Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus
10. September 88
Ich war einkaufen und blieb ungebührlich lange weg. Als ich zurückkomme, fragt K., meine Frau: „Mein Gott, hast Du die ganze Kaufhalle aufgekauft?“ „ Ich bin in 12 Läden gewesen, um Zwiebeln zu ergattern. Jetzt fang` ich an, jetzt schreib ich’s auf. Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus. Unterzeile: Begonnen an dem Tag, als ich in 12 Geschäften keine Zwiebeln zu kaufen bekam.“ So soll es sein.
12.9.88
Ich war heute in Halle, dienstlich, mit dem Zug. Dienstreisen zu Recherchezwecken mit dem Auto gibt es kaum noch, auch wenn dadurch noch so viel Zeit verloren geht. Aber Halle geht ja.
Der Zug war dreckig, die Scheiben so verschmutzt, dass ich Kopfschmerzen bekam, als ich, in Grübeln versunken, eine halbe Stunde nach draußen gestarrt hatte.
Wenn der D-Zug auf vollen Touren war, krachte das Abteil hin und her, dass die Flaschen von den Fenstersimsen sprangen. Ich bekam tatsächlich Angst, dass etwas passieren könnte, denn gerade in diesem Jahr ist in dieser Hinsicht schon einiges geschehen. Schreiben war im Prinzip unmöglich, ich hatte mir ein paar Notizen gemacht und kann sie jetzt kaum entziffern.
Ich hörte Musik mit meinem uralten Walkman, einem großen japanischen Modell ohne Radio.
Ich hatte das Gerät vor drei Jahren für 250 Mark im An- und Verkauf ergattert und war glücklich. Unter der Hand werden sie für den doppelten Preis gehandelt, allerdings die mit Radio. Bei uns werden weder welche hergestellt, noch gibt es – mit einer kurzen Ausnahme vor 8 Jahren – welche zu kaufen.
Der Zug hatte ein Mitropa-Abteil. An warmen Speisen (am Tresen zu kaufen und im Stehen zu verzehren) gab es nur eine unangenehm riechende, wurstartig gerollte Boulette. Immerhin, fein, dass es das Mitropa-Abteil überhaupt gab.
Die Verspätung hielt sich in Grenzen, 10 Minuten, nicht der Rede wert.
Heute ist Montag, wir sind erst am Morgen aus W. gekommen. Wir haben Sorgen mit unserem Wochenend-Haus. Ein dicker, tragender Balken ist durchgefault. Das ist ein schwer lösbares Problem. Kein finanzielles, denn wir haben - von der staatlichen Sparkasse – jetzt schon den zweiten Kredit zu außerordentlich großzügigen Bedingungen bekommen, insgesamt sinds jetzt rund 40.000 Mark, verzinst zu 1 Prozent, Rückzahlung pro Monat 80 Mark. Aber auch für noch so viel Geld bekäme ich in überschaubarer Zeit keinen neuen Balken dieser Abmessung, und ebenso aussichtslos ist es, eine Firma zu finden, die den Schaden behebt. Insofern sind diese Kredite zu einem Gutteil Scheingesten, weil man für das Geld weder Material noch Leute bekommt. Obwohl wir planmäßig – als „Bilanzanteil“ - eine Badewanne erhalten sollten, habe ich sie am Ende von einem Berliner Schrottplatz besorgt (vor vier Jahren übrigens hätte man, kann ich mich erinnern, noch eine neue zu kaufen gekriegt).
Ein weiteres Unikum dieser Kreditvergabe ist, dass jedermann weiß, dass Handwerker zu den Preisen, die dort veranschlagt sind, heute nirgends mehr zu bekommen sind.
Zwischen 4 und maximal 5,50 Mark dürfte ich den Handwerkern zahlen, tatsächlich aber kosten sie in Sachsen zwischen 8 und 10 Mark, als ich mal auf Berliner zurückgreifen wollte, verlangten diese zwischen 15 und 2o Mark. Ich hab hier in Berlin auch schon von 25 Mark die Stunde gehört, und immer häufiger soll auch Westgeld verlangt werden.
Ich war am Wochenende recht niedergeschlagen.
Die Zeitungen berichten (und Augenzeugen aus dem Kollegenkreis bestätigen das), in der sowjetischen Wirtschaft ginge alles drunter und drüber und Gorbatschow bekäme das nicht in den Griff.
Und dann geht einer meiner zuverlässigsten Freunde, der Bergsteiger Manfred K., nach 2 ½ Jahren Wartezeit mit seiner Familie in den Westen. Sie wollen uns schreiben, nach W., nicht nach Berlin, und es wird nichts Verfängliches sein, damit ich keinen Ärger bekomme. Und sie werden auch realitätsgetreu berichten, so daß wir uns ein Bild machen können. Ich werde ihnen antworten, das steht fest, und ich werde, da wir keinen oder zumindest keinen nichtangemeldeten Westkontakt haben dürfen, das in meiner Redaktion mitteilen (bisher habe ich tatsächlich solche Kontakte nicht). Aber – gute DDR-Schule – ich grübele, ob das irgendwelche beruflichen Konsequenzen für mich haben könnte.
Wir fühlen uns verlassen, lasten das aber nicht der Familie K. an, sondern eher denen, die sie zu diesem Schritt veranlasst haben.
Na ja, egal, wir machen das Licht hier aus, so reden wir schließlich immer, wenn von der enormen Ausreisewelle in Sachsen die Rede ist.
15.9.88
Ich hatte gestern 6.30 Uhr einen Durchsichtstermin für unseren Trabi. Meine Bitte, das Auto schon am Vortag abliefern zu können (6.30 Uhr ist für mich verdammt früh) wurde abschlägig beschieden. Keine Stellmöglichkeiten.
Ich bin also morgens 6.30 Uhr pünktlich da. Per Lautsprecher werden die zu Hauf wartenden Kunden nach und nach ins Meisterzimmer gerufen. Einige Leute haben Sorge, dass sie vielleicht nicht auf der Liste stehen könnten und fragen nach. Grob und unhöflich wird ihnen gesagt, sie sollten den Raum wieder verlassen und sich gefälligst gedulden (darunter ein Mann, der, weil er aus der Nachtschicht kam, schon seit 5.45 wartete und eigentlich gehofft hatte, als erster dranzukommen, wenn er als erster da ist).
Ich habe Wünsche, die über die Durchsicht hinausgehen. Einen Rückscheinwerfer können sie mir nicht anbauen, weil sie dafür weder Material noch einen Kfz-Elektriker haben, aber immerhin, einen Intervallschalter für den Scheibenwischer werden sie mir installieren (der war zu meiner Überraschung am neuen Auto nicht vorhanden, ich merkte das erst, als ich das Auto schon gekauft hatte. Irgendjemand erklärte mir damals, ja dann hätten sie im Autowerk eben an diesem Tage keine Intervallschalter gehabt). Das neue Auto hatte damals noch mehr Macken, blockierende Bremsen, defekte Kupplung, kaputte Schlösser usw. Und die Werkstattsituation ist in Berlin wie in Sachsen gleichermaßen katastrophal. Ich hatte vor zwei Jahren in der Werkstatt Löwenberger Straße im Februar einen Durchsichtstermin bestellt und ihn bekommen für Januar des nächsten Jahres!
Weil das Auto also in der Werkstatt ist, muß ich seit langem mal wieder S-Bahn fahren. Ich kaufe mir Fahrkarten und will es gar nicht glauben, dass das Stück Packpapier, das man mir da in die Hand drückt, fünf Fahrkarten sein sollen. Die einzelne Karte ist so gut wie nicht gefalzt, als ich sie vereinzeln will, reiße ich sie mittendurch. Ich starre die Dinger an und denke nach, wie die Fahrkarten früher mal aussahen. Erst aus gelber, fester Pappe, dann aus weißem, festem, pappeähnlichem Papier, immer noch einzeln, dann kamen weiße Papierbögen auf, die man auseinanderreißen musste, das war schon immer schwierig, und jetzt nun die bedruckten Packpapierfetzen, die man möglichst mit der Schere zerschneidet, wenn man richtige Scheine haben will. Eine symptomatische Entwicklung.
In der Redaktion mische ich einen Film. Als Mischtonmeisterin fungiert ein 23-jähriges Mädchen, das nur eine Ausbildung als Facharbeiter für Nachrichtentechnik besitzt. Sie will studieren, doch sie fürchtet, nicht delegiert zu werden, weil sie nicht FDJ-Sekretär machen will in der Abteilung (freiwillig hatte sich niemand gefunden). Eher studiere ich nicht, sagt sie. Sie kann sich zum Studium auch selbst bewerben, aber eine Delegierung hat ein ganze Reihe von Vorteilen, und auch die Wahrscheinlichkeit, angenommen zu werden, ist größer.
Ich habe seit langem mal wieder Dr.M. getroffen, ehemals ein Kollege, inzwischen gehört er zur Leitungsebene. Er erzählt mir, dass in Premnitz ein riesiges Investvorhaben, ein Chemiefaserbetrieb, das 6 Milliarden Valutamark ablösen sollte, nicht funktioniert, weil es dilettantisch und zu schnell angefahren worden sei. Das sei eine partei-interne Information, sagt er, nicht für die Öffentlichkeit.
Mir fällt in diesem Zusammenhang ein Mann ein, den ich in Budapest, im Thermalbad, kennen gelernt hatte. Er gab zwischen den Zeilen zu erkennen, dass er in Mecklenburg ein hoher Wirtschafts- oder Parteifunktionär wäre. Er wirkte auch so.
Wir redeten über unser Musterländle, und dabei erklärt er, dass unsere katastrophale Konsumgüterversorgung zu einem Gutteil darauf zurückzuführen sei, dass seit einigen Jahren eine „Bank“ unseres Exports, die Werkzeugmaschinen, nicht mehr ginge. Ein Riesenloch im Außenhandel, und um das zu stopfen, hat man alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest war, eben auch die Konsumgüter.
Es ist bedrückend. Offiziell erfährt man nichts. Was ist in Premnitz schiefgelaufen? Wer ist für das Scheitern verantwortlich? Was geschieht dem Mann? Wie wird die Finanzlücke gedeckt? Gehen unsere Werkzeugmaschinen tatsächlich nicht mehr?
Alles Fragen, die in diesem Land keiner beantwortet, die in keiner Zeitung stehen, die man nicht im Fernsehen hört. Und es gibt ja noch mehr Fragen. Hat unser Land Schulden, wie hoch sind die Schulden?
Stimmt es, was im „Sputnik“ gestanden haben soll, dass unser Export gerade ausreicht, um unsere Zinsen zu bezahlen?
Wo wird gesagt, wie unsere Lebenskosten steigen? Wie demzufolge der Wert der Währung sich verändert? Wie entwickelte sich das Konsumgüterangebot? Wie ist unser Durchschnittseinkommen?
Nichts wissen wir, gar nichts. Wir werden in dummer Abhängigkeit gehalten. Wir sollen glauben, die da oben machen schon alles richtig, und wenn wir ihnen nicht glauben, dann ist es auch egal, denn für diesen Fall haben sie ja die Mauer.
Wieder zurück zum gestrigen Tag. Da wir abends Besuch erwarten, versuche ich, Schinkenspeck zu kaufen. In drei Fleischereien vergebens. Nach Schinken frage ich natürlich nicht, den gibt es in normalen Fleischereien schon jahrelang nicht mehr, wenn überhaupt, dann nur in „Delikatläden“ zu Preisen, die 300 bis 500 Prozent, schätze ich, über den ehemals verlangten liegen.
Also kein Schinkenspeck. Ich gehe in einen Fischladen und kaufe drei Bücklinge (sehr preiswert, aber ich verkneife mir, das herauszuheben, was ohnehin in jeder offiziellen Verlautbarung nicht fehlt, auch dass die schäbige Fahrkarte beispielsweise nur 20 Pfennig kostet. Irgendwann werde ich die Vorzüge unseres Landes einmal gesammelt darlegen, sehr umfangreich wird’s sicherlich nicht werden).
Ich kaufe also Bücklinge, sie werden in ein kleines weißes Blatt Papier gewickelt, darum kommt ein großer Bogen Zeitungspapier. Daran bin ich gewöhnt, das tut mir nichts, nur – das Zeitungspapier weist große braune Flecken auf, die nicht von meinem Fisch stammen. Ich frage, was das für Flecken seien. Antwort der Verkäuferin, gereizt und keineswegs schuldbewusst: das wisse sie nicht, sie habe die Zeitungen schon so bekommen, und sie könne daran nichts ändern. Ich sage zynisch, aber am Ende eben doch hilflos, dass ich mich für die freundliche Auskunft bedanke. Und gehe. Mit dem Fisch.
In der Redaktion erzählt jemand, dass 15-Jährige in ihren Aufsätzen zum Thema, wie sie sich die Welt im Jahre 2015 vorstellten, übereinstimmend von weggefallenen Grenzen und Reisemöglichkeiten geschrieben hätten. Daß sie damit ein Grunddefizit unseres Landes angesprochen hätten. Und dass das zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Identifizierung der jungen Leute mit diesem Staat führen werde.
In der darauffolgenden Diskussion habe ich die Auffassung vertreten, dass die neue Jugend auch nicht frustrierter sein könne als wir damals, dass das aber nichts täte, man würde eben mit einer neuen Generation frustrierter Jugendlicher weiterwursteln, denn ausrücken könnten sie ja nicht. Allerdings würden wir uns so immer weiter abnabeln von Fortschritt und Zivilisation, und damit würden die Chancen, die Mauer eines Tages zu beseitigen, immer geringer, denn der Sog durch die Lücke nach draußen würde immer gewaltiger werden und zu einem Chaos führen.
Vielleicht, überlegte ich zum Abschluß, hätte man die Mauer schon vor 10 Jahren oder so öffnen sollen. Dann hätte es sicherlich auch das Chaos gegeben, aber vielleicht hätten wir es jetzt schon überwunden.
Abends kommt der Besuch. Meine Frau hat hübsche Salate zum Abendbrot gekauft, verschiedene Sorten, alle aus dem Delikatladen, also zu Preisen, die mit der Parole von den stabilen Lebensmittelpreisen längst nichts mehr zu tun haben.
Wir reden über alles Mögliche, über private, betriebliche, auch politische Dinge. Wir stellen fest, dass viele an vielem etwas auszusetzen haben, aber bei Wahlen doch immer mit „Ja“ stimmen. Natürlich aus Furcht vor Repressalien, aber man kennt eigentlich kaum Beispiele für solche Repressalien. Offensichtlich reicht bereits eine geringe Wahrscheinlichkeit von Nachteilen, um die Mehrheit im Volk zu veranlassen, gegen die eigene Überzeugung zu stimmen. Übrigens weiß kaum einer, ich gehöre dazu, wie eine Nein-Stimme bei der Wahl überhaupt aussieht. G. erklärt, dass jeder einzelne Name durchgestrichen werden müsse, ein Strich diagonal über den Zettel wäre immer noch eine Ja-Stimme.
Als der Besuch gegangen war, haben wir noch ein bisschen ferngeguckt, Westsender natürlich, und als zum Programmschluß die westdeutsche Hymne gespielt wurde, haben wir festgestellt, dass das nun auch die Hymne der Familie K. sei, und beide hatten wir das sentimentale Bedürfnis, auch eine Hymne zu haben in einem Land, auf das man stolz ist und mit dem man sich identifiziert.
17.9.88
Heute ist Sonnabend, in der Nacht wurden in Seoul die Olympischen Spiele eröffnet, unser Fernsehen wird rund um die Uhr berichten. Wir reisen mit etwa 100 Athleten weniger als die BRD nach Seoul, werden aber vermutlich ein Mehrfaches an Medaillen gewinnen. Ich nehme an, die zunehmende Staatsverdrossenheit in unserem Lande wird durch diesen Triumph nur geringfügig gemindert.
Mich, uns kotzt diese Medaillenschwemme seit Jahren ohnehin nur noch an (so sehr ich mich auch mit dem einzelnen Sportler zu freuen vermag). Ich denke, dass auf diese im Großen und Ganzen doch billige Art versucht wird, die Rückständigkeit und Zweitklassigkeit unseres Landes auf den wichtigsten Gebieten des Daseins (Wirtschaft, Lebenskultur, Menschenrechte) zu übertünchen.
Viele sehen das so, aber auch sie können sich riesig freuen über jeden einzelnen Erfolg.
Am Donnerstag habe ich mich mit einem Uraltgenossen aus der Sportredaktion unterhalten. Er war jahrelang APO-Sekretär, häufig ein ganz Scharfer. Aber jetzt versteht er die Führung auch nicht mehr. Er bezeichnet die hemmungslose Erfolgspropaganda, u.a. bei uns im Fernsehen, als verlogenen Missbrauch der Massenmedien. Er gebraucht die Formulierung „Schizophrenie“, und ist davon überzeugt, dass mit dieser Leitung (Honecker usw.) das nicht zu ändern sei.
Zufällig kommt der jetzige Parteisekretär der Sportredaktion vorbei, und auf unsere Bemerkung, wir seien gerade dabei, den Sozialismus zu retten, erzählt er grinsend folgenden Witz: Was ist die Lieblingssportart Erich Honeckers? Bobfahren! Weshalb? Rechts und links ne Mauer und immer schön bergab. Danach noch zwei oder drei Witze ähnlichen Kalibers.
Man findet es häufig, dass engagierte Parteifunktionäre solche Witz erzählen. So richtig einordnen kann ich das nicht.
Am Freitag war ich dienstlich in Leipzig, ich sollte einen Beitrag über computergestützte Details bei der Elektrifizierung der Bahn machen.
Die Leute, die ich besuche, hausen in Baracken, Freitagmittag 11.30 Uhr ist allerdings schon die Wochenendruhe eingezogene, nur ein einziger ist noch da. Der Computer, den sie mir zeigen sollten, ist kaputt, der Bildschirm wurde vom Monteur abgeholt mit der Bemerkung „Es gibt Betriebe, die warten schon zwei Jahre auf die Reparatur“.
Den Chef der Montage kenne ich von früher, einen Mann mit einer Riesenverantwortung. Wir tauschen uns über unser Einkommen aus, er bekommt 1300,- Mark netto, genau so viel wie ich (jeder dachte vom anderen, dass er mehr bekäme).
Am frühen Nachmittag bin ich wieder auf dem Bahnhof in Leipzig, der ist um diese Zeit voller Menschen, trotzdem – keine Limonade mehr, kein Kaffee, nichts. Der Zug wird übervoll, aber auch diesmal nur 1o Minuten Verspätung. Ende gut, alles gut.
Am Abend erzählt mir meine Frau, sie habe nachmittags um 5 Uhr kein Stück Fleisch mehr bekommen, und, das ist neu, auch nicht ein Zipfelchen Wurst. Und außerdem in vier Gemüseläden nicht einmal Suppengrün.
Ich habe aus Leipzig ein interessantes Gerücht mitgebracht. Auf der Messe, bei der der neue Wartburg mit Viertaktmotor ausgestellt war, soll es Tumulte und Farbschmierereien gegeben haben als Antwort auf die Preisankündigung von 30.000 Mark. Schabowski soll erklärt haben, der Wagen müsse so teuer sein, weil man sonst die Subventionen für Mieten, Essen, Kinderkleidung etc. verringern müsse.
Das einzige Positive an dem Ganzen – ich nehme an, um ähnlichem Ärger vorzubeugen, wird man beim Viertakt-Trabi nicht ganz so hoch rangehen (bisher lauten die Gerüchte zwischen 18.000 und 20.000 Mark). Man erwartet, nach vielen Jahren des vergeblichen Hoffens, das neue Modell im nächsten Jahr.
19.9.88
Ich bin erst jetzt, abends 10 Uhr, in W. eingetroffen, weil ich in Berlin noch an einer Parteiversammlung teilnehmen musste. Man hat diesmal mit drakonischen Konsequenzen gedroht für den Fall der Nichtteilnahme, denn es handelte sich um die Wahlversammlung der Parteigruppe. Mir hat das überhaupt nicht gepasst, weil ich wegen der Balkenreparatur unbedingt noch nach W. wollte, und normalerweise nehme ich die Parteidinge auch nicht so ernst, aber bei Wahlversammlungen werden sie tückisch, da habe ich mich einschüchtern lassen. Wir waren 17 von 21 Möglichen, eine Ausnahmefülle, normalerweise kommen zu Parteiveranstaltungen, Parteilehrjahr beispielsweise, nicht einmal 50 Prozent, und viele laut Statut vorgeschriebene Versammlungen finden gar nicht erst statt. Das war übrigens einer der Gründe, weshalb die bisherige Leitung, bestehend aus einem Regisseur und einer Aufnahmeleiterin, beides sehr gut Fachleute auf ihrem Gebiet, abgelöst wurde. Rechenschaftsbericht und sog. „Entschließung“ waren dementsprechend kritisch, aber vorsichtig unpersönlich. Man will keinem wehtun, man weiß, dass die meisten die Parteiarbeit nur lustlos machen. Die Ablösung der alten Leitung ist eine Scheinaktivität, es ist so gut wie sicher, dass sich auch unter der neuen Leitung nichts ändern wird, auch wenn die neue Gruppenorganisatorin, eine hervorragende Kamerafrau, mit allerlei Aktivitäten gedroht hat. Das liegt an ihrer energischen Mentalität, das hat etwas mit ihrem Charakter zu tun und nichts mit einer etwa bevorstehenden Wende in der Parteiarbeit.
Vor der Diskussion war Pause, wie immer waren Diskussionsbeiträge bestellt und schriftlich vorbereitet. Wir frozzelten, jemand könne doch mit einer unvorbereiteten Wortmeldung die Ordnung durcheinanderbringen, doch da wehrten einige entsetzt ab. Das bringe nichts Gutes. Das stimmt tatsächlich, meist beginnt dann ein nicht enden wollendes Kritisieren und Gemeckere, bis irgendein Leiter sich endlich entschließt, laut ein Machtwort zu sprechen. Ich bin besonders bekannt für renitente Auftritte, wohl wissend, dass ich auf Grund meiner journalistischen Leistungen eine gewisse Narrenfreiheit genieße. Aber ich gehe selten so weit, dass, wenn man mich beim Wort nähme, ich ernsthaftere Konsequenzen befürchten müsste. Immer wieder mal kommen von uns Einwände, die erkennen lassen, dass uns beispielsweise unsere Maulkörbe nicht passen, dass uns die verlogene Erfolgspropaganda zuwider ist usw. Das wird alles geduldet, solange es nur im Kreise der Genossen geäußert wird und eine gewisse Deutlichkeit nicht überschreitet. Hauptsache, es herrschen nach außen Ruhe und Ordnung.
Eine Redakteurin berichtete von einem Beitrag über die Volksvertreter eines Ortes, und dass die Dreharbeiten abgebrochen wurden, als bekannt wurde, dass einer von denen in unsaubere Geschäfte verwickelt war. „Eigentlich hätte man in dem Moment den Beitrag erst richtig beginnen müssen!“, tönte es aus unserem Kreis. Da schraubt sich unser Stellvertretender Bereichsleiter aus seinem Stuhl hoch und verkündet mit sehr ruhiger Big-brother-Überlegenheit: „ Es ist das Prinzip unseres Landes, mit guten Beispielen zu argumentieren, und wir fahren gut damit. Außerdem gibt es im Sozialismus den Schutz der Persönlichkeit, wir sehen den Menschen, der da in der Öffentlichkeit kritisiert werden soll, das können wir nicht zulassen, dafür ist unsere Gesellschaftsordnung zu human.“ Ich gucke ihn, vermutlich habe ich vor Staunen einen offenen Mund, fasziniert an und überlege, wie es möglich ist, dass man solch eine Scheiße so souverän über die Lippen bringen kann, und weshalb ihm keiner, auch ich nicht, widerspricht. Und da kommt er in Fahrt und berichtet von dem Kameramann einer anderen Abteilung, der das Parteibuch auf den Tisch geknallt hat, weil er mit der Politik unserer Partei nicht mehr einverstanden ist, mit der schlechten Versorgung, mit der heuchlerischen Öffentlichkeitsarbeit.. Und er sagt, das macht der Mann jetzt, in dieser Situation, wo wir im Kampf stehen, wo wir hart bedrängt werden von denen drüben, wo die alles versuchen, uns das Leben schwer zu machen, unsere Intellektuellen, unsere Ärzte, unsere Spezialisten abwerben. Und er schließt mit den Worten: „Wir haben dem Kameramann klargemacht, dass er keinesfalls einer der Besten seines Fachs ist, also hat er überhaupt keinen Grund zur Klage, höchstens zur Selbstkritik.“
Dann schimpft er noch darüber, dass die ganze Westberichterstattung über die Perestroika in der SU nur auf die DDR gezielt sei (da könnte er Recht haben), und dass er in der SU war und die Schlangen vor den Zeitungsaushängen mit den brisanten Artikeln gesehen habe, aber auch, dass es in den Geschäften nichts zu kaufen gäbe. Das könne es doch nicht sein.
Keiner von uns hatte von Perestroika geredet, aber sie wissen natürlich, dass wir darauf warten. Und zuerst natürlich auf innenpolitische Erfolge Gorbatschows in der SU. Wir und besonders ich bangen täglich um diese unsere seit langem einzige und vermutlich allerletzte Hoffnung. Aber zu diesem umfangreichen und für mich zur Zeit wichtigsten Thema irgendwann einmal ausführlicher.
Schließen wir den heutigen Erguß mit einer Episode, die genau so dusslig wie symptomatisch ist: Ich habe gestern die Sendung „Telelotto“ moderiert und hatte dadurch Kontakt zur Abteilung Unterhaltung. Sie erzählten mir, dass es neulich harsche Kritik gegeben hätte, weil in einem Beitrag ein Mensch zu sehen war, der eine Bockwurst aß. Man wisse doch, dass es wegen der angespannten Versorgungssituation strikt verboten sei, essende Menschen im Fernsehen zu zeigen.
20.9.88 / 23.9.88
Wir hatten einen Fliesenleger dafür gewonnen, uns in W. Fliesen zu legen, und zu unserer großen Freude sagte er auch, dass seine Firma, eine PGH in Sebnitz, die Fliesen liefern könne.
Eine Sensation!
Wir waren also guter Hoffnung, dass wir 14 Tage später verabredungsgemäß unser Bad gefliest vorfinden würden. In irgendeiner Herzkammer war aber auch ein bisschen Skepsis, denn die Erfahrung hat uns bisher fast ausnahmslos gelehrt – planmäßig geht nichts, und wenn man nicht dabei ist und drückt und nachfasst, geht überhaupt nichts. So war es denn auch. Der Fliesenleger erklärte bedauernd, er hätte nur die Hälfte der benötigten Fliesen bekommen. Vielleicht sollte ich mich selbst einmal an den Chef der PGH wenden.
Ich stehe also am nächsten Morgen auf dem Hof der PGH, um die restlichen Fliesen zu erbitten. Der Herr über diese sagt, als er kommt, jetzt mache er erst einmal Frühstück.
Nach 20 Minuten kann ich mit ihm reden.
Er beklagt die Gutmütigkeit unseres Fliesenlegers, der „immer den Leuten etwas verspricht und dann nicht weiterweiß“. Sie hätten vorwiegend staatliche Aufträge, und selbst die könnten sie nur mit Hängen und Würgen erfüllen, die allgemein katastrophale Lage auf dem Materialsektor mache um sie natürlich keinen Bogen. Ich gebe mich verständnisvoll, sehe ein, gebe zu, dass ich dagegen keine Argumente besäße, sage dann mutlos, dass ich im Bad ringsherum den Putz schon bis in 2 m Höhe abgeschlagen hätte, dass ich das nun wohl wieder neu verputzen müsse, und dass es eben alles Scheiße wäre in diesem Staat. Die letzte Formulierung ist offensichtlich das Schlüsselwort, das die Fronten aufweicht, er lässt erstes Entgegenkommen erkennen, und als ich ihm zum Tausch ein paar Pakete Fußbodenfliesen, die ich schon lange liegen habe, anbiete, verabschiedet er mich mit den Worten, er werde einmal sehen, was sich machen ließe.
In W. trifft mich ein neuer Hammer – zwei Maurer, die mir fest ihr Kommen zugesagt haben und für die ich extra auch noch einen Handlanger bestellte, sagen ohne Angabe von Gründen ab. Die Handwerker haben in diesem Land ein solches Monopol, dass sie sich über alle Konventionen hinwegsetzen können. Natürlich schimpfen auch sie fast ausschließlich auf den Staat und die katastrophale Wirtschaftslage, aber wenn sie die Dinge bis zum Ende denken würden, dürften sie das eigentlich nicht.
„Es ist ja gerade die Mangelwirtschaft in der DDR,“ so sagte ich neulich einem anmaßenden Arbeiter in einer Autowäscherei, „die Euch die Möglichkeit gibt, Euch wie die Könige aufzuführen. Also meckert nicht, sondern küsst unserer Führung die Füße!“
Wir fahren heute nach W., und ich versuchte wie immer, für die Leute in dem Dorf ein bisschen von den Waren einzukaufen, die es dort unten in Sachsen noch seltener gibt als bei uns in Berlin. Man hat in den letzten Tagen hier hin und wieder Weintrauben gesehen, im vierten Geschäft habe ich dann auch welche gefunden. Ich stelle mich an, eine halbe Stunde lang, und als ich dran bin, verlange ich sechs Tüten. Wütende Proteste von hinter mir stehenden Kunden und auch von der Verkäuferin. Ich bin eingeschüchtert, will erklären, dass das für die Sachsen ist, die in diesem Jahr noch gar keine Weintrauben zu sehen bekamen, aber sie lassen mich gar nicht ausreden.
Ein Geschäft weiter kauft jemand vor mir ein Kilo Äpfel. Man legt sie ihm auf den Ladentisch. „Wat denn, keene Tüte nich?“ fragt der Berliner gereizt. Die ebenso aufgebrachte Antwort der Verkäuferin: „Könnt ick Sie ja fragen, weshalb Sie keinen Beutel mithaben, wenn man einkooft, hat man doch ne Tasche bei. Wat solln wir machen, wenn wir keene Tüten kriejen?“
28.9.88
Ich wollte telefonieren. Mit einem Handwerker, mit wem denn sonst. Der Mann ist nur dienstags zwischen 13 und 15.30 Uhr zu erreichen. Klappts da nicht, muß man wieder eine Woche warten.
Aus irgendwelchen Gründen bin ich Dienstag um 13 Uhr schon zu Hause, sonst hätte ich das Telefonat natürlich von der Redaktion aus geführt, das wäre normal, alle telefonieren sie privat von ihren Dienstapparaten, was sollen sie auch machen, die meisten besitzen ja zu Hause kein Telefon.
Ich bin also leider schon zu Hause, und ich habe leider ebenfalls kein Telefon mehr (wir sind vor einiger Zeit in Berlin umgezogen, nur etwa 250 Meter weit, und es gab partout keine Möglichkeit, unseren Anschluß mitzunehmen oder einen neuen zu bekommen).
Ich gehe runter zur Öffentlichen an unserer Straßenecke. Gleichbleibender Piepton, keine Verbindung möglich. Zweiter Versuch in der Öffentlichen in der Nebenstraße. Beim Abheben werde ich Zeuge eines fremden Gesprächs, das bleibt auch so nach mehrfachem Auflegen und Abheben . Dritter und vierter Versuch – die beiden Öffentlichen vor der Kaufhalle. Keiner der beiden Apparate nimmt meine Markstücke an, sie fallen alle unten wieder raus (wenigstens das). Ich gehe zur Post. Die drei Öffentlichen im Vorraum sind besetzt, davor warten noch weitere Kunden. Der Schalter ist frei. Ich becirce die Dame dahinter, dass sie mir gestattet, von ihrem Apparat aus zu telefonieren. Im vierten Versuch komme ich durch, eine Frau am anderen Ende sagt, der Herr R. sei wohl im Zimmer, hebe aber nicht ab, ob ich warten wolle. Ich warte, im Angesicht der sich immer mehr umwölkenden Stirn der Schalterbeamtin, fünf bis sechs Minuten (die Minute zu 9o Pfennigen), dann habe ich ihn am Apparat.
Wir haben alles Denkbare versucht, um wieder ein Telefon zu bekommen. Ich hatte mir eine Dringlichkeitsbescheinigung von der Redaktion besorgt . Die kriegt jeder, insofern ist sie völlig wertlos, doch ohne sie hat man noch weniger Chancen.
Ich formulierte eine Eingabe an den Postminister. Schrieb, dass ich als mobiler Journalist unbedingt das Telefon brauchte. Abschlägiger Bescheid, keine Anschlussmöglichkeit, unterschrieben nur mit einem Kürzel, nicht einmal ein voller Name.
Ich tue etwas, das man mir als Genossen normalerweise übelnimmt - ohne in meiner Redaktion irgendjemand zu informieren oder gar zu fragen, schreibe ich an Honecker. Führe u.a. alle meine journalistischen Auszeichnungen an, das sind nicht wenige, und dass ich die für gute Arbeit bekommnen hätte, und dass ich diese gute Arbeit über Jahre u.a. deshalb leisten konnte, weil ich in Besitz eines Telefons war.
Antwort vom Eingabenbüro Honeckers: Die Eingabe wurde an das Postministerium weitergereicht. Antwort vom Postministerium: wie gehabt, nur noch mit dem Zusatz versehen: „Weitere Eingaben werden nicht beantwortet.“
Meine Kollegin B.R. hatte „Glück“. In ihrer Nähe bekam jemand vor ihr Telefon, obwohl sie einen deutlich älteren Antrag hatte. Sie ging der Sache nach und bekam heraus, dass der bevorzugte Mann ein Freund von Vera Öhlschlegel war, damals noch Frau des Politbüromitglieds Naumann. B. schrieb eine Eingabe an Honecker mit den Angaben zu diesem Fall. Sie bekam – vom Postministerium – die Antwort, es hätte keine ungesetzliche Vergabe von Telefon-Anschlüssen gegeben. Und sie würde in den nächsten drei Monaten mit einem Telefon versorgt werden. Wie es dann auch geschah.
Ich aber, wenn ich beispielsweise mit meinem Sohn, der bei seiner Mutter lebt, telefonieren will, streite mich an den Öffentlichen mit Langzeittelefonierern herum, renne von einer Ecke zur anderen, was besonders im Winter oder bei Regen Laune macht, ich breite meine dienstlichen und privaten Dinge hörbar auf der Straße aus, ich verzweifle am Kleingeld, das man selten ausreichend bei sich trägt und das häufig der Apparat ohne Gegenleistung behält, ich kriege jedes dritte Mal die Wut und bläke die Umstehenden an, dass die Rückständigkeit dieses Landes mich noch zur Verzweiflung bringt, um danach verschreckt den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass mich niemand erkannt hat.
Noch ein abschließender Fall zum Thema Telefon. In einer völlig telefon-freien Gemeinde in der Sächsischen Schweiz – in Sachsen ist sowieso immer alles noch einen Zahn schärfer -haben die Dörfler 20 Jahre darum gekämpft, wenigstens eine einzige Öffentliche für ihren Ort zu bekommen.
Und das alles, während im Westfernsehen mit dem Slogan „Ruf doch mal an“ für die Nützlichkeit eines Zweitanschlusses geworben wird. Allerdings – Westfernsehen haben die da unten auch nicht.
7.10.88
Heute ist Tag der Republik. Feiertag. Dieses Datum hat keinerlei Bedeutung für uns, außer eben, dass es ein arbeitsfreier Tag ist.
In den letzten Tagen ratterten mehrfach Panzer die Frankfurter Allee entlang. Sie probten den Feiertagsaufmarsch, behinderten den Verkehr auf der Magistrale, produzierten kilometerlange Staus und Chaos auf den Umleitungsstrecken. Man registriert das missmutig und gereizt , macht ein paar bissige Bemerkungen über den Sinn des Ganzen, nimmt es aber im Prinzip mit demselben Fatalismus hin, mit dem hier so vieles quittiert wird: „Man kann ja doch nichts dagegen machen,“ das populärste Motto in diesem Lande.
Wir machen zur Zeit einen Film über die computergestützte Streckenelektrifizierung der Reichsbahn. Wir wollen das Gießen von Fundamenten drehen. Ein anderer Bauzug steht unserem im Wege, die beiden müssen umrangieren, das geschieht so umständlich, dass es vermutlich die doppelte der erforderlichen Zeit kostet.
Dann stehen sie endlich neben dem Fundament-Loch, klappen ein Transportband seitlich aus, doch als die Beton-Masse über das Band läuft, fällt die Hälfte neben das Loch. Der Zug muß noch zwei Meter vorfahren, doch der Lokführer ist ein Schwätzchen machen gegangen. Als der Zug endlich erneut steht, läuft das Ganze besser. Trotzdem ist nach wenigen Minuten Schluß – die Waage funktioniert nicht, sie können die Mischung nicht nach Vorschrift bereiten. Feierabend.
In Leipzig haben sie inzwischen ihren Computer wieder zum Laufen gebracht. Sie haben aus einem weiteren defekten den dort intakten Bildschirm entnommen. Der Mann, der den Computer bedient, ist ein alter Hase, ein geradliniger Mensch mit einfacher, klarer Sprache. Als ich jedoch mit ihm ein Interview mache, wirkt er verklemmt, zittrig unterwürfig, und er versucht mit spitzem Mund, irgendeinen Parteitag mit unterzubekommen in seiner Antwort.
Wir wollen noch in der Teile-Fertigung drehen. Außer dem Brigadier ist keiner bereit, seine Arbeit zu machen, während unsere Kamera läuft. Sie wollen nicht „ins Fernsehen“, die ganze Lobhudelei auf den Sendern, während hier im Lande nichts klappt, kotze sie an, und da wollten sie nicht mitmachen. Ich rede mir den Mund fusslig, zögernd geben ein paar nach, es reicht, dass wir wenigstens die wichtigsten Einstellungen drehen können.
9.10.88
Die Familie H., gute Freunde von uns, war im Westen, und gestern abend waren sie bei uns zu Gast. Sie erzählten stundenlang von ihren Erlebnissen und Eindrücken, schilderten die sauberen Städte, die komfortablen Züge, die Blumenpracht überall, dass alle Häuser in Ordnung sind, wie herrlich Muscheln schmecken, wie groß die Steaks sind, die unglaubliche Zuvorkommenheit im Dienstleistungswesen, ob in der Gaststätte oder bei der Auto-Reparatur.
Sie sprachen über die vollen Autobahnen, auf denen trotzdem 200 gefahren wird, beschrieben detailliert das Parken in einer Tiefgarage mit automatisierter Beitragskassierung, sie schilderten den Komfort der Wohnungen, erzählten von hohen Mieten, aber noch höheren Einkommen, meinten, dass man in ihrem Beruf (er ist Architekt, sie Sekretärin) vermutlich Arbeit finden würde, und dass all das, auf das man hier als persönliche Errungenschaft stolz ist, man drüben innerhalb weniger Jahre wiederhätte.
Sie schwärmten von hundert Details und sagten resümierend, dass wir in jeder Hinsicht „Lichtjahre zurück“ wären.
Zwei Koffer voll gebrauchter Kleidung und anderer Gegenstände hätten sie mitgebracht, und die Kinder hätten auf sie gewartet wie auf den Weihnachtsmann.
Aber am Ende stellten sie fest, so schwer, wie sie sich das zwischenzeitlich vorgestellt hätten, wäre die Rückkehr in unseren grauen, rückständigen Alltag gar nicht gewesen – es sei eher so, als wären sie aus einem wunderschönen Film wieder aus dem Kinotheater herausgetreten in die Wirklichkeit.
So wie die H.s reagieren viele, wenn sie aus dem Westen zurückkehren. Sie quellen über von den ungeheuren Eindrücken aus diesem modernen, gutfunktionierenden Land, zuletzt mein Zahnarzt, der 1 ½ Stunden brauchte, um das loszuwerden, was offensichtlich mit Macht aus ihm herausdrängte. Und am Ende steht dann das gottergebene Schulterzucken – das Schicksal hat es so gewollt, dass wir zu den Armen gehören, also richten wir uns darauf ein, zu ändern ist es ja sowieso nicht (da wäre es wieder, das Motto). Natürlich spielen viele die Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen, mindestens einmal durch, prüfen, was wäre wenn, verwerfen die Sache dann aber aus den unterschiedlichsten Gründen. Die meisten, denke ich, unterlassen diesen Schritt, weil sie hier Verwandte, Freunde, Heimat, materielle Werte und auch eine sichere, wenn auch magere Existenz aufgeben müssten. Viele sind aber auch einfach zu wenig tatkräftig, um dieses Auf-den-Kopf-Stellen des gesamten Lebens in Angriff zu nehmen. Oder sie fürchten die unausbleiblichen Repressalien. Die Treue zu Partei und Regierung spielt zumindest bei der Mehrzahl keine Rolle.
Ich muß vielleicht relativierend zu den Anfangszitaten ergänzen, dass die Leute in der Regel nicht so dumm sind zu glauben, im Westen flössen nur Milch und Honig und der Wohlstand hätte nicht auch seinen Preis (drohende Arbeitslosigkeit ist nur ein Teil davon).
Aber auch unter Anrechnung dessen ist kaum jemand mehr bereit zu glauben, was man uns hier seit Jahrzehnten einzureden versucht, nämlich dass wir die Sieger der Geschichte seien.
22.10.88
Thema heute ist, aus gegebenem Anlaß, die Aktuelle Kamera, jene Nachrichtensendung unseres Fernsehens, bei der wohl 90 Prozent aller DDR-Bürger verwundet aufschreien, wenn sie auch nur den Vorspann hören. Im Fernsehen die heilige Kuh, fürs Volk das rote Tuch, und für unsere Machthaber Übermittler des Bildes, das sie von unserem Land sehen wollen.
Die Zuschauerzahlen der Aktuellen Kamera wurden als erste zur Geheimen Verschlußsache auch für Fernsehmitarbeiter erklärt, inzwischen dürfen wir auch alle anderen, selbst die unserer eigenen Produktionen, nicht mehr erfahren (ermittelt werden sie aber noch).
Die AK bekommt in der Qualitätsbewertung, in der offiziellen, immer die höchsten Noten, die AK verfügt über die beste Technik, die besten (West-)Autos, bei der AK sitzen die Prämien am lockersten. Die AK macht Fernsehen häufig diametral entgegengesetzt zu dem, was wirksam und logisch wäre. Ein Angriff, oder sagen wir, eine Kritik an der Aktuellen Kamera wird gewertet wie eine Kritik an der Partei selbst.
Die teilweise zutiefst abfällige Einschätzung des DDR-Fernsehens durch das DDR-Volk wird in der Regel zuerst mit der Aktuellen Kamera begründet.
Ab und zu werden wir Journalisten als Programmbeobachter eingesetzt. Wir müssen dann zu jedem Programmteil eine Einschätzung schreiben. Die AK genießt dabei in der Regel Immunität, Verstöße dagegen werden geahndet.
Ich hatte geschrieben, dass nur meine Programmbeobachterfunktion mich vom Umschalten abgehalten hätte, so unerträglich sei die Sendung gewesen. Meine immer existente Angst vor Konsequenzen verbot mir noch rüdere Formulierungen, aber es reichte bereits. Ich erhalte von meinem Bereichsleiter eine Verwarnung. Man hätte gesagt (wer „man“ ist, weiß ich nicht genau, „man“ ist auf jeden Fall noch höher angesiedelt als der Bereichsleiter), man also hätte gesagt, der Programmbeobachter sei doch ein erwachsener Mensch und wisse, dass die AK täglich mit dem Politbüro abgestimmt werde, da sei eine solche Bemerkung ein Unding.
Im Übrigen, lässt mich dann der Bereichsleiter an seiner persönlichen Weisheit teilhaben, im Übrigen habe die AK eine ganz andere Aufgabe als alle anderen Sendungen. Sie sei für das Ausland bestimmt, sie zeichne das Bild unseres Landes beispielsweise in der BRD, und deshalb gehorche sie anderen Gesetzen als die übrige Publizistik. Er, der Bereichsleiter, stehe in jedem Falle dahinter, auch wenn ihm selbst gelegentlich manches unverständlich wäre. Er vertraue den Genossen, weil die einfach einen größeren Überblick hätten. Wenn ich also noch einmal die AK einschätzen müsse, solle ich das bedenken, „aber,“ setzt er hinzu, und das macht das Ganze bühnenreif, „natürlich ohne zu heucheln!“
Ich nehme das Ganze mit grimmigem Gesicht schweigend hin, eine Diskussion hätte zu keinem Ergebnis, außer vielleicht zu noch größerem Kreditverlust, geführt. Ich bin also demonstrativ stumm, er ist offensichtlich froh, dass der befürchtete Gegenangriff ausfällt, und macht mir eilfertig ein paar Komplimente zu meiner sonstigen Arbeit.
29.10.88
Am Montag hatten wir Wahlversammlung der SED-Grundorganisation des Fernseh-Bereiches Publizistik. Gut 150 Genossen waren versammelt.
Zwei Kollegen, A.K. von Prisma und S.K aus meiner Abteilung, standen noch unter dem frischen Eindruck des Dokumentarfilmfestivals in Neubrandenburg, wo es wohl doch eine ganze Reihe bemerkenswerter Filme zu wichtigen Themen gegeben hatte (u.a. ziemlich realitätsnah zu Jugend- und Frauenproblematik). Ich selbst hatte zwar meinen Fischer-Film dort, besaß aber weder Zeit noch Neigung, an dem Festival persönlich teilzunehmen, weil mir das Künstlergehabe der Kollegen von der DEFA auf den Geist geht.
Ich also ohne die Neubrandenburg-Euphorie. A.K. und S.K. hingegen glühen, sie berichten mir (noch vor Beginn der Versammlung), die Zeiten stünden gut, die Wende deute sich an, auch von oben sei man jetzt an kritisch-optimistischen Beiträgen interessiert, man gebe sie zwar nicht demonstrativ in Auftrag, aber man toleriere sie. Und ich solle bei der Wahlversammlung einen Vortrag halten, der in diese Richtung weist, weil ich doch bekannt sei für meine Unzufriedenheit mit der bedingungslosen Erfolgspropaganda.
Ich grinse nur und sage, sie sollten sich doch nichts vormachen. Seit zwanzig Jahren käme in Abständen immer wieder von oben die Aufforderung, zuschauerzugewandte, problembewusste, realitätsnahe Filme zu machen, und immer seien es nur Lippenbekenntnisse gewesen, nie hätten sie das gemeint, was sie gesagt haben, immer wäre die kalte Dusche auf dem Fuße gefolgt.
Außerdem, meine ich weiter, seien die bemerkenswerten Neubrandenburger Filme alle von der DEFA gemacht worden, für Filmkunstkinos o.ä., aber nicht fürs Fernsehen. Was der DEFA hin und wieder großzügig gestattet wird, ist fürs Politmedium Fernsehen erfahrungsgemäß längst noch nicht möglich.
Dann also die Wahlversammlung. Langatmiger, anderthalbstündiger Rechenschaftsbericht durch den Bereichs-Parteisekretär T. Politische und wirtschaftliche Lage im Lande o.k., wir eilen von Erfolg zu Erfolg, Friedensliebe unseres Staates weltweit im Gespräch.
Danach Detaileinschätzung der einzelnen Publizistik-Abteilungen. Viel Lob, kaum ein paar kritische Worte, wir erfüllen die Aufgabe, die uns die Partei gestellt hat, mit Bravour. Über Zuschauerzahlen wird nur allgemein gesprochen, jeder weiß, dass sie so katastrophal sind, dass die Fernsehleitung sie selbst vor den Machern geheim hält. Zudem haben sie den Trick erfunden, nicht die Zuschauerzahlen absolut seien entscheidend, sondern die Qualität der Zuschauer. Funktionäre, Leiter, Pädagogen seien hochrangigere Fernsehkonsumenten, und die würden wir in ausreichender Zahl erreichen.
Am Schluß müder Beifall, dann die Diskussion. Die Beiträge sind fast ausschließlich in Auftrag gegeben worden. Ich wollte eigentlich nur beisteuern, dass sich die Leipziger Arbeiter geweigert hatten, bei laufender Kamera zu arbeiten, weil sie die Schönfärberei unseres Fernsehens nicht machen wollten. Aber diese zwei Sätze schriftlich, wie es vorgeschrieben war, anzumelden, war mir zu blöd, und es gab auch tatsächlich nicht eine einzige spontane Wortmeldung.
Auch S.K. sagt nichts, Revoluzzertum liegt ihr nicht, zumindest kein öffentliches. Ich sage das ohne Vorwurf, nur mit dem üblichen Bedauern, dass der andere nicht in die Bresche springt, die man eigentlich selbst ausfüllen könnte.
Nur A.K., der schon öfter einmal eine Lippe riskiert hat, ohne dabei allerdings je großen Schaden zu nehmen, er war in Neubrandenburg sogar Präsident des Festivals, K. also trumpfte auf. Nervös, nicht sehr gekonnt, aber es war am Ende doch klar, was er wollte – eine Publizistik, die sich an den Fragen der Zuschauer, des Volkes orientiert. Und die beschäftigen sich nur zu einem geringen Teil mit der Mikro-Elektronik, sondern überwiegend mit den vielen kleinen Dingen, bei denen es in unserem Land nicht oder nur schleppend läuft (A.K. führt als Beispiel die katastrophalen Verhältnisse bei der Reichsbahn an).
Zunächst kam nichts. Schnitzler hatte vorher schon eine schlimme Rede gehalten, dass wir die Größten, weil Unbeirrbaren seien, dass wir zur Zeit aus dem Westen geradezu bombardiert werden mit Gemeinheiten, dass der Klassenkampf tobe wie nie zuvor, dass unsere Partei- und Staatsführung aber konsequent und erfolgreich usw., und dass uns von unserer Linie niemand abbringen werde. Und wir, das Fernsehen, hätten die Pflicht und die Ehre, dabei in vorderster Reihe mitzukämpfen.
Und dann das Schlusswort von Adameck-Stellvertreter Raddatz. Knallharte Kritik an A.K., den Aufmüpfigen, danach Verallgemeinerung: Das Fernsehen ist Instrument der Partei, wir haben die Politik unserer Parteiführung umzusetzen, immer wieder nur das, und die Fragen des Volkes sollte man zwar im Auge haben, sie könnten aber das Fernsehprogramm nicht bestimmen.
Und dann wurde er großartig, sprach mit leuchtenden Augen von den 200 km Stabilität, die unser Land unmittelbar an der Westgrenze des Sozialismus darstelle, und dass unsere Konsequenz unsere Stärke sei, und die Veränderungswut unserer Nachbarn im Osten und noch weiter östlich könne man nur mit Sorge betrachten. Und nach diesem überraschend offenen Bekenntnis wurde er noch konkreter, nannte polnische und ungarische Regierungsstellen, ließ sogar Namen einfließen, und gab schließlich zu erkennen, dass er auch die Sowjetunion nicht ausnehme. Es war eine Brandrede übelsten Stils gegen all das Neue, auf das so viele auch der Anwesenden ihre letzte Hoffnung gründeten, es war trostlos, hoffnungslos.
Um A.K. moralisch zu unterstützen, riskierte S.K. einen halben Zwischenruf (auch sie und A.K. seien ja diese Partei), aber der wurde, weil auch nur halbherzig gerufen, kommentarlos übergangen.
Kleine, ganz kleine Entschädigung am Schluß – der einzige von den drei großen Rednern des Abends, der zur Wahl stand, der Parteisekretär T., bekam - zwar kümmerliche, aber dennoch fast sensationell zu nennende - 18 Gegenstimmen. Meine und 17 andere.
Das war die größte Zahl von Gegenstimmen bei einer Parteiwahl, seit ich denken kann.
Ich hatte mir wegen meiner privaten Differenzen mit T. ohnehin vorgenommen, ihn nicht zu wählen. Als ich sah, dass wir die Zettel unmittelbar neben der offen dastehenden Wahlurne bekamen, wurde ich noch einmal unsicher, denn ich musste damit rechnen, der einzige zu sein, aber dann sah ich auch einen anderen mit Zettel und Bleistift in der Hand an einen Nebentisch gehen (Regisseur M.D.), und da war dann alles klar.
Übrigens fiel draußen, im Dunkeln, denn die Versammlung dauerte von 16 bis 21 Uhr, Schnitzler unglaublich in den Dreck. Die es sahen, grinsten verstohlen. Aber Symbolisches war an dem Vorgang leider nichts zu entdecken.
13.11.88
Es gibt im Prinzip täglich etwas Notierenswertes, also etwas, das die gegenwärtige Situation charakterisiert, aber wir bringen nicht die notwendige Disziplin fürs Schreiben auf. „Das müssen wir uns merken,“ stellen wir in der Regel fest und nehmen uns vor, es zum nächstmöglichen Zeitpunkt aufzuschreiben. Dann jedoch verschieben wir es von Tag zu Tag, bis wir es entweder vergessen haben oder neue Erlebnisse die damaligen überlagern.
K., meine Frau, beschäftigt sich zur Zeit in ihren freien Stunden fast ausschließlich mit der Lektüre sowjetischer Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren (vor allem „Neue Zeit“, „Sputnik“, auch „Sozialismus, Theorie und Praxis“). Wir bekommen hier in Berlin die Lektüre aus dem Sowjetischen Kulturzentrum in der Friedrichstraße. Wir sind dort eingetragene Leser, und K.legt jede Woche treu und brav den weiten Weg zurück. Anders kommt man an den Lesestoff nicht mehr ran. Früher konnte man die Zeitschriften abonnieren oder am Kiosk kaufen, das ist jetzt nicht mehr möglich. Den letzten „Sputnik“, den vom Oktober, haben auch die Alt-Abonnenten nicht bekommen, nicht mal das sowjetische Kulturzentrum hatte ihn. Unter der Hand hörten wir, der Grund bestünde in einem Beitrag, in welchem Stalin und Hitler gleichgesetzt wurden. Ich fragte die Dame, die uns im Kulturzentrum bediente, weshalb wir den Sputnik nicht zu lesen bekämen. Sie sagte, da müssten wir uns bei der Deutschen Post erkundigen. Daraufhin wurde ich ungehalten und fragte sie, ob sie es für richtig hielte, uns so abzuspeisen, wo wir doch deshalb in ihre Institution kämen, weil hier mehr Wahrheiten zu erfahren wären als sonst bei uns im Lande. Sie war deutlich überfordert und verärgert.
In der Zwischenzeit kamen drei junge Leute, die offenbar dieselben Probleme gehabt hatten, von der Leitung des Hauses zurück mit der Antwort, aus Höflichkeit gegenüber unserem Staat sei der Oktobersputnik zurückgehalten worden. Weitere Details waren auch dort nicht preisgegeben worden.
Von jedweder Lockerung bei uns ist nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu spüren.
Meine Frau (K.) hatte in einer Versammlung der Kinderredaktion laut nachgedacht über die derzeitigen Angriffe gegen die Kirche und daraus ableitend über den Umgang mit Andersdenkenden. Mit dabei war der stellvertretende Bereichsleiter, ein Herr M., noch jugendlich und, von der FDJ kommend, sofort in die Leitungsebene gehievt. Der kriegte nach K.s Bemerkung sogar das Schreien. Aber sie hat gegengehalten und fand bei den Kollegen sogar Unterstützung.
Wir hatten S. G. eingeladen, eine Kollegin, die zweimal für Wochen in der SU weilte. Bis in die Nacht hörten wir begierig, was sie an Ermutigendem und Bedenklichem zu berichten wusste. Sie hatte auch fotografiert, u.a. ein paar unheimlich lockere, optimistisch und modern wirkende Jugendliche. Ich schwatzte ihr das Foto ab und klebte es mit Überschrift „Junge Russen“ an die Wand über meinem Schreibtisch.
Gestern in W. kam H.H., der Wirtschaftsjournalist der Dresdener Sächsischen Zeitung, der neben uns ein kleines Grundstück hat, zu uns. Aus einigen wenigen früheren Diskussionen glaube ich herleiten zu können, dass H.H. einer von der alten Sorte ist, ein linientreuer Dogmatiker, kein böser Mensch, aber kaum bereit, einer einmal eingegangenen politischen Liaison, die ihm auch allerhand eingebracht hat, abzuschwören. Er fragte mich gestern ziemlich unvermittelt, wie denn die Fernsehmitarbeiter die derzeitigen Reformdinge in der Sowjetunion bewerteten. Ich antwortete ihm, getreu meiner Auffassung, dass vermutlich an die 80 % meiner Kollegen meinten, ähnliche Reformen seien auch bei uns dringend nötig, dass aber die oberste Leitung auf jeden draufhaut, der das zu erkennen gibt.
H.H. nickte kummervoll, klagte über den unklaren Ausgang, den die Gorbatschowschen Unternehmungen haben könnten, ließ erkennen, dass auch er sich in der Zwischenzeit von vielen Ungereimtheiten in unserem Land überzeugt hätte und dass nunmehr auch er die Notwendigkeit von Reformen nicht mehr glattweg leugnen könnte. Aber, so jammerte der Mann, der kaum älter ist als ich, zum Schluß, man könne doch nicht verlangen, dass so kurz vor seiner Rente er noch den Kopf in die Schlinge lege und sich zum Vorreiter mache.
Interessant von diesem in gewisser Weise Partei-Insider die Äußerung, dass auch bei der Staatssicherheit die Probleme am Kochen wären. Ich hätte das für ausgeschlossen gehalten, aber vor einem Jahr, als ich mich in Äthiopien bei einer Reportage über DDR-Ärzte mit einigen Leuten von der Stasi, zugegebenermaßen bei sehr viel Alkohol, unterhielt, hätte ich theoretisch zu demselben Schluß kommen können.
K. (also meine Frau) verstieg sich sogar so weit zu vermuten, dass der von uns so vergeblich in der Honecker-Umgebung gesuchte DDR-Gorbi vielleicht unter diesen „jungen und freundlichen Männern, die so sehr clever sind“ zu finden sein könnte.
Abschließend noch ein Bonbon aus dem RES (Real Existierenden Sozialismus):
Die seit Jahrzehnten bestehende, sehr beliebte Sendereihe des Kinderfernsehens „Machs mit, machs nach, machs besser“ hat neuerdings immer öfter Schwierigkeiten, für die ca. 50 Teilnehmerkinder die Verpflegungsbeutel zu füllen. Neulich in Görlitz, erzählt K., die an der Sendereihe mitarbeitet, sah sich der zuständige Kaufhallenleiter außerstande, die nötigen Äpfel und Kekse aufzubieten. „Kekse,“ sagte er, „hatten wir schon das ganze Jahr zu wenig, im Augenblick haben wir gar keine.“ Darauf füllte der Aufnahmeleiter privat in Berlin die Beutel und nahm sie mit nach Görlitz.
15.11.88
Gestern früh, wie üblich am Montagmorgen, Redaktionsversammlung. Nach der Politinformation im gehabten Stil (sie wird vom Politbüro über die Leitung des Fernsehens bis zu uns durchgereicht) gibt’s den internen Frust. Es ist verboten, es wurde tatsächlich gesagt „verboten“, in unseren Beiträgen an Altbauten Jugendstil- oder ähnliche beeindruckende Fassaden oder auch nur Fenstereinfassungen zu zeigen.
Der Grund – unser Wohnungsbauprogramm kann im Augenblick für solche Kinkerlitzchen keinen Aufwand betreiben, käme im Vergleich zu schlecht weg, und das darf nicht sein.
Weiter: anhand eines Beitrags über einen sich leicht kritisch äußernden Bürgermeister wird noch einmal dringend darauf hingewiesen, dass Sozialistische Demokratie bei uns auf dem Sender heißt: „Plane mit, arbeite mit, regiere mit,“ und nicht: „Meckere mit“. Wir wollen keine Probleme nennen, sondern die Lösung von Problemen demonstrieren. Daran wird sich nichts ändern. In diesem Zusammenhang erfuhr ich, dass die Sendung „Prisma“ wegen gestorbener, also schon produzierter, aber kurzfristig nicht genehmigter Beiträge verkürzt senden musste und dass ein Beitrag in der Reihe „Wettlauf mit der Zeit“ über ein Forstthema zum wiederholten Male verändert werden musste, weil darin auch Umweltprobleme angesprochen wurden.
Auch außerhalb der Redaktion beutelt uns der RES (Real existierende Sozialismus): Unser Spülkasten ist defekt, wir müssen ihn, wie man sich denken kann, unbedingt reparieren lassen.
Aber Spülkästen, erst recht Tiefspülkästen, sind ein heißes Eisen, es gab sie kaum, jetzt gibt es sie gar nicht mehr, auch keine Ersatzteile. Der für unseren Stadtbezirk zuständige KWV-Klempner hob die Schultern. „Wir können Ihnen einen Druckspüler einbauen,“ sagte er „aber die gehen innerhalb kürzester Zeit kaputt.“ Schließlich: „Die aus dem Westen funktionieren gut, aber lassen Sie sich einen von drüben mitbringen, im Intershop zahlen sie 20 Mark mehr.“ Was tun?
Wir wollten ins Kino gehen, der Film wurde nicht mehr gespielt, wir strichen in Prenzlauer Berg herum und kamen auch zur Gethsemane–Kirche Viele Leute davor, und auf der gegenüberliegenden Seite zwei Männer, eindeutig Stasi. Ich frage sie: „Was ist denn da los, Ihr müsst es doch am besten wissen?“ Der eine antwortet grob „Das weiß ich nicht“, der andere sagt, dass man das dem Schaukasten entnehmen könne. Wir gehen rein in die Kirche und erleben eine Stunde lang eine Veranstaltung, die sich mit der Situation in Rumänien befasst, es geht zuvorderst um Menschenrechtsverletzung unter Ceausescu. Als wir die Kirche verlassen, stehen draußen zu Hauf Stasi und Polizei, sichtbar etwa 15 bis 20 Mann, unsichtbar sicher noch mehr.
Jetzt, während ich schreibe, sitzt Oma vorm Fernseher und sieht Dallas. Was der Osten sendet, weiß sie gar nicht. Auch das ist RES.
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