vereinzelt werden Stimmen laut, die sagen, früher wäre es eindeutig besser gewesen. Hätten wir jetzt nicht den großen Bruder zur Seite, stünde uns vermutlich eine ähnliche Talfahrt bevor wie die der Russen. Die Misswirtschaft der Stalinisten hat den fatalen Nebeneffekt, dass, wenn ihre betonierten Unsinns-Strukturen endlich aufgebrochen werden, die Trümmer dem Volk zunächst noch schwerer auf der Brust liegen. Weil eine gut funktionierende Marktwirtschaft eben nicht aus dem Boden gestampft werden kann. Einen reifen Apfel kann man auch nicht innerhalb von 14 Tagen produzieren, auch wenn man Steckling, Boden und Wetter da hat.  

Unser Kneiper unten im Berliner Wohnhaus, ein unangenehm cleverer Typ, großspurig, weil zu viel Geld gekommen, unterhielt eine irrsinnig florierende China-Kneipe, eine der ganz wenigen, möglicherweise die einzige in Ostberlin, streng genommen ein Unding, denn das Essen war  organisiert wie in einem „Kombinat industrielle Mast“ (so heißen bei uns die Broiler-Fabriken), alle mussten zur selben Zeit in derselben Reihenfolge dasselbe essen. Die Kneipe öffnete 19 Uhr und schloß 23 Uhr, jeden Tag. Da aber der eingemauerte DDR-Bürger keine andere Wahl hatte, standen die Leute Schlange, wenn einmal im Vierteljahr Platzbestellungen angenommen wurden.  

Der Chef  (ein waschechter Berliner) schimpfte damals ziemlich ungeniert über die Kommunisten, die ihn an der Entfaltung seiner wahren Talente hemmten, und gab den politischen Verhältnissen die Schuld, dass es ihm nicht noch besser ging.  

Nun aber flucht er über die neuen Zeiten – es ist nicht zu übersehen, dass sein Lokal längst nicht mehr so floriert, obwohl er nun auch schon tagsüber öffnet - er habe die Schnauze voll, sagt er, man würge ihn ab, die Konkurrenz mache ihn fertig, und da sei es ja unter „staatlichen Bedingungen“ besser gewesen, und von ihm aus könne man die Mauer wieder hochziehen.  

Vorige Woche war ich in der Redaktion der FF-Dabei, unserer ehemals einzigen TV-Programmzeitschrift, die zu ergattern ein Kunststück war. Heute macht sie Kopfstände, um sich der Westkonkurrenz zu erwehren (bis jetzt packt sie es ganz gut).  

Ich diskutiere mit den beiden Damen, mit denen ich zu tun habe, die politischen Zeitläufe.  Mit im Zimmer sitzt ein Mensch, kleiner Kopf, mickriger Vollbart, schlecht sitzender Anzug, aber Krawatte hochgeschlossen, irgendwie ein Funktionärstyp alter Schule.  

Während des Gesprächs halte ich, warum auch, nicht hinter dem Berg mit meiner Ablehnung des alten Systems und meinem Grund-Optimismus, was die Wende betrifft, auch wenn mich die derzeitigen Turbulenzen bedrücken und womöglich auch betreffen werden.  

Irgendwann mischt der Typ sich ein, zischend, fauchend, aggressiv, bösartig, alles bagatellisierend, was dem alten System angelastet werden kann, alles negierend, was nicht direkt beweisbar ist, außerdem, ihm wäre es gut gegangen und er hätte sich auch nicht bespitzelt gefühlt, und das System der Bundesrepublik wäre keinen Deut besser, keinen Deut moralischer, keinen Deut sozialer, und er sähe uns, die Deutschen, schon im grünen VW-Jeep in Richtung Osten fahren, um dort aufzuräumen, denn darauf liefe die ganze Vereinigung doch hinaus, auf die Fortsetzung der Eroberung des Ostens durch das vereinigte Deutschland.  
Bei uns im Fernsehen herrscht Krisenstimmumg.1200 Leute sind bereits entlassen. Das hat wenig Bewegung erzeugt, weil es vorwiegend über Vorruhestand oder so geregelt wurde. Allerdings wird dieser ersten Welle mit Sicherheit eine zweite und eine nächste folgen.  

Es werden Vorbereitungen getroffen auf ein sogenanntes O-Drei Programm, ein Drittes Programm für die ehemalige DDR. Damit wären aus zwei Programmen eins geworden, was ohnehin schon Härten mit sich brächte, aber selbst das scheint nichts weiter als ein frommer Wunsch zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass das Programm für den Osten Deutschlands aufgesplittet aus den Ländern gesendet wird.  
Wir haben aus diesem Hin und Her bereits praktische Konsequenzen gezogen. Per mündlichen Vorvertrag verdingten K. und ich uns zum Dezember 1990 beim Landessender Dresden.  

Inzwischen hörten wir, dass auch das ZDF sich in Sachsen etablieren will, und vorsichtshalber, mit wenig Hoffnung auf Reaktion oder gar Erfolg, haben wir eine gemeinsame Bewerbung an das ZDF geschickt. Im Augenblick erwägen wir, ähnliche Briefe an RTL und SAT 1 zuschicken. Das beweist, dass der Werteverfall auch bei uns bereits eingesetzt hat. Treue zum DDR-Fernsehen, die unausgesprochen doch immer eine Rolle spielte in unserem Denken und Fühlen, wird verdrängt durch Existenzkampf. Vielleicht gibt es eines Tages einen Ersatz für die sich verflüchtigenden Werte, im Augenblick ist das jedoch nicht zu erkennen.  

22.9.90    
Auf unsere Bewerbungen bei ZDF, RTL und SAT 1 sind nicht einmal Antworten gekommen. Dabei muß denen nach meiner Schilderung in den Bewerbungen doch klar sein, dass ich hier in der DDR ein überdurchschnittlich erfolgreicher Journalist gewesen bin. Das ist ihnen schnurzpiepe.   

Ein gewisser "Mühlfenzel" soll als Medienbeauftragter die Medienlandschaft bei uns ordnen, 100 Jahre alt und CSU-Bayer, genau die Mischung, die man braucht, um uns mores zu lehren. Alt, eitel, mittelmäßig und ein bewusster „Siegertyp“, so erschien er mir bei den zwei Auftritten, bei denen ich ihn bewundern konnte. Es muß herrlich sein für so einen bemoosten Wessi, auf seine alten Tage noch einmal so viel Macht in die Hände zu bekommen. Schicksal spielen zu dürfen. Umworben zu sein und gefürchtet.  

Ich hänge beruflich zwischen Baum und Borke. Der DFF geht wahrscheinlich ein, aber eben nur wahrscheinlich. In Dresden wird es wahrscheinlich einen Sachsensender geben, aber eben nur wahrscheinlich, und wenn, dann wird er, zunächst zumindest, provinziell, mickrig, schlecht gemacht sein. Meine Motivation, Gutes zu machen, auf die in der Vergangenheit immer Verlaß war, schleift erheblich. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, groß Flagge zu zeigen, es könnte ja doch einmal der große Entdecker von einem anderen Sender bemerken.     

Wir haben oft Besuch oder gehen zu Leuten. Häufig, meist unter Kollegen, geht es um den Anteil an Schuld an dem Debakel, vor dem wir stehen.  
Fast jeder von uns hat Schuld, nicht jeder trägt schwer daran, aber darum geht es nicht, sondern dass einen jeder anpissen kann, und dass man, wenn man nicht 95 % des Volkes auf den Müll werfen will, differenzieren muß, aber dazu muß man irgendwo Grenzen ziehen zwischen schuldig und nicht schuldig, doch wo soll man die ziehen und vor allem wer?  

Die Wessis natürlich, die segensreichen Arschlöcher, reden, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Der SAT 1-Chef beispielsweise will nicht einen vom ehemaligen DDR-Fernsehen einstellen, weil sie alle systemerhaltend waren. Er wirft also K. und Schnitzler in einen Topf und erwartet dafür vermutlich noch Beifall.  

Derweil gehen die Turbulenzen in allen nur denkbaren Bereichen weiter. Über Volkskammer und Regierung lohnt kaum zu reden, das ist eine solche Tragik-Komödie, ein Gemisch von Unfähigkeit, wahltaktischer Heuchelei, egoistischer Ämter- und Pfründenhascherei, gepaart mit devoter Auslieferung aller Werte, besonders sozialer, an den großen Bruder, da ist es vermutlich wirklich besser, es kommen nach der Wahl möglichst viele aus der BRD (wie in Sachsen, wo der CDU-Spitzenkandidat Prof. Biedenkopf heißt).  

K.hat neulich eine der schillerndsten Figuren des derzeitigen Kabinetts, Innenminister Diestel, persönlich kennen gelernt (er trat in ihrer Sendung auf). Sie meint, dem fehle tatsächlich die nötige sittliche Reife für ein solches Amt. Ein unbekümmerter, eitler Sport-Typ.   

Diestel hat zuvorderst mit den Vorwürfen in Sachen Stasi-Auflösung zu tun. Ich bin mir in meiner Haltung zu dem ganzen Stasi-Theater nicht schlüssig. Wer weiß schon, was es bedeutet, wenn die Akten wirklich von Bonn verwaltet werden und nicht von den Ländern. Nur eins ist klar – da ist Sprengstoff enthalten, der mit Hunderttausenden Explosionen das ganze Land noch jahrelang in Unruhe halten kann.  
Ich habe in den letzten Wochen, mit einer Ausnahme, meinem Freund H., dem CDU-Mitglied, nicht einen, wirklich nicht einen gesprochen, der zufrieden wäre und vor allem mit Ruhe in die Zukunft blickt. Alle haben sie Angst um ihren Arbeitsplatz, und wenn das nicht, dann Sorge um die wirtschaftliche Talfahrt mit all ihren Turbulenzen im Gefolge.  

Ich selber predige nach wie vor – wartet ab, das ist alles normal und erwartungsgemäß, nur leider etwas heftiger durch die schnelle Währungsunion, aber selbst dieser Schock für unsere Wirtschaft muß nicht unbedingt falsch sein, er könnte am Ende den qualvollen Prozeß der Anpassung so verkürzt haben, dass er sich nachträglich rechtfertigt. Könnte.  

Zum Abschluß der immer gleichen Diskussionen sage ich immer, lasst uns die Kücken im Herbst zählen, im Herbst 92. Wenn wir dann immer noch kein Land sehen, dann könnten wir etwas falsch gemacht haben. Das predige ich. Aber zwischendurch fallen auch mich Ängste und Depressionen an.   

31.12.90 (Uelvesbüll)  
Uelvesbüll liegt an der Nordsee, ein Nest auf der Halbinsel Eiderstedt, südlich von Husum.  

Wir verbringen hier unseren Resturlaub, sind am 28.12. aufs Blaue losgefahren und haben für 6o Mark pro Tag eine sehr passable Ferienwohnung gefunden. Wir bezahlen hier, selbstverständlich, mit derselben DM, die wir wenige Tage zuvor für unsere Arbeit als Gehalt bezogen haben. Und als wir im benachbarten Dänemark eine Suppe und ein Smörrebrot gegessen hatten, da funktionierte das auch mit unserem Geld. Heute ist das eine kaum noch bemerkenswerte Selbstverständlichkeit, noch vor einem guten Jahr hingegen wäre es eine Utopie gewesen  Ein weiterer Beweis dafür, um wie viel anders, besser wir jetzt leben.  

Und unser Tagebuch müssen wir auch nicht mehr verstecken, und daß wir nicht die Regierungspartei CDU gewählt haben, können wir getrost laut sagen, ohne Angst zu haben oder Nachteile befürchten zu müssen.  
Kohl und die CDU haben zu unserem Missvergnügen auch ohne unsere Stimmen die Bundestagswahl gemeistert, aber vor 14 Tagen gab es ein Ereignis, das mich deutlich milder stimmte gegenüber den „Siegern der Geschichte“ und ihrer hastigen Vereinigung.  

Als nämlich der sowjetische Außenminister Schewardnadse, jener zurückhaltende und trotzdem charismatische Getreue Gorbatschows, zurücktrat, da warnte er vor der Gefahr einer erneuten Diktatur in der Sowjetunion.  

Und da stellte ich mir vor, was wohl sein könnte, wenn wir jetzt noch DDR und nicht ein einheitliches Deutschland wären (was ja SPD und Neues Forum, von der PDS ganz zu schweigen, für den klügeren Weg gehalten hatten). Und dann eine Diktatur der Konservativen in der SU! Ist die Vorstellung gar so weit hergeholt, dass dann über Nacht die alten Blöcke neu geformt und alte Linien neu gezogen würden? Praktisch wäre das den Russen mit ihren immer noch 3 bis 400.000 Mann im Land ohne weiteres möglich. Eine geradezu tragische Vorstellung, mit anderthalb Füßen in der Freiheit zu stehen und dann wieder zurückgerissen zu werden in die ganze alte, schreckliche Scheiße. Das hätte Krieg gegeben, Bürgerkrieg, und ich bin ziemlich sicher, dann hätte ich mich beteiligt, denn unter den Stalinisten hätte ich nicht noch einmal leben mögen.   

Bei uns im Sender sind die ersten arbeitslos geworden. Solange es einen nicht selbst betrifft, guckt man sich das an wie im Kino. Einen ehemals strammen Parteisekretär der Aktuellen Kamera, der irgendwie bei uns in der Redaktion des Reisejournals landete, trafs zuerst. Im Verlaufe des Vierteljahres Kündigungsfrist wurde er zusehends verbissener, nörgeliger, er schottete sich ab, sprach kaum noch mit jemand.   
Die wesentlichen Träger des alten Systems sind abgelöst. Dass sie in sogenannten „alten Seilschaften“ sich noch Posten und materielle Dinge zuschanzen, ist am Ende unwichtig angesichts der generellen Entmachtung. Die also sind wir los, aber schon gibt es neue, na, nicht gerade Feinde, aber doch erhebliche Reibungsflächen. Die „Wessis“, die BRD-Deutschen, die Sieger, die uns nun zeigen, wie alles gemacht werden muß, und die zudem unser mageres Fell untereinander aufteilen. ARD und ZDF streiten sich um den Kuchen, wir sind inzwischen auf ein Programm geschrumpft (Länderkette DFF nennt sich das), und auch diesem wird kaum eine Zukunft gegeben. Die Entscheidung, mit welcher Beteiligung die Sender wo hinkommen, fällt frühestens im Februar. Wir werden wohl alle entlassen und nach Westgesichtspunkten neu eingestellt, Maßstab soll fachliche Kompetenz und Nicht-Stasi-Zugehörigkeit sein. Wir sollten uns keine Sorgen machen, sagt man.  

Die kleinen Stasi-Explosionen haben in der Zwischenzeit eingesetzt und fast jeden zweiten namhaften DDR-Politiker beschädigt, zuletzt de Mizaire und Stolpe, und sie werden sicherlich  auch auf den unteren Ebenen demnächst viel Unruhe in die Entwicklung bringen.    

K. hat „Schimpf vor 12“ gehört, das alljährliche Silvester-Kabarett.  

Früher war auch ich ein absoluter Kabarett-Fan, die feine Klinge der politischen Satire hat mir imponiert, als ich jung war, schwärmte ich für Tucholsky. Heute gehe ich dem Kabarett aus dem Wege, wo ich kann. Es ist für mich eine sinnlose Einrichtung geworden, Selbstbefriedigung. Das Lachen über geistvoll angeprangerte Missstände bewegt niemand und nichts, es nivelliert, entschärft, bagatellisiert. Lachen ist keine Waffe. Ich sehe da Parallelen zu den Stürmen im Wasserglas, die wir bei unseren Parteiversammlungen auf niederer Ebene gelegentlich verursachten. Wir haben damals teilweise drastische Wahrheiten gesagt, aber ohne jede Wirkung, weil dieses Aufbegehren über den kleinen Kreis unserer Parteigruppe nicht hinausgetragen wurde. Das hätten wir glatt lassen können, und genau so überflüssig war – unter dem Aspekt der politischen Wirksamkeit – das Kabarett.  

Dass das Theater damit um eine hübsche Variante ärmer wäre, gebe ich zu, und wenn das Kabarett als bloße Unterhaltungskunst verstanden wird, hat es natürlich seine Berechtigung. Nur mehr, mehr is nich.  

16.1.91
Ich sitze im Zug, will mir – wegen des Journalisten-Rabatts – unser neues Auto direkt vom Hersteller abholen. Wenn ich mich recht erinnere, begann ich vor etwa 2 ½ Jahren, im Herbst 88, diese Art der Tagebuchführung ebenfalls in einem Zug. Dreckig war der damals, dunkel, mit bösartigem Personal, ohne Speisewagen, die Fenster undurchdringlich.  

Heute nun ist der Zug, da es keiner aus dem Westen ist, noch immer nicht von der allerersten Sorte, aber er ist sauber, das Wasser auf der Toilette läuft, sogar Handtücher sind da, und die Scheiben sind geputzt. Und das Wichtigste – an der ehemaligen Grenze in Oebisfelde gibt es keinen Aufenthalt, keine Kontrolle, keine inquisitorisch blickende Herren mit existenzbedrohender Befugnis.  

Natürlich ist der Unterschied zwischen BRD-Ost und BRD-West auch hier noch spürbar, nach der ehemaligen Grenze rumpelt der Zug nicht mehr, sondern er gleitet, die Geschwindigkeit hat sich deutlich erhöht, ein Zugbegleitpapier wird ausgegeben, aber was solls.  

Außerdem gibt es Wichtigeres. Das Ultimatum, das die UNO, auf Drängen der USA, dem Irak gestellt hat (Abzug aus Kuwait oder Krieg) läuft heute ab.  Vielleicht ist in diesem Augenblick schon Krieg.  

Anfangs sind wir alle der Propaganda gefolgt und haben gehofft, dass der Irak und besonders Saddam Hussein tüchtig eins aufs Dach bekommt. In der Zwischenzeit sind viele besonnener geworden, auch ich. Wir haben die Risiko-Nutzen-Rechnung aufgemacht und festgestellt, dass dabei eigentlich ausschließlich die Interessen der USA und anderer ölverbrauchender Kapitalisten auf dem Spiel stehen.   

Es hat in den letzten Tagen verstärkt Aktionen gegeben gegen den Krieg, auch in Deutschland, auch in Dresden, wo wir seit vorgestern arbeiten. Aber genützt hats natürlich nicht.  Innerhalb weniger Wochen ist die Welt, die doch während der letzten 1 ½ Jahre eine so wohltuend friedfertige Entwicklung zu nehmen schien, aus den Fugen geraten.  

Und Gorbi, unser großer, guter Gorbi hat sich nun auch gewendet. Um die Sowjetunion zu erhalten, greift er bei den Balten mit Waffengewalt ein (und wenn er, wie er behauptet, für den Waffengang in Litauen nichts kann, siehts noch übler aus, denn dann hat er das Heft in seinem Land schon gar nicht mehr in der Hand).   

Vorhin im Zug eine geschwätzige Lehrer-Pensionistin aus Dresden. Sie war parteilos, und damit brillierte sie in jedem zweiten Satz. Ich habe ihr schließlich wutentbrannt zu verstehen gegeben, dass Parteilosigkeit allein noch kein Beweis sei für allzeit aufrechtes Verhalten. Dass vielmehr 30 Jahre Lehrerdasein in der DDR eher gekonnten Opportunismus vermuten lassen. Vielleicht habe ich ihr unrecht getan, aber diese Selbstzerfleischung der DDR-Bürger, jeder zeigt auf jeden, weil er ihn für schuldiger hält als sich selbst, die hemmt, macht unsicher, stört alle möglichen Beziehungen und verstärkt zudem das Gefühl der Zweitrangigkeit den Wessis gegenüber.  

1.12.91    
Heute ist der 1.Dezember. Der letzte Monat des DFF ist angebrochen. Während in der Zeit sich überstürzender politischer Ereignisse sich unsere private Situation eigentlich wenig bewegt hat, gibt es nun, mit einer Phasenverzögerung von 2 Jahren, endlich auch beruflich die große Erschütterung.   

Was immer in dem alten System nicht funktionierte, eins stand wie ein Fels in der Brandung – der Arbeitsplatz (es sei denn, man gehörte zu der kaum auffindbaren Minderheit, die politisch wider den Stachel löckte).  

Laut Einigungsvertrag und unter begeisterter Führung des vom Westen eingesetzten Großinquisitors Mühlfenzl wird nun seit einem Jahr an der Demontage unseres Fernsehens und Rundfunks gebastelt.  

Wir haben bereits vor einem Jahr als taktische Meidbewegung den Umzug nach Dresden in Kauf genommen. Man hatte damals gesagt, die Zukunft des Ost-Fernsehens läge in den Ländern, und wer sich schon jetzt dort einniste, sei ziemlich sicher, am Ende auch übernommen zu werden. Dieses „Übernommen werden“ wurde im Verlaufe der letzten Monate immer mehr zur magischen Formel.  

Es gab Gerüchte, nicht irgendwelche, sondern in den Medien veröffentlichte oder von den Leitern verkündete. Nur einige würden übernommen, das meiste würde von Freien bestritten, hieß es. Aber wenig später: 2000 Leute würden eingestellt, man könne davon ausgehen, dass nahezu alle – mit Ausnahme der übernormal Vorbelasteten – übernommen würden.  

Dann war von einer Variante dazwischen die Rede, nicht gar so viel, aber eins sei absolut sicher – die bereits in den Landessendern arbeiteten (wie wir) genössen unbedingten Vorrang. Erst wenn die Länderreserven erschöpft seien, würde „man“ sich auch in Berlin umsehen. Dieses „man“ war lange Zeit anonym. Irgendwann wurden dann Namen gehandelt. Der erste war „Reiter“. Der bayrische konservative Intellektuelle, Rollstuhlfahrer, wurde dann tatsächlich Gründungsintendant des Mitteldeutschen Rundfunks ( ich übergehe hier das politische Gerangel, das einer Einigung der drei Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen auf die gemeinsame Anstalt MDR vorausging, das aber den fatalen Nebeneffekt hatte, dass wegen der späten Übereinkunft alles andere in Hast geschah und noch geschehen muß, denn der Ab- und Umschalttermin 1. Januar 92 soll um keinen Preis hinausgeschoben werden).  

Nicht viel später wurden dann die Direktoren benannt. Sieben Westdeutsche und – auf dem technischen Sektor – ein Vorzeige-Ossi. Diese Verteilung hatte einen enormen Medienaufruhr im Gefolge, der verlief irgendwann wieder, und nun haben wir sie, die Wessis.  

Peu a peu wurden weitere Ebenen besetzt. Ebenfalls vorzugsweise oder gar ausschließlich mit Leuten aus dem Westen. Diese Phase ist jetzt reichlich einen Monat her, Mitte bis Ende Oktober war das. Bis dahin verlief alles mit einer gewissen ruhigen Sachlichkeit, so wie eine lange vorbereitete Okkupation planmäßig und exakt per Einmarsch erledigt werden kann, vorausgesetzt, man erwartet keine Gegenwehr, und bei Lage der Dinge war das außerhalb des Denkbaren.

Schon früher, irgendwann freitags, hatte es geheißen, bis Montag müsse jeder sich bewerben, kurz und relativ formlos, ohne Zeugnisse, nur mit Hinweis auf seine Interessengebiete und seine bisherigen TV-Produkte, und, vorausgesetzt, man bewirbt sich um eine Festanstellung, mit dem Bemerken, dass man die Einsicht in den Mühlfenzl-Fragebogen gestatte (irgendwann hatte Mühlfenzl von jedem eine Aufstellung seiner beruflichen und politischen Stationen verlangt, einschließlich Funktionen und eventueller Stasi-Kontakte, auch das gab einen ziemlichen Aufruhr in Medien und Gewerkschaften, auch der verlief sich, und die Aktion wurde planmäßig durchgeführt). Und wer sich für einen Leitungsposten interessiere, müsse seine Bewerbung noch am selben Freitag bis zum Abend abgeben.  

Wir grübelten und pinselten, legten all unseren Charme und unser zurückhaltendes Selbstbewusstsein in die Zeilen, suchten im Gedächtnis nach unseren gelungensten Arbeiten und gaben termingerecht ab. Etwa Ende August war das.  

Wie warteten ergeben ab, wie die Dinge sich entwickeln würden, man hatte versprochen, unsere Bewerbungen dorthin zu schicken, wo sie hingehören, wo immer das auch sein mochte, und zudem wurde das Versprechen erneuert, dass die Bewerber aus den Landesfunkhäusern Vorzug genössen. Wir beim Landessender Sachsen glaubten uns in einer etwas günstigeren Position als die anderen, weil unser derzeitiger Studio-Leiter jener einzige Ostdeutsche neben 7 West-Direktoren ist, und der hatte uns versprochen, seinen Einfluß in unserem Sinne zu gebrauchen. Was ja wohl auch seine Pflicht gewesen wäre.  

Wie gesagt, Ende August geben wir im Eiltempo unsere Bewerbungen ab. 8 Wochen später, im Oktober, als inzwischen die anderen Ebenen mit Leitern versehen sind und diese beginnen, Sendungs- und Besetzungsmöglichkeiten zu erörtern und damit schlagartig die Ruhe raus ist aus dem Geschäft, Ende Oktober also erfahren wir, dass unsere Bewerbungen immer noch in Dresdner Schreibtischen herumliegen.  

Hektik bricht aus. Ich will zwar freiberuflich werden, aber beim MDR, und mit ganz bestimmten Vorstellungen, ich will das gerade aus der Taufe gehobene Bergsportmagazin BIWAK weitermachen und Sportpublizistik produzieren, und mir ist klar, wenn bestimmte Dinge erst einmal in Stein gehauen sind, wird es viel schwerer, Sendungen oder gar ganze Sendereihen unterzubringen.  
Auch alle anderen sind empört, ratlos und noch verunsicherter als sonst.  

Ich bin kein Mann, der tatenlos die Hände ringt, ich versuche, den wichtigsten Mann nach Intendant Reiter, den MDR-Fernsehdirektor Röhl, zu sprechen. Ich habe keine Chance, ihn zu erreichen. Ich merke erstmals und zunächst nur in Ansätzen, was mir in den nächsten Tagen ziemlich unverblümt klargemacht werden wird: dass ich hochdotierter, in Sachsen mit ehrfürchtigem Beifall empfangener und immer als etwas Besonderes betrachteter Journalist für die Wessis nur ein 53-jähriger Nobody sein werde, viel zu alt und zu belastet, als dass man eine Absicht mit ihm verbinden könnte. Ich habe das zwar immer scherzhaft prophezeit, aber nie wirklich daran geglaubt.

Bitte blättern Sie weiter auf die nächste Seite.

 

 

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