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Titel: Unser Leben im Real Existierenden Sozialismus

14.1.89
Es ist viel Zeit vergangen seit der letzten Eintragung.. Unser Oppositionsgeist, unser Aufbäumen gegen das tägliche Ungemach, das der RES uns beschert, reicht nicht einmal aus, sich pro Woche eine halbe Stunde an die Schreibmaschine zu setzen. Wir jammern und diskutieren jeden Tag, das ist die am wenigsten aufwendige Form des Aufbegehrens. Aber sobald es das kleinste Opfer kostet, reicht er schon nicht mehr aus, unser Widerspruchsgeist. Es ist am Ende wirklich wahr – wir haben die Regierung, die wir verdienen, und dass wir sie alle paar Jahre wieder mit über 90% wählen, ist  durchaus symptomatisch.  

Ich war ein paar Tage in Österreich, es ging um eine Fernfahrer-Reportage. Ich kam erst 1 Uhr nachts zu Hause an. Wir haben danach bis 3.30 Uhr gequatscht und dabei eine Flasche „Kröver Nacktarsch“ getrunken. Diese Flasche hatte ich  einen Tag vor meiner Ausreise im sog. Transit-Shop in Michendorf gekauft. Kaufen dürfen, denn in diesem Intershop dürfen nur Transit-Reisende (also Leute aus dem Westen, die sog. „Weißen“, wie ich immer sage) und DDR-Bürger einen Tag vor  und einen Tag nach ihrer Reise in den Westen kaufen.  

Am wichtigsten ist sicherlich, die Gefühle festzuhalten, die mich beherrschten, als ich gestern Mittag nach 6 Tagen Österreich durch die dreckigen CSSR- Orte wieder in den Sozialismus hineinfuhr.  

Es war, nach dieser knappen Woche des Genießens eines aufgeräumten, funktionierenden, sauberen, kulturvollen Landes, wie ein Sturz in eine schmutzige Pfütze. Ich hatte es schon mehrfach gedacht und in diesem Augenblick erst recht empfunden – womit haben wir es verdient, so unterentwickelt, so verwahrlost, so arm, so wenig angesehen, so impotent, so schmutzig, so verklemmt und unterdrückt zu sein , wo wir doch nichts anderes sind als die Leute  in Österreich, in der BRD oder in der Schweiz, um nur die deutschsprachigen zu nennen. Was haben wir anderes getan als jene, dass man uns das zu leisten und zu genießen vorenthält?  
Ich war in österreichischen Autobahnraststätten und erinnerte mich an Freienhufen, die unsrige, und da gab es überhaupt keinen Bezug, jeder Vergleich wäre unsinnig. Oder der Zöllner, der sich erregt über die Putzfrau äußerte, weil sie die Toilette nicht richtig gesäubert hätte, aber ich kam gerade von dort und  für meine Begriffe hätte man da von der Erde essen können (denn mein Maßstab sind die im 5.Stock des Journalistengebäudes in unserem Fernsehen, und die sind so fürchterlich dreckig, dass unsere Chefs extra eine Kabine nur für Gäste reservierten, die halbwegs sauber gehalten wurde und deren Schlüssel  in der Hand der Chefsekretärin ist). Und so weiter, und so weiter. Die Geschichte hat uns 17 Millionen in der DDR so richtig in den Arsch gebissen.  

12.2.89    
Ich brauche 15 qm Dielen. Nahezu ein Unding, wenn man es nicht über Jahre kontinuierlich verfolgt, möglichst dem Förster einen Baum abschwatzt und den dann über viele mühselige  und mit Betteln verbundene Stationen ( Fällen, Transport, Schneidemühle, Stapeln, Trocknen, Hobeln usw., für alles mußt Du bitten, kriechen, schmieren) zu Dielen umfunktioniert. Ich habe das Spiel durch vor ein paar Jahren, und ich schwor mir damals – nie wieder, und wenn sie mir den Baum schenken.  

Diesmal aber unverhofftes Glück – ich bin mit dem Kreisarchitekten von Sebnitz befreundet, der kennt die zuständige Dame beim Kreis und überzeugt sie – vermutlich mit der Betonung, dass es für den „Fernsehmann“ ist – für mich etwas vom „Kontingent“ abzuzweigen. Kontingent, das ist staatlich straff geplantes und verteiltes Material, im Unterschied zu freiverkäuflichem, das immer knapper wird und da unten fast gar nicht zu haben ist. Ich bekomme also einen Bezugsschein über einen Kubikmeter Holz, nicht über fertige Dielen, wie ich ahnungsloser Engel angenommen hatte, sondern über rohe, mit Sicherheit nasse Bretter. Aber immerhin. Und außerdem ist ein Kubikmeter fast das Doppelte von dem, was ich brauche. Auf dem Bezugsschein steht die Adresse eines Dresdner Holzhandels, ich teile denen telefonisch meine bezugscheingestützten Wünsche mit und – ernte nur freundlichen Spott. Also vor April gibt es überhaupt kein Holz, auch kein „kontingentiertes“, danach kommt vielleicht ein bisschen, aber keinesfalls die erforderliche Menge, und wenn ich nicht laufend nachfragen, also gewissermaßen vor der Tür stehen kann, dann habe ich kaum eine Chance. Trotz „straff geplanter Verteilung“. Ich Idiot habe tatsächlich meinem Bezugschein vertraut.  

Dabei hätte ich es eigentlich besser wissen müssen. Ich war nämlich kürzlich in Ruhla, in Vorbereitung zu einem Film in der Reihe „Wettlauf mit der Zeit“. In Ruhla soll eine neue Mikroelektronik-Bude hingebaut werden, wir sollen diesen Prozeß verfolgen bis zum 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR. Ein müde und gehetzt wirkender Direktor für Elektronik berichtete, dass die Endfertigungstermine vorgezogen wurden, von Ende 1990 auf April 1990, den Termin des nächsten Parteitages. Die Hallen stehen schon, aber sie können nicht weiter, weil die Zulieferbetriebe nicht mitspielen. Als Beispiel nennt er die lufttechnischen Anlagen, die als nächstes eingebaut werden müssten. Nun wörtlich: „ Sie sind ohnehin schon zu 200 % bilanziert, und nun wollen wir sie auch noch ein Dreivierteljahr früher haben. Das geht nur, wenn von ganz oben einschneidende Beschlüsse gefasst werden.“  

Im Klartext heißt das, dass die Anlagen schon planmäßig doppelt (zu 2oo%) verteilt werden – im Vertrauen darauf, dass die Hälfte er potentiellen Bezieher ohnehin den Plan nicht erfüllen und die Anlagen deshalb nicht zum vorgesehenen Termin benötigen werden. Das soll gängige Praxis sein.  

Noch ein Detail vom Direktor für Mikroelektronik: Die Technik unserer Bauwirtschaft soll moralisch so verschlissen sein,  seit Jahrzehnte keine neuen Maschinen, dass sie kaum eine Chance hat, den Anforderungen unserer derzeitigen Investitionspolitik nachzukommen. Bei Mittag (Politbüro) soll eine Krisensitzung die andere jagen.  

Während ich diese Zeilen schreibe, kriege ich es schon wieder mit der Angst zu tun. Wenn diese Aufzeichnungen eines Tages einmal  auf einem Schreibtisch in einem SSD-Zimmer liegen, und ganz auszuschließen ist das ja bei uns nie, dann sollte man mir nicht auch noch Geheimnisverrat anlasten können ( da haben wir es wieder, die Angst ist allgegenwärtig). Aber das ist natürlich Quatsch, in Ruhla pfeifen diese Probleme die Spatzen von den Dächern.   

Um es noch einmal zu sagen – anlässlich dieser Ruhla-Erkenntnisse war es wirklich verwunderlich, dass ich auf meinen Holz-Kontingentschein vertraute.  

Ich werde hier Ausschnitte aus dem Diskussionsbeitrag zitieren, den ich Ende Dezember auf der großen Wahlversammlung des gesamten DDR-Fernsehens gehalten habe. Ich war nachträglich als Gastdelegierter eingeladen worden, weil sie gemerkt hatten, dass sie zu wenig Macher dabei hatten. Der oberste Zensor unseres Landes, Politbüro-Mitglied Joachim Herrmann, war auch da. Es war für mich interessant, einen der Machthaber einmal aus der Nähe studieren zu können. Überraschenderweise, aber vielleicht doch nicht so unerklärlich, war mein locker vorgetragener Beitrag eindeutig der Höhepunkt der Veranstaltung. Natürlich traten auch die Scharfmacher, allen voran Schnitzler, wieder auf den Plan, mit denselben Floskeln wie immer, und so war der einzige Lichtblick tatsächlich mein bisschen Realitätsbezug, meine ganz vorsichtige und versteckte Kritik,  für Uneingeweihte vermutlich kaum zu erkennen in der devoten Verpackung. Ich bekam stürmischen Beifall, und tagelang sprachen mich die Leute danach noch im Fernsehen an. Beifall und Wohlwollen gabs aber auch von den Machthabern, sie beklatschten den anderen Teil der Rede.    

Auszüge aus meiner etwa 20-minütigen Rede auf der Kreisdelegiertenkonferenz Fernsehen Mitte Dezember 89:    

Es geht uns ja in unseren Filmen fast nie um irgendwelche technischen oder sonstigen Vorgänge schlechthin, sondern immer auch um die Leute, die diese Vorgänge bewirken. Wenn es mir aber darum geht, dann muß ich mir Zeit nehmen für diese Arbeiter, Bürgermeister, Piloten, Polizisten usw.  
Ich muß mit ihnen reden, nicht nur über Fachfragen, sondern über alles Mögliche, über Gott und die Welt, über Politik, Frauen, Kinder , Fußball. Wenn ich will, dass sie sich offenbaren, muß auch ich mich öffnen. Es darf keine Distanz zwischen uns geben und schon gar kein Gefälle. Sie müssen sich freuen, wenn sie mich sehen, mich als Kumpel begrüßen, dann habe ich eine kleine Chance, relativ unverkrampfte Auskunft über das zu erhalten, was sie bewegt.   

Denn nur diese natürliche Form der Äußerung akzeptiert der Zuschauer. Auch noch so gut gemeinte Aussagen gehen nach hinten los, wenn sie aufgesagt werden oder auch nur so wirken........  
Absolut wichtig bei der Darstellung unseres Lebens auf dem Sender ist die weitgehende Realitätsnähe. Der Zuschauer misst uns immer, das geht ganz automatisch, an seinen eigenen Erfahrungen. Und wenn zwischen dem, was er im Fernsehen sieht, und dem, was er erlebt hat, eine Schere sich öffnet, reagiert er verschnupft ( an dieser Stelle habe ich, vom Manuskript abweichend, von dem Leipziger Beispiel – den sich verweigernden Arbeitern – berichtet).  

Ich  habe die Erfahrung gemacht, dass der Verzicht auf Beschönigung und Bemäntelung, dass die enge Bindung an das, was wirklich geschieht, die Beiträge auch in ihrer politischen Wirkung nicht beeinträchtig, eher ist das Gegenteil der Fall.    

Wie gesagt, stürmischer Beifall. Für so wenig ist man schon dankbar.  
    
13.2.89    
Vielleicht ist es doch besser, ich skizziere erst einmal zusammenfassend unser „Thema Nr.1“. Ich habe nämlich festgestellt, als ich eben alles bisher Geschriebene noch einmal überflog, dass unsere Haltung zum „Thema Gorbatschow“ in dem Zeitraum von einem knappen halben Jahr (in welchem diese Aufzeichnungen hier entstanden) doch schon eine gewisse Wandlung erfahren hat. Die Auffassungen vom September vergangenen Jahres sind heute kaum noch unverfärbt reproduzierbar. In der Zwischenzeit ist zu viel passiert. Ich will es trotzdem versuchen.  

Nach einer gewissen Identifizierung mit dem RES Mitte der 70er Jahre, in deren Folge ich Mitglied der Partei geworden war, war ich Anfang der 80er wieder da, wo ich mich 10 Jahre vorher befunden hatte – in einer dumpfen Hoffnungslosigkeit, in einer permanenten Enttäuschung und Verbitterung. Gefühls- und verstandesmäßig gegen das System  eingestellt, aber irgendwie angepasst an diesen Zustand, trieb ich gemeinsam mit den meisten meiner Bekannten und Kollegen dahin.   

Dann kam Gorbatschow. Spätestens seit 86 erschien er mir, uns, wie der neue Messias.   

Da waren zunächst die erregenden Details: die Wahrheit sagen, Inventur machen, die Heuchler rausschmeißen, Demokratie einführen in alle möglichen Bereiche, Reformen zulassen, den unersetzbaren Wert der Privat-Initiative anerkennen, usw., usw.  

Oder international: die Abrüstung in Gang bringen, die Besetzung Afghanistans in Frage stellen, populärer werden als der amerikanische Präsident, usw.,usw.  
Und als Summe des Ganzen ergab sich für mich, für uns, die wundersame, kaum noch für möglich gehaltene Vision, dass der Sozialismus, diese gerechte und deshalb so anziehende Idee, doch noch funktionieren könne, dass es doch noch eine lebenswerte Zukunft gäbe ohne Kapitalismus, dass unser Traum, dem wir eigentlich nie so richtig getraut hatten, doch noch Wirklichkeit werden könnte.  

Was galt es schon, dass die alten Gipsköpfe in unserem Lande sich krampfhaft bedeckt hielten, nichts wissen wollten von Reformen, von Inventur und Demokratie und vor allem von der Wahrheit. Es war klar, wenn Gorbatschow sich in der SU durchsetzte, würde sich das Neue auch über unser Land ausbreiten, denn ohne die SU, und schon gar nicht ohne eine durch Reformen funktionsfähig gemachte SU, geht bei uns auf Dauer gar nichts.  

Es verging kein Tag, an dem ich nicht wenigstens halblaut, keine Woche, in der ich nicht lauthals für Gorbatschow Propaganda machte. Vor Bekannten und Fremden, im kleinen und im großen Kreis, privat und dienstlich – allerdings nur bis zum Bannkreis der „Machthaber“, d.h. bis dort, wo ich ihn ziehe, also etwa beim Bereichsleiter. Bei denen heuchelte ich zwar nicht, hielt aber auch nicht meine üblichen Reden. Gewinn und Verlust hätten in einem zu ungleichen Verhältnis gestanden.  

Also Gorbi über alles (K., meine Frau, lief  monatelang mit einem Sticker an der Jacke herum). Aber durchsetzen musste er sich, das war klar. Und da liegt im Augenblick, ein knappes halbes Jahr nach den letzten euphorischen Ausbrüchen, der Hase im Pfeffer  

Alle Auskünfte sind entmutigend. Da sind die bösen Ereignisse – die Nationalitätenzwietracht, das fürchterliche Erdbeben, vorher war Tschernobyl. Und wirtschaftlich läufts zur Zeit offenbar noch schlechter als vorher. Der von der Betonschicht befreite Garten lässt offenbar zuerst das Unkraut wachsen, statt der Funktionärskaste bereichern sich jetzt Spekulanten o.ä., die vom zentralen Anleitungsdruck befreite Wirtschaft wuchert, ohne die erhofften Früchte zu tragen, und die Gegner hegen das Unkraut.  

Um das klarzustellen – unserer Verehrung für Gorbi tut das keinen Abbruch, eher kommt nun auch noch Mitleid hinzu, aber die große Hoffnung, die wir an ihn, an seinen Wagemut, an seine Kraft geknüpft hatten, die Hoffnung auf einen menschenwürdigen Sozialismus, die wird zur Zeit kleiner und kleiner. Und parallel dazu wächst automatisch, wogegen ich mich eigentlich immer gewehrt hatte, die Versuchung, an den Kapitalismus als die in unserer  Zeit einzig mögliche, weil funktionsfähige Gesellschaftsordnung zu glauben. Dieser Umdenkungs-, dieser Umfühlungsprozeß kotzt mich an. Aber wenn Gorbi scheitert, kenne ich keine Alternative.  

29.3.89
Heute morgen in einem der wenigen Holzläden in Berlin. Überraschend hat man dort Leisten, 4 x 4,5 cm im Querschnitt, Länge 4 m. Da ich keine Chance sehe, für meine – noch immer nicht in Sicht befindlichen – Dielen als Unterbau richtige Kanthölzer zu bekommen, bin ich froh, wenigstens diese Leisten zu ergattern. Aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich eigentlich als Ausschuß, ausgesuchtes Randmaterial, zu mehr als 90% mit Rinderesten behaftet. Für meinen Zweck ist das gar nicht so schlimm, also suchte ich mir trotzdem 16 Stück heraus – alle anderen in der Schlange taten das auch, was sollten sie auch machen, bessere gibt es nicht und wird es vielleicht nie geben. Beim Bezahlen frage ich, einer Eingebung folgend, auf welcher Basis der Preis von ca. 6,60 Mark pro Leiste festgelegt sei., welche Qualität das sei.  

Na, erste Wahl natürlich, sagt die Verkäuferin. Darauf dröhne ich so laut, dass alle Leute den Kopf heben, dass das niemals erste Wahl sei, dass das Betrug und Erpressung sei, weil man wisse, dass wir das minderwertige Zeug nehmen müssten. Und dass man nicht glauben solle, man könne uns gar so sehr für dumm verkaufen. Einige Leute murren beifällig, die anderen gucken wieder stumpf vor sich hin, vermutlich haben sie Angst, der Verkauf könnte wegen der Preisdiskussion eingestellt werden. Immerhin, ich bekomme die Leisten zu 4,20 Mark das Stück,  aber im Weggehen glaube ich mitbekommen zu haben, dass die nächsten wieder den Preis für die erste Qualität bezahlen müssen.  

Eine halbe stunde später beim Maler – Marolith, so ähnlich heißt das, eine Feuchtraumfarbe, hatte er schon ewig nicht, ebensowenig Rauhfasertapete, selbst Latex-Weiß fehlt schon eine ganze Woche. Im nächsten Laden – geschlossen wegen Warenannahme. Es ist 11.30 Uhr, geöffnet wird erst 15 Uhr wieder. Die Chancen, dass die ankommende Ware Marolith enthält, sind mir zu gering. Ich drehe ab.  

Drei Häuser weiter ein Fischladen mit überraschend gutem Angebot. Aber: Eingelegten Hering kann ich Ihnen nicht verkaufen, weil Sie kein Glas dabeihaben. Früher hatten wir noch Plastebecher, dann wenigstens Papp-Becher oder Papp-Teller, jetzt haben wir nur noch einfach diese Pappe hier. Als ich darauf, bei allerdings leerem Laden, noch ein wenig wetterte über die Verhältnisse bei uns, wo aber auch gar nichts besser würde, da guckte die Verkäuferin verängstigt und wechselte das Thema. Und ich musste tatsächlich ohne den Hering, der mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ, abziehen.   

Um nach der ganzen Meckerei auch einmal etwas Erfreuliches zu vermelden: vor 14 Tagen habe ich eine ziemlich hochdotierte Auszeichnung, den „Heinrich-Greif-Preis“, für meine Reportagen erhalten. Nun grübele ich, ob das meine Aussichten auf Telefon so verbessert hat, dass ein neuer Anlauf gerechtfertigt wäre.  

11.5.89    
Am Wochenende haben wir gewählt. Das Ergebnis war im Prinzip das gleiche wie immer, nur unwesentlich darunter, knapp 99 % Ja-Stimmen bei zwei bis drei Prozent Enthaltungen. Nun munkeln viele, unüblich viele, dass bei der Auszählung bzw. bei den veröffentlichten Zahlen getrickst wurde. Die Diskussionen hinter der vorgehaltenen Hand und nur dann, wenn kein „Hundertprozentiger“ (welch bezeichnender Doppelsinn in diesem Zusammenhang) dabei ist, laufen darauf hinaus, dass jeder unseren Machthabern im Prinzip eine solche Manipulation zutraut,  dass aber nur etwa die Hälfte auch glaubt, dass sie das Risiko einer Entlarvung und der darauffolgenden Bloßstellung auch eingehen. Ich selbst, wenn ich ganz tief in mich hineinhorche, hoffe, dass sie so verdorben, so verbrecherisch, so vergleichbar mit Diktatoren einer mittelamerikanischen Bananenrepublik nun doch nicht sind. Daß sie am Ende vielleicht doch noch irgendwelche moralischen Hemmschwellen haben.  

Aber machen wir es konkret. Es könnte ja sein – himmlische Vorstellung – dass dies die letzten Wahlen unter so entwürdigenden Vorzeichen waren. Und dann ist dies ein rechtes Zeitzeugnis:  
K., meine Frau also, die knapp zwei Jahrzehnte lang wie alle anderen immer brav die Zettel reingesteckt hatte, meinte, die Zeit sei reif. Sie hat durch das Studium Gorbatschows auf der einen und durch ein paar Reiseverweigerungen (Westberlin, Mongolei) auf der anderen Seite so die Schnauze voll und fühlt sich zum dritten durch allerlei Aktionen von Oppositionsgruppen so bestärkt, dass sie zum ersten Mal erwog, mit „Nein“ zu stimmen. Der tiefere Grund dieses für einen DDR-Bürger erheblichen Entschlusses liegt meines Erachtens darin, dass K. keine Konsequenzen, keine Repressalien mehr fürchtet. Wenn man ihr das Leben hier zur Hölle machte, würde sie in den Westen gehen (d.h. einen Ausreiseantrag stellen). Ist ein Bürger unseres Landes erst einmal so weit getrieben, dass er diese Alternative in Erwägung zieht, funktioniert das System der Bedrohung nicht mehr (ganz zu Ende gedacht hat sie die Angelegenheit aber nicht,  denn eine Trennung von mir will sie nicht, ich aber bin nach wie vor fest entschlossen, hier zu bleiben. Wenn die Partei wirklich ihre Macht an ihr erprobte, kämen wir in eine fürchterliche Zwangssituation).  

Ich selbst mache das Wahl-Theater nun schon seit mehr als 3o Jahren mit und habe mich dabei noch nie verweigert. Ich meinte, wie die meisten, bei 99 % Ja-Stimmen sei sowieso alles umsonst, ein Ausscheren hätte lediglich ein sinnloses Märtyrertum zur Folge. Der Gang zur Wahlurne war bei mir – wie vermutlich bei der Mehrheit der Leute – Ausdruck einer inzwischen fast empfindungslosen Resignation. Dabei habe ich aber, wie vermutlich auch die meisten, immer gehofft, dass sich vielleicht doch genug Mutige oder zum Märtyrertum Geeignete fänden, um den Machthabern einen Denkzettel zu verpassen.    

Und ich habe mich auch diesmal nicht verweigert. Mich nachweisbar und eindeutig gegen die Machthaber festzulegen, dazu kann ich mich (noch) nicht durchringen. Ich will hier bleiben und  ich will hier als Journalist arbeiten, und ich rede mir ein, mit meiner Arbeit und meinem Auftreten als relativ populärer Journalist  könne ich wenigstens kleine Zeichen setzen, was ich nicht mehr könnte, würde ich mit einer Gegenstimme meinen Rausschmiß provozieren.    

K. wählte in Berlin. Sie hatte sich erkundigt, wie eine Nein-Stimme auszusehen habe, ging in die Kabine und strich alle Namen durch. Übrigens standen die Leute an der Kabine an, obwohl diese erst nach einem Gang quer durch den Raum zu erreichen war, das hatte es noch nie gegeben.  

Ich musste in W. wählen, weil ich dort seit einiger Zeit  Hauptwohnsitz habe. Unmittelbar vor der Wahl gab es noch eine Einwohnerversammlung, der Bürgermeister und ein weiterer Kandidat stellten sich zur Diskussion.  

Der Puppenspieler aus unserem Dorf, er hat Frau und drei Kinder, erklärte, seine privaten Verhältnisse seien so katastrophal, dass er keinen Anlaß sehe, die Kandidaten zu wählen. Zum Beweis führte er an, er hätte im Sommer kein oder nur schmutziges Wasser, im Konsum  gäbe es ein katastrophales Angebot, es sei nicht möglich, eine Zeitung zu abonnieren, die Straße mit ihren Riesenlöchern ramponiere sein Auto, mit dem er aber mehr als ein Jahrzehnt fahren müsse, für das Puppenspiel, das in H. eine für ganz Deutschland beispielhafte Tradition habe, werde kaum etwas getan – also mit ihm nicht.   

Man fiel nicht direkt über ihn her, aber man zerredete seine einzelnen Argumente und selbst die Dorfbewohner sagten etwas von „..man kann auf dem Land keine Stadtbedingungen erwarten...“  

Ich will bei dem vielen Ärger, den ich in Berlin habe, mir das da unten als relativ problemfreie Nische erhalten. Trotzdem wollte ich den Puppenspieler nicht allein im Regen stehen lassen. Ich sagte also, dass nach meiner Meinung der Puppenspieler mit jeder seiner Sorgen im Recht sei, es ei ein Unding, dass ...... und  ich zählte die Sachen noch einmal auf. Die Frage sei nur, ob es sinnvoll und gerecht wäre, das alles dem Bürgermeister anzulasten.  

„Der Fisch,“ sagte ich wörtlich, „fängt am Kopf an zu stinken. Solange wir in diesem Land noch kein Rezept gefunden haben für ein funktionierendes Wirtschaftssystem, solange unserer Arbeitsproduktivität so niedrig ist, dass Material, Kapazitäten und Gelder ewig Mangelware bleiben, und zudem die Kommunen nur nach dem Restprinzip bedacht werden, solange kann vermutlich auch die beste Gemeindevertretung nur Flickwerk abliefern.“  

Der Puppenspieler verreiste zum Wahltag und wählte nicht. In W. gab es erst mal kein Wahllokal (für 20 Wähler lohne sich das nicht), sondern eine Dreiermannschaft mit der Urne kam zu jedem ins Haus. Ich bat die Leute, draußen zu warten, ging mit  den Zetteln ins Haus (also gewissermaßen in meine private Kabine), strich den Namen einer mir wenig sympathischen Frau durch und steckte draußen die Zettel in die Urne.  
Die drei blieben noch einen Augenblick, eröffneten mir im Vertrauen, dass schon heute, am Wahltag, klar sei, dass die Trinkwasser-Versprechungen von der Versammlung vor drei Tagen erneut nicht eingehalten werden könnten, ich fing darauf an, für Perestroika zu werben, doch da meinte der Leiter des Trios mit sauersüßem Gesicht, über den „..Fisch, der am Kopf anfängt zu stinken..“ wolle er nicht mehr reden.  

Mag sein, dass ich typisch bin für einen DDR-Bürger im Zeichen der Wahl. Noch zutreffender aber, glaube ich, ist mein Freund H.: „Ich hätte ja auch gern mit Nein gestimmt, aber wir wollen doch Ende Mai wieder nach dem Westen fahren, und ich könnte wetten, wir würden eine Ablehnung bekommen.“  

20.5.89    
Ich will noch etwas loswerden, das mich tüchtig erschüttert hat, nun aber schon so lange zurückliegt, dass ich Gefahr laufe, es völlig zuzubuddeln im Gedächtnis.  
Wir produzieren u.a. Filme für die Reihe „Wettlauf mit der Zeit“. Diese Sendungen haben die Aufgabe, unsere Wirtschaftspolitik und vor allem den Stand unserer Technologie im besten Lichte zu zeigen.  
Die Themen werden direkt vom ZK der SED vorgegeben.  

Sind die Filme fertig, werden sie noch lange nicht gesendet, sondern nacheinander abgenommen, d.h. überprüft und nötigenfalls zensiert, von:  
- unserem Redaktionsleiter  
- unserem Bereichsleiter  
- dem Parteisekretär des Bereiches  
- dem beim ZK für die Reihe zuständigen Genossen  
- dem Abteilungsleiter Wirtschaft im ZK  
- dem Leiter der jeweiligen Fachabteilung beim ZK  
- dem Politbüro des ZK in Person des für die Wirtschaft zuständigen Gen.Mittag !!!    

Als ich mir bei der Abnahme meines Beitrags über die Bautzener Schneidemaschinen ein Herz fasste und den Wirtschaftschef des ZK fragte, weshalb diese Tippeltappeltour denn notwendig sei, wo doch die Themen von der Partei vorgegeben würden und jeder einzelne der Abnehmenden nachweislich ein guter Genosse und Fachmann sei, als ich das also fragte, antwortete der Mann mir mit unverhohlenem Stolz: „Auf diese Weise haben wir es geschafft, dass bei 60 bis 70 „Wettläufen“ der Genosse Mittag noch nicht einmal etwas auszusetzen hatte. Das ist uns diesen Aufwand wert!“ Mir wurde schwindlig angesichts dieses Defizits an Souveränität bei einem unserer höchsten Wirtschaftsmanager. Der Kaiser hat gelächelt, also ist alles in Ordnung.  

Ebenfall schon einige Zeit zurück unsere letzte Parteiversammlung. Eine Aufrechnung der Anwesenheitsliste der letzten Monate wird vorgenommen, unsere Parteigruppensekretärin J.K., Kamerafrau, talentiert, intelligent und unheimlich ehrgeizig, heuchelt Empörung, die u.a. mich trifft. Und dann weiter gegen mich:  
- Nimmst Du Gäste zum Pfingsttreffen der FDJ in Berlin auf? Warum nicht?  
- Hast Du Dich als Wahlhelfer bei Deinem zuständigen Wahlbezirk gemeldet? Warum nicht?  
- Hast Du die Schule der sozialistischen Arbeit regelmäßig organisiert? Warum nicht?  

Sie zeigt sich schockiert, ich antworte kühl, dass ich es lobenswert fände, sie so schockiert zu sehen, da fühlt sie sich durchschaut in ihrer Selbstdarstellung, sie fällt in sich zusammen und guckt bösartig vor sich hin.  

Nach der Versammlung sage ich ihr, dass ich meine Arbeit nachweislich ordentlich mache und dass ich meist mehr tue, als ich muß. Und bei fast allen anderen ist es auch so. Nur in der Parteiarbeit sind wir schlampig und drücken uns. Das kann eigentlich nicht an uns liegen, das muß an der Partei liegen.   

8.6.89     
Ich habe mich, weil ich Beweise finden wollte für den Wahlbetrug, mit dem Arzt aus H. unterhalten, der zum Wahlvorstand des Orts zählte und der bei der Auszählung dabeigeblieben war. Er hat eine Reihe von Unzulänglichkeiten festgestellt, u.a. den tragischen Zustand, dass selbst der Leiter des Wahlvorstandes nicht wusste, was denn nun eigentlich eine Ja-Stimme und eine Nein-Stimme  unterscheide (es kursierten die tollsten Gerüchte, was alles noch als Ja-Stimme gewertet werde, beispielsweise reiche es nicht einmal, jeden Namen zu streichen, wenn dabei nicht die Schrift genau in der Mitte gestrichen und auch der letzte Buchstabe erwischt wurde), alles in allem aber nährte auch der Besuch bei dem Doktor nur die Vermutung, Beweise erbrachte er nicht. Im übrigen schloß der Doktor nicht aus, dass in seinem Zimmer eine Wanze versteckt sein könnte, und wir bescheinigten uns gegenseitig, dass natürlich jeder von uns auch ein Spitzel der Stasi sein könnte.   

Was mein Freund E.P. aus Potsdam zum Thema Wahlen beitrug, wäre schon eher ein Beweis für Manipulationen. In seinem datenverarbeitenden Betrieb wurden die Wählerlisten geführt, und diese Aufstellung musste mehrfach verändert werden, weil die Anzahl der Namen aus den unterschiedlichsten Gründen, u.a. weil viele die Wahlbenachrichtigungskarten nicht annahmen, verringert wurde. Erst diese geschrumpften Listen wurden dann als die 100-%-Bezugsbasis gewertet.  

Wir dann schließlich noch psychologisiert, weshalb trotz diesmal wirklich massiver Vorbehalte gegen das Ergebnis niemand auf die Straße geht und protestiert.  

E.P. meinte ironisch: „Du hast einen Job zu verlieren, ich hab einen Job zu verlieren, und so geht es allen.“  

Ich habe dann noch hinzuüberlegt, dass die Wahlen bei uns schon immer eine bedeutungslose Formsache waren, unwichtig, weil bar jeder Auswirkung. Dass diese Farce nun noch weiter manipuliert wurde, traf demzufolge keinen besonders empfindlichen Nerv. Dennoch sind die Wahlen durch den – wahrscheinlichen – Betrug  erstmals mehr in das Blickfeld des öffentlichen Interesses gerückt, und bei den nächsten Wahlen könnte das zu  völlig neuen Verhältnissen führen.   

Übrigens hatten wir in der Redaktion auch eine Parteiversammlung zum Thema Wahlen. Thema war die Kommentierung der Wahlen in den Westmedien. Erstaunlicherweise verwahrte sich niemand gegen diese geharnischten Unterstellungen, im Gegenteil steuerte fast jeder noch ein paar eigene Unsicherheiten bei, selbst die sonst so linientreuen Genossen von der Militärsendung „Radar“ hatten Absonderliches in ihren Wahllokalen bemerkt. Es wurde eine ausgesprochen „dissidentische“ Versammlung, bis schließlich gegen Ende der Uralt-Kommunist und Stalinist S. empört aufbegehrte, wem eine solche Versammlung wohl etwas gegeben haben könnte.  

21.6.89    
In China haben sie heute den ersten Studenten öffentlich hingerichtet. Die Brutalität, mit der dort die Demokratisierungsbestrebungen unterdrückt werden, findet den unverhohlenen Beifall unserer Machthaber. Man begrüßt das Geschehen in China u.a. deshalb so demonstrativ, weil man Angst verbreiten will unter unserer potentiellen Opposition. Und das erreicht man damit auch. Dieses öffentliche Aufbegehren gegen die Zustände bei uns, das auch wir schon durchaus in unsere Überlegungen einbezogen, bekommt nun  einen verdammt ernsthaften, gefährlichen Aspekt. Man wird sich wohl mit dem Gedanken vertraute machen müssen, dass dann nicht nur, wie hier neulich festgestellt, „der Job“ gefährdet ist, sondern Freiheit und gesamte Existenz und im Extremfall sogar das Leben. Dieses Gefühl wollen sie vermitteln, und das klappt auch, weil, wer diesem Mord Beifall spendet, vor eigenem Morden sicherlich nicht zurückschreckt.  

Momper hat sich mit Honecker getroffen und Reiseerleichterungen für Westberliner vereinbart. Die können nun Ausflüge nach Potsdam oder Frankfurt/Oder usw. machen. Das interessiert uns überhaupt nicht, eher kotzt es uns an, solange für uns dabei nichts abfällt. Ich kann ja wenigstens dienstlich ab und zu mal rüberfahren, aber meine Frau kann gar nicht, niemals, sie weiß überhaupt nicht, wie es zugeht da drüben.  
Heute morgen habe ich bei der Genossenschaft der Berliner Klempner 6 Spülkästen für die  Schule (!) von H. erbettelt. Dort ist seit Jahren eine Toilette nach der anderen geschlossen worden, weil die Spülkästen kaputt gingen. Und noch ein großer Erfolg an diesem Morgen – Rauhfasertapete! Im großen Warenhaus am Ostbahnhof hat man das erste Mal seit Monaten welche bekommen, und ich kam gerade dazu. Natürlich habe ich gleich auf Vorrat gekauft, 20 Rollen, obwohl ich vermutlich in absehbarer Zeit kaum mehr als 5 brauchen werde. Aber zum einen kann ich dann diesem oder jenem helfen, zum anderen habe ich damit ein Tauschobjekt für andere Mangelware. Diese Ramschkäufe bei seltenen Waren sind völlig normal und verringern die Versorgungsdichte natürlich noch weiter.  

Mein Film über die Fernfahrer hat für Publizistik-Verhältnisse eine enorme Zuschauerzahl gefunden: 20%! Die höchste Zahl seit Jahren, sagt man. So klein sind unsere Maßstäbe. Doch wir werden uns an noch kleinere gewöhnen müssen, denn die einzigen, die uns mangels anderer Möglichkeiten noch regelmäßig sahen, die Dresdner im sog. „Tal der Ahnungslosen“, werden immer mehr verkabelt oder verspiegelt und fallen damit auch noch weg.  

5.10.89    
Zehntausende flüchten seit Wochen über Ungarn, Prag und Warschau, dramatische Bilder flimmern über die Westkanäle, die das alles natürlich genüsslich anheizen.  

Man denkt jedes Mal, das war der Höhepunkt, jetzt geht der Spuk zu Ende, und dann folgt im Gegenteil noch eine Steigerung, nach der Öffnung der Grenze in Budapest die Besetzungen der Botschaften in Prag und Warschau, als die Tausende entlassen worden waren („ausgewiesen“ mit DDR-Zügen), kamen neue Tausende, sie kletterten über Zäune, durchbrachen Polizeiketten, sprangen auf Züge, belagerten Bahnhöfe, schwammen durch Flüsse, kampierten mit Kindern in eiskalten Nächten im Freien, eine Hysterie ohne Zweifel, aber auf einem Nährboden, der bei uns im Lande über Jahrzehnte entstand, und es sind vorwiegend junge Leute.  

Ich kann es nicht mehr hören, ich schalte die Nachrichten nur K.s wegen an, die kein Wort versäumen will, ich fühle mich ratlos, in die Ende getrieben, wehrlos, ohnmächtig, aber doch in keiner Weise unsicher – ich bleibe hier.  

Interessanter, hoffnungsträchtiger, belebender, wenn auch zunächst nur minimal, sind die ersten Zeichen einer sich formierenden Opposition. Zwar ist das sog. “Neue Forum“ verboten worden, aber der Druck ist dadurch natürlich nicht genommen. Montags demonstrieren jetzt in Leipzig Tausende, und es werden jede Woche mehr. Das versetzt mich in eine Art freudige, erwartungsvolle Erregung. Noch werde ich mich nicht anschließen, aber wenn diese Bewegung irgendwie Aussicht auf wirklichen Erfolg hat, wenn sie auch erkennen lässt, dass sie nicht – wie wir neulich in einer Kirche erlebten – eine Ansammlung unter sich zerstrittener Außenseiter ist, sondern eine Bewegung, die wirklich eine Wende zum Guten in diesem Land bringen könnte - was immer das ist - , dann würde ich mich schon anschließen.  

Ich hatte gestern mit einem unserer Stellvertretenden Bereichsleiter zu tun, F.H., er ist für Publizistik zuständig, ein relativ mächtiger Mann, etwa 50 Jahre alt. Wir hatten Dienstliches zu bekaspern, und ohne Absicht, zumindest von meiner Seite, sind wir auf das Thema geraten, an dem heute kaum zwei Leute, die miteinander reden, vorbeikommen.   

Hier eine Auswahl seiner Argumente und Erwiderungen auf meine Anwürfe:  
- „Reformen, Reformen – was denn für welche, schlag doch mal was vor, das nicht in das  mündet, was zur Zeit in Ungarn und Polen passiert“  
- „Die paar Zehntausend, die da jetzt das Land verlassen, das sind Feinde des Sozialismus, auf die können wir verzichten. Das sind etwa genau so viel und vermutlich dieselben, die bei den Kommunalwahlen gegen uns gestimmt haben. Da können wir froh sein, dass die raus sind.“  
- „Die wählen drüben zu 65 % CDU, hat man festgestellt, das sagt alles. Die passen nicht in unser Land. Das sind auch keine guten Arbeiter. Die werden sich drüben sowieso umgucken, da werden sie nicht mehr so durchgeschleppt wie bei uns.“  
- „Was heißt hier Lebensstandard, unsere Leute müssen erst einmal richtig arbeiten, damit sie das Geld, das sie bekommen, auch wirklich verdienen, dann können sie Forderungen stellen. Die kriegen doch alle viel zu viel Geld für das, was sie leisten“  
- „Ich bin vielleicht kein Durchschnittsbürger, aber in gewisser Weise doch. Und mir geht es gut. Ich verdiene gut, ich kann mir alles leisten, was ich möchte, ich habe eine Wohnung – mir muß es nicht besser gehen. Und so wie mir geht es vielen.“  
- „Du kannst doch nicht sagen, dass nichts läuft. Wir haben sehr vieles, wo es wunderbar läuft. Natürlich gibt es noch dieses oder jenes zu verbessern. Da hast Du nun genau solche Sachen angeführt, bei denen es im Kapitalismus gut läuft, Versorgung, Dienstleistungen, Autos, Straßen, Telefon, Gaststätten, die Währung. Aber man kann doch nicht sagen, dass bei uns gar nichts läuft, natürlich gibt es noch dieses oder jenes zu verbessern.“  
- „Wieso kannst Du bei uns nicht als kritisch-konstruktiver Journalist arbeiten? Geh doch zu „Prisma“. Daß da gelegentlich ein paar Themen abstürzen, ist doch normal.“  
- „Weshalb müssen wir uns in unseren Ansprüchen unbedingt immer an denen messen, die vor uns stehen. Es gibt über 100 Länder, die hinter uns stehen, die weitaus größere Probleme haben. Das sollten sich unsere Leute mal vor Augen führen.“  
- „ Hör Dir doch an, was die Ausgewiesenen im Westen für Gründe anführen für ihr Verhalten. Das ist doch lächerlich.“  
- „Na klar, wir haben sie ihr ganzes Leben lang sozialistisch beeinflussen können. Aber wir haben es nicht geschafft, weil sie sich nicht beeinflussen lassen wollten.“    

Und so ging es weiter, 40 Minuten lang, bis ich wegmusste. Ein paar abfällige Bemerkungen zu Gorbatschow, fällt mir jetzt ein, waren auch noch dabei.  

10.10.89    
Es sind interessante Zeiten. Früher wusste man schon immer, was morgen oder übermorgen oder nächste Woche ist, alles war denkbar, nur keine Veränderung, wie es eben hinter Mauern so ist. Jetzt ist Bewegung erkennbar, der Beton hat Risse bekommen, keiner kennt das Ergebnis, es ist nicht auszuschließen, dass wir uns später nach der Friedhofsruhe hinter den Mauern zurücksehnen, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Und selbst wenn – allein diese Bewegung noch erlebt zu haben, Leben erlebt zu haben und nicht nur resigniertes Dahinleben, auch die unendliche Genugtuung, die anmaßenden, selbstherrlichen, impotenten Machthaber in Aufregung versetzt zu sehen, das alles macht diese Tage zu den besten seit Jahrzehnten.  

Kleiner Rückblick: In Dresden müssen sich haarsträubende Dinge abgespielt haben, vorige Woche, als die Züge von Prag durchfuhren. Die Leute belagerten die Bahnhöfe, die Gleise, die Polizei ging brutal gegen sie vor, Tränengas, Wasserwerfer, Gummiknüppel, Hunde, die Anzahl der Verletzten (auf beiden Seiten, die vorwiegend jungen Leute hatten mit Pflastersteinen geworfen, selbst Molotowcocktails sollen geflogen sein, ein Polizei-Auto brannte aus, alle Scheiben des Bahnhofs und eines Teils der engeren Umgebung waren zerschlagen), die Zahl der Verletzten ist unbekannt, im Krankenhaus Friedrichstadt sollen sie auf den Gängen liegen, weil die Krankenzimmer nicht ausreichen.  

Hierzu meine persönlichen Erlebnisse:  
Freitag in der Redaktion „Feierstunde“ aus Anlaß des 40.Jahrestages  der DDR. Salbungsvolle Reden einiger Uraltgenossen, sie sind zahnlos, wirkungslos, eigentlich auch arbeitslos, denn sie machen fast nichts, was mit dem Fernsehen wirklich etwas zu tun hätte. Danach erscheint der Bereichsleiter G.. Markige Brandrede über die Gefährdung des Sozialismus, Mahnung zur Standhaftigkeit, er führt voll Rührung ein Beispiel an und zeichnet die Beteiligten mit einem wohlgefüllten Briefumschlag aus: Ein Drehteam (mit unserer Parteigruppensekretärin J.K.)war an jenem Mittwoch zufällig in Dresden, sie haben die Ereignisse am Bahnhof beobachtet, haben sich an die Bezirksleitung der Partei gewandt mit der Frage, ob sie drehen dürfen, von dort wurden sie verwiesen ans Fernsehen, dort wurde nach Rückfrage (wen der Chef vom Dienst fragte, ist unbekannt) gesagt, sie sollten drehen.

Darauf machten sie Bilder von den tumultartigen Szenen, drehten in der Nacht auch noch Interviews mit Polizisten und Bahnhofsangestellten, nicht mit Demonstranten, und waren schon am Morgen wieder in Berlin. Sie erstatteten Bericht, sprachen von behutsamem Vorgehen der Polizei, kein Gebrauch von Schlagstöcken usw., dagegen brutalstes Verhalten der Demonstranten, Brandbomben gegen  Polizeiautos, auf einem Stock wurde eine Polizeimütze nach oben gehalten, da überlief es sie kalt, ebenso bei der Vorstellung, die Brandbomben hätten Kinder treffen können, „Deutschland erwache“ sei gerufen worden usw. Einer von uns schreit dazwischen, dass noch wichtiger als die Empörung über die Demolierung des Dresdner Bahnhofs die Ermittlung der tieferen Ursachen sei, das bleibt so im Raum stehen.  

Die Bilder werden nicht gesendet, bis heute zumindest nicht, aber alle sind wir uns einig, dass sie wichtig sind – für die Stasi. Auch der Regisseur des Drehteams weiß das, es ist ein netter Kerl, der niemand wehtun will, im privaten Gespräch versichert er besorgt und beschwörend, es seien nur totale Aufnahmen gewesen, auf Grund derer keiner belangt werden könnte.    

Auf der Fahrt nach W. haben Kerstin und ich, in Konsequenz aus der Ratlosigkeit, die immer bei der konkreten Frage nach Reformen einzieht („..ja, was wollt ihr denn eigentlich...“), ein paar Überlegungen angestellt. Sie liegen jetzt handschriftlich und ungeordnet vor mir, wahrscheinlich muß erst System reingebracht werden, ehe ich sie hier verewigen kann.  

Es geht um Medien, Wahlrecht, Verfassung, wirtschaftliche Belange usw.  

Das Erste und Wichtigste ist, da waren wir uns einig, dass die Medien Forum der Öffentlichkeit werden, unabhängig und nur der Verfassung verpflichtet. Und das Wahlrecht muß bei geheimer Wahl Alternativen zulassen, nicht nur personelle, auch im Programm.    
Später dazu mehr.  

11.10.89    
Ich schäme mich – nun endlich – doch sehr, dass ich abends vor dem Fernseher sitze und auf Nachrichten hoffe, wie die anderen endlich meine Angelegenheiten ins Reine bringen. Denn Reformen, Veränderungen, ehrliche Medienpolitik, das ist schon auch meine Sache. Es bereitet mir zunehmend moralische Bedenken, dazuhocken und darauf zu warten, dass wieder ein paar mehr auf die Straße gehen und die Machthaber unter Druck setzen. Eine Auswirkung davon ist, dass ich in unserer Redaktion immer rüder und ungedeckter meine Meinung sage. Das ist vermutlich nicht genug, aber ich denke, mein Platz ist nicht die Straße, sondern das Fernsehen. Der Prozeß ist im Werden, wie alles im Augenblick. Wie ein Damoklesschwert schwebt über allem natürlich die jüngste Erfahrung mit dem Studentenaufstand in China. Unsere Machthaber beschwören pausenlos ihre Verbundenheit mit China. Sollte es ein solches Ende nehmen – nicht daran denken. Das darf nicht sein, und ich denke, das wird auch nicht sein. Denn wenn dann das Volk wirklich nach vorn losgeht, ergeht es den Mächtigen schlecht, denn diesmal schützen sie – vermutlich – keine russischen Panzer.  

Am Montagmorgen Parteiversammlung, zunächst die sog. „Argumentation“. Im Prinzip eine schwärzliche Darstellung der Situation in der Sowjetunion, eine ebenso gefärbte Schilderung der ungarischen Verhältnisse, gemilderte Betrachtung der Polen, Lob für die Treue der CSSR, Bekenntnis zu China, Verurteilung der oppositionellen Bestrebungen bei uns, Ursache ist das Wirken des Klassenfeindes.  

Empörtes Aufbegehren einer Kollegin, diese Einseitigkeit schreie zum Himmel und triebe dem „Gegner“ weitere Leute in die Arme.  

Ich sage, ich vermisste eine ähnlich schonungslose Analyse wie die der sowjetischen Verhältnisse auch für unsere Situation. Am weitesten wagt sich ein Kollege hervor, der feststellt, dass laut Verfassung der Führungsanspruch der SED nicht für alle Zeiten garantiert sei, dass sie schon etwas für diese Rolle tun müsse. Im Anschluß allgemeine Kritik an der tragischen Berichterstattung in unseren Medien. Abschließend wird gefordert, dass wir füreinander einstehen sollten, wenn einer von uns wegen dieser oder jener Äußerung Ärger bekäme.

Da in dieser Versammlung auch eine Auswertung der sog. „persönlichen Gespräche zum Dokumentenaustausch“ vorgenommen wurde – mit ähnlichem Tenor übrigens - , wird das Protokoll der Kreisleitung der Partei vorgelegt werden. Eine wohltuende Vorstellung, dass dieser Ebene wenigstens eine Ahnung von unseren Auffassungen vermittelt wird, wenngleich zunächst sicherlich nichts weiter bewirkt wird, als deren Unsicherheiten zu vergrößern.  

Nach der Versammlung bin ich im Fernsehen herumgelaufen und habe jedem, den ich erwischen konnte, in frommer Übertreibung erzählt, dass wir in der Gruppe DDR-Reportagen eine Petition an die Kreisleitung verabschiedet hätten, in der wir forderten, dass die Medien Forum für öffentliche Gespräche werden.  

Als ich das auch dem Leiter unserer Kaufhalle sage, rennt er spontan nach hinten und drückt mir eine Tüte Weintrauben, die es sonst kaum gibt, in die Hand.  
   
13.10.89  
Die Dinge sind in Bewegung geraten und wir genießen es, gleichzeitig haben wir Angst, dass alles wieder zum Stillstand kommen könnte.  

Im Fernsehen schwirren die Leitungsebenen durcheinander, mit ernsten, teilweise blassen Gesichtern, oder sie verschanzen sich stundenlang hinter ihren Türen. Krisensitzungen, Hilflosigkeit prägt die Situation.  
Rückblick: am 6.10., es war der bisherige Höhepunkt der Ausreisewelle, sollte eine Live-Diskussion mit hochkarätigen Gesellschaftswissenschaftlern und anderen Bescheidwissern (u.a.Schnitzler) stattfinden.  
19.23 Uhr wird die Diskussion noch angekündigt, 19.45 Uhr verkündet der Stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Komitees (praktisch unser stellvertretender Intendant), dass „angerufen wurde“ – von wem, braucht er nicht zu sagen, natürlich vom Politbüro – also dass angerufen wurde mit der Botschaft, zu aktuellen Problemen werde nichts gesagt. Die Diskussion wird abgesetzt, es erfolgt um 20 Uhr, also in der Hauptsendezeit, ein Gespräch mit den nämlichen Leuten, aber nur allgemeines Gelaber zum 40.Jahrestag der DDR.  

Gestern, am 12. also, sollte die Sendung zu nun doch aktuellen Problemen nachgeholt werden,  gestern früh ist noch alles im Plan, gestern Nachmittag ist sie erneut abgesetzt.  

Aus unserer Redaktion DDR-Reportagen: Irgendjemand hat vorgeschlagen eine Sondersendung zu machen zum Thema „Verlassene Verantwortung“. Eltern, die ihre Kinder hier ließen, Ärzte, die ihre Patienten verließen. Das Thema wird genehmigt, alle anderen Dreharbeiten, u.a. die für die Reihe „Wettlauf mit der Zeit“ werden gestoppt und in den Dienst der Sondersendung gestellt. Die Organisatoren stehen Kopf, aber sie packen es. Als die Drehstäbe zu großen Teilen schon unterwegs sind, kommt das Stop-Kommando: die Sendung wird nicht gemacht.   

Weiterung: Eine Kollegin ist (wegen der gekippten Sondersendung) in Karl-Marx-Stadt, sie liest in der Zeitung, dass das Politbüro die Forderung nach „lebensnahen Medien“ formuliert hat. Voll gläubigen Eifers ruft sie in der Redaktion an und schlägt vor, in Aue einen Schweigemarsch von Arbeitern, mit dem diese Dialogbereitschaft erzwingen wollen, zu drehen. Sie weiß von der Bezirksleitung der SED, dass die wirklich mit den Arbeitern reden will, und sie möchte sich an die Diskussion mit der Kamera anhängen. Unser Redaktionsleiter nimmt den Anruf entgegen und leitet ihn weiter (er entscheidet nie etwas, tut aber bereits jetzt ungeheuer tapfer, als sei er schon immer Träger der neuen Ideen gewesen). Erstaunlicherweise kommt die Freigabe zum Drehen, aber ein paar Stunden später verkündet der Redaktionsleiter (grinsend), es dürfe nicht gedreht werden, wenn Bedarf bestünde, schickte die Aktuelle Kamera ihren Korrespondenten.  

Dann berichtet der Redaktionsleiter, unter der Hand, also nicht offiziell, von einer Zusammenkunft der wichtigsten Wirtschaftjournalisten beim ZK der SED. U.a. wurde unsere Sendereihe „Wettlauf mit der Zeit“, jene hochgelobte Serie über unsere Schlüsseltechnologie, deren Themen ausnahmslos von oberster Partei-Ebene vorgegeben wurden, diese Sendungen wurden von den ZK-Genossen mit Worten bedacht wie.... „ Diese Scheiße wird in den Sumpf versenkt, ganz weit, das will keiner sehen....“, und in diesem Jargon ging es weiter.  

Vorgestern abend waren Kollegen bei mir, u.a. einer, der am selben Tag aus der Partei ausgetreten war. Seine Begründung: Wenn erst Demonstranten auf der Straße das bewirken, was in den Parteigruppen über viele Jahre immer wieder gefordert wurde, dann ist es sinnlos, in dieser Partei zu sein.  

Gestern abend wieder Besuch, die Verlobte meines über Ungarn geflüchteten Volontärs. Sie ist ratlos, die Mutter des Jungen ist fix und fertig, die u.a. deshalb, weil der Vater, ein Diplomat, sich von seinem Sohn distanziert hat.   

15.10.89    
Die Fluchtwelle hält an. Heute, zu Beginn der Herbstferien, sind wieder 1500 über Ungarn nach Österreich geflüchtet. Wie sie es machen, weiß der Himmel. In der Warschauer Botschaft sind es auch wieder 8oo, sie sollen in diesen Tagen ausreisen können, allerdings nicht mehr über die DDR, das verkneift man sich wegen der Aufstände an den Durchfahrtsbahnhöfen.  

Die Machthaber lassen  Reaktionen erkennen, sie reden mit den Leuten. In den Medien gibt es erste Anzeichen von Lockerung,  Arbeiter, nachdem sie zunächst ihre Treue zum Sozialismus bekannt haben, dürfen von Reisefreiheit und ihrer Unzufriedenheit mit den Medien usw. reden. Wir werten das als Zeichen eines beginnenden Umbruchs, aber es gibt Stimmen, die bezeichnen alles lediglich als Hinhaltetaktik, um die Gemüter zu beruhigen.  

Ganz pessimistisch gestern abend ein Dresdner Architekt, ein Bergsteiger: „Halt Dich zurück,“ sagte er, als ich in der Kneipe wieder einmal meinem Herzen Luft gemacht hatte, „halt Dich zurück, sie notieren alles, sie warten, bis sie alles wieder fest im Griff haben, dann werden sie sich an Dir rächen, sie sperren Dich ein, sie werden Dich prügeln!“  

Auch die jungen Bergsteiger von einem Dresdner Kletterclub, es ist nur noch ein Rest, die meisten Jungen sind schon drüben, haben in der Mehrzahl Ausreiseanträge laufen oder wollen ihn in den nächsten Tagen stellen, auch diese jungen Männer also sind absolut pessimistisch. „Alles nur Lippenbekenntnisse,“ sagen sie, „Zeitgewinn. Und selbst wenn sich etwas ändern sollte – bevor das akzeptable Verhältnisse werden, ist unsere Jugend vorbei“. Sie sind ausnahmslos aus Dresden, alles normale Leute, gute Arbeiter oder Angestellte. Sie geben keinen Pfifferling für diese Regierung, für dieses System, und sie trauen den Worten unserer Machthaber in keiner Weise. „Die Ausreiseanträge,“ sagen sie, „werden jedem, der demonstriert, geradezu ins Haus gebracht, es fehlt nur noch, dass sie aus dem Toni-Wagen gereicht werden. Jeder, der dagegen ist, soll raus, egal, was hinterher wird, Hauptsache, es ist wieder Ruhe im Lande.“   

Und viele, sehr viele sagen noch immer, nein, ich halte den Mund, es hat ja doch keinen Zweck, man bekommt nur Ärger.  

Ich war beim Journalistenverband, Berliner Sektion, in der Friedrichstraße. Die ältliche Sekretärin klagt mir unter vier Augen ihr Leid, nennt mir das Beispiel, das sie veranlasst, jetzt noch vorsichtiger zu seien als vorher: zwei Journalisten hatten eine Petition gebracht, schlugen vor, sie im Verbandsblatt zu veröffentlichen, sie werden vertröstet, und sobald sie raus sind, benachrichtigt der Chef die Sicherheit von der Angelegenheit.  

Auf der anderen Seite hört man von immer neuen Beispielen, dass das Eis doch gebrochen ist und die Schollen in Bewegung kommen. In Dresden wurde eine Bezirksausstellung eröffnet, Modrow war auch da. Der Chef des Dresdner Verbandes der Bildenden Künste, ein Maler, hält eine Rede, und am Anfang eröffnet er, dass er aus der Partei austritt. Am Schluß der Rede minutenlanger Beifall, es kommt zu Gesprächen, auch mit Modrow.  

Im Fernsehen treffe ich unsere Londoner Korrespondentin, eine nette, aber konservative Frau, wir freuen uns, dass wir uns sehen,  sie fragt, wie es mir ginge, ich antworte, wie könne es einem Journalisten in diesen Tagen schlecht gehen, und sie erstarrt.  

Mein Nachbar, ein Polizeioffizier, hat erzählt, das Sicherheitsaufgebot sei ungeheuer, die Gewaltanwendung vorgesehen, aber aus taktischern Gründen zur Zeit ausgesetzt.   
Morgen ist Montag.  
   
19.10.89    
Um auf dem Laufenden zu bleiben, reicht es zur Zeit kaum aus, sich täglich nur einmal hinzusetzen und zu schreiben. Die Ereignisse des Vormittags werden oft schon von denen des Abends überholt.   

Seit gestern ist Honecker ersetzt worden durch Krenz, und die Politbüromitglieder Mittag und Herrmann sind abgesetzt worden.   

Wir haben von einem Bekannten endlich den Forum-Aufruf bekommen, mit dem diese Oppositionsgruppe seit Monaten wirbt und auf Grund dessen sie als verfassungsfeindlich verboten wurde. Diese sehr vorsichtigen Formulierungen sind heute natürlich längst überholt.  

Das „persönliche Gespräch zum Umtausch der Parteidokumente“ stand bei mir noch immer aus. Dass ich unübliche Wahrheiten sagen würde, war klar, aber wie weit ich mich hervorwagen würde, beschäftigte mich doch erheblich. Ich war ungeheuer erregt, konnte an nichts anderes mehr denken, denn jahrzehntelanges Duckmäusertum auf einmal hinter sich zu lassen, ist auch dann nicht einfach, wenn die Bedingungen dafür günstiger geworden sind. Und das sind sie natürlich, nachdem die Partei zur Zeit von allen Seiten Feuer erhält. Ich setzte mich hin und schrieb eine Erklärung, denn ich wollte mich schriftlich äußern, um Verdrehungen zu begegnen und auch das Versickernlassen zu erschweren. Vielleicht, hoffentlich, kann man sich später gar nicht mehr vorstellen, was dieses Schriftstück bedeutete – diese Auffassungen hätten noch ein halbes Jahr zurück ausgereicht, mich öffentlich ans Kreuz zu schlagen und vermutlich aus dem Fernsehen zu jagen (weiland beim Fall des geschassten Regisseurs K. ging es auch um nicht mehr als solche Formulierungen).  

Ich war also aufs höchste erregt, war vorbereitet auf einen erbitterten Kampf und hatte auch die Folgen der unausbleiblichen Niederlage fest einkalkuliert. Meine Gesprächsleiter waren der Bereichsleiter Publizistik G. und der für unseren Bereich zuständige Parteisekretär T., beides anerkannte Hard-Liner. Aber – die große Auseinandersetzung fand nicht statt. Die harte, seit Jahrzehnten herbeigesehnte, an die Grenze der Existenz gehende Konfrontation – war nicht möglich. Als würde ich gegen eine Gummiwand boxen – kein Getöse, keine harten Konter, keine demagogischen Drohungen, keine Erpressung, kein empörtes Aufschreien, keine geheuchelte Enttäuschung – sie waren auf moderat eingestellt und hielten das durch bis zum Schluß. Sie haben nur eins im Sinn – dass wir nicht aus der Partei austreten. Alles andere wird sich finden.   

Sie gaben mir in kaum einem Detail einmal recht, sie formulierten ihre alten Sprüche, aber sie erklärten, gaben zu bedenken, wiesen darauf hin, erinnerten – im Normalfall hätten sie inquisitionsartig postuliert und moralisch zertrümmert. Ein wenig heftig, aber auch nur ein wenig, wurden sie, als ich das Politbüro attackierte. Voll Frömmigkeit betonten sie, diese Genossen hätten allesamt einen 16-Stunden-Tag, sie hätten sich für ihre Überzeugungen früher einsperren lassen, sie genössen keinerlei Privilegien, dass sie sich in Wandlitz gruppierten, sei eine Frage der Sicherheit, denn sonst wären schon einige von ihnen „weggeschossen“ worden, außerdem, Regierungsviertel gäbe es überall in der Welt. Und sie hätten unser Land aus Trümmern zur Blüte geführt, da hätten sie ja wohl Anspruch auf unsere Anerkennung und unseren Respekt.  

Sie leierten alles wieder herunter, was sie seit Jahrzehnten als Entschuldigungen und Behauptungen vorbringen und was sie, wenn wir sie nicht daran hindern, noch weitere Jahrzehnte als Schutzbehauptung für alle möglichen Mängel benutzen werden: Die schweren Anfänge, die DDR als rohstoffarmes Land, wir haben die Reparationen für die anderen mitbezahlt, wir hatten keinen Marshall-Plan, usw., usw. Dazu die Behauptung, unsere Wirtschaft floriere, sie funktioniere nur nicht maximal, die Schwierigkeiten seien durch die Westmedien aufgebauscht worden, wir würden ausgerechnet am bestfunktionierenden imperialistischen Staat Westeuropas gemessen werden, das sei ungerecht, und außerdem, und das wiederholten sie stets aufs neue, seien wir ein Friedensstaat, unsere Friedenspolitik sei es, die uns, und hätten wir noch so viel Schwierigkeiten, moralisch weit über die kapitalistischen Länder erhebt, und der Friede sei nun mal das Wichtigste, ohne Frieden seien auch Reiseerleichterungen und wirtschaftlicher Fortschritt ein Nonsens.  
Ich sagte darauf u.a., dass wir so lange von der Überrüstung des Westens geredet hätten, bis Gorbi zugab, dass wir vorgerüstet hätten. Sie quittierten das mit mildem Lächeln.  

Als es um Fragen der Zensur ging, behaupteten sie, sie hätten kaum einmal einen Satz bei mir oder meinen Kollegen gestrichen. Als ich daraufhin von erzwungener Selbstzensur sprach, meinten sie, wieder mild und versöhnlich, ich sollte uns, die Macher, doch nicht so klein machen.   

Es zeigte sich immer mehr eine Grundtendenz – sie gingen davon aus, dass in der DDR das meiste in Ordnung sei, ich hingegen, dass das meiste reformbedürftig sei. Als ich das zum Ausdruck brachte, begannen sie – getreu ihrer zurückweichenden Beharrungstaktik – sofort eine Wortklauberei, was denn nun „das Meiste“ überhaupt sei.  

Ich war zwar hektisch, laut und intensiv, aber richtig wütend ging ich nur auf sie los, als sie versuchten, die Demonstranten zu kriminalisieren. Als sie merkten, dass das meine Schmerzgrenze war, ließen sie es sein.  
Insgesamt aber war ich zutiefst enttäuscht, fühlte mich in gewisser Weise ausgetrickst und war frustriert. Ich hatte den großen Knatsch gewollt, und den hat es nicht gegeben. Es war, als hätte ich gegen einen Gegner geboxt, der ausschließlich mit Meidbewegungen kämpfte.  

Abschließend noch etwas zum Tage: Die Aktuelle Kamera vom 17.10. war erstmals eine sehenswerte. Von den Demonstrationen war die Rede, es gab ein Interview mit  dem Generalstaatsanwalt zu den Misshandlungen von festgenommenen Demonstranten, der Dresdner Oberbürgermeister berichtete von seinem Dialog mit der Opposition usw.  

Gerade habe ich unsere 21-Uhr-Nachrichten gehört. Von einem bereits in Auftrag gegebenen Gesetz über Reisemöglichkeiten ist die Rede, die Politbüromitglieder werden nur noch knapp mit ihren Funktionen benannt, unterschiedlichste Verbände haben sich mit Aufrufen an die Regierung gewandt – es lohnt sich auf einmal, unsere Nachrichten zu hören, sie sind interessanter als die des Deutschlandfunks. Und das ist geradezu unglaublich.   
 
26.10.89    
Die Demonstrationen reißen nicht ab, ganz im Gegenteil, ihr Zahl und auch die Anzahl der Beteiligten steigt (letzten Montag in Leipzig sage und schreibe 300.000).  
Die Offiziellen versuchen, die Leute von der Straße zu bekommen, durch massiertes Angebot von Gesprächen („Dialog“ ist das neue Schlagwort, das die Partei auch prompt, getreu ihrer unbeweglichen Sprache, schon so strapaziert hat, das es keiner mehr hören kann – es ist zu einer Vokabel des „Parteischinesisch“ geworden), und auch durch versteckte oder offene Drohungen. Die Demos seien nicht genehmigt, ein harter Kern „von einigen Hundert“ wolle weiter nichts erreichen als Konfrontation und Eskalation, die Bürger (in Berlin) beschwerten sich wegen der Verkehrsbehinderung, und das alles könne nicht unwidersprochen hingenommen werden.  

Ich selbst habe leicht gemischte Gefühle angesichts der Demos. Natürlich unterstützen sie unsere Aktivitäten. Die Kritiken, Anträge und Petitionen der unterschiedlichsten Vereinigungen und Verbände wären nicht ihr Papier wert, wenn die Demonstrationen ihnen nicht hundertausendfaches Gewicht verliehen. Insofern bin ich immer dankbar gerührt, wenn – beispielsweise nach der letzten Leipziger Montagsdemo – alles gut zu Ende gebracht ist. Aber solche Ansammlungen sind natürlich gefährlich. Ein paar Verrückte sind immer dabei, die ausreichend Anlaß bieten könnten, Gewalt anzuwenden. Das könnten u.U. sogar von der Stasi eingeschleuste Provokateure sein. Und kommt es erst einmal zu einer richtigen Schlacht, dann könnte das darin münden, dass die ganze neue Bewegung mit Brachialgewalt wieder zum Stoppen gebracht wird.  
Bis jetzt ist alles gut gegangen, aber es vergeht ja kein Tag, ohne dass mehrere Tausend auf die Straße gehen, und da ist es fast ein Wunder, dass noch nichts passiert ist.  

Bei uns in der Redaktion bzw. in der APO wurde ganz öffentlich gesagt, dass, wenn die alten Leiter die neue Entwicklung bremsten, sie eben abgelöst werden müssten. Ich habe als letzte Amtshandlung vor meiner Kur einen schriftlichen Sendevorschlag eingereicht, eine Reihe mit dem Titel „Bestandsaufnahme“, gedacht als vertrauensbildende Sofortmaßnahme, die in Wirtschaft, Politik, Kultur usw. den Ausgangspunkt markiert, von dem aus der Neubeginn erfolgt. Ich vermerkte dazu, dass eine solche Reihe mit der jetzigen Leitung vermutlich nicht zu realisieren wäre. Ich gehe davon aus und sage das auch, dass die Zeit der Angst jetzt wohl vorbei ist, denn so viele, wie sich jetzt auflehnten, könnten sie unmöglich „zur Rechenschaft“ ziehen.  

29.10.89    
Wir sind beide für vier Wochen zur Kur in Bad Kösen.  
Es ist erstaunlich, wie wenig Zeit man während solch einer Kur hat, besonders, seit zu den üblichen Beschäftigungen mit den Kurmitteln noch stundenlanges Studium der Tagespresse und das Konsumieren von Aktueller Kamera und anderen Nachrichtensendungen hinzugekommen ist. Ich kann das ja gut vergleichen, weil ich vor neun Jahren schon einmal hier zur Kur war – damals schaute niemand die Aktuelle Kamera, und die Zeitungen wurden lustlos durchgeblättert. Heute gibt es geradezu ein Tauziehen um die paar Blätter, die herumliegen. Man muß möglichst viel lesen, denn in jeder Zeitung steht anderes bisher Ungehöriges, während sie früher alle dasselbe in dem gleichen Parteichinesisch zu denselben Ereignissen absonderten – wenn es überhaupt Ereignisse waren.  

Ich will zunächst noch ein paar Begebenheiten nachtragen, die sich vor meiner Abreise nach Bad Kösen zutrugen.  

Die Krenz-Antrittsrede im Fernsehen war eine Katastrophe. Der Mann war nicht in der Lage, innerhalb der Stunden, die ihm zur Verfügung standen, die 60-Minuten-Rede an das ZK zu verdichten auf eine kürzere Rede an das Volk. Er verlas demzufolge das gesamte Manuskript einschließlich der ersten Anrede: „Liebe Genossen....“. Die Rede wurde in acht Teilen aufgezeichnet, weil Krenz sich mehrfach versprach. Noch nach 19 Uhr wurde aufgezeichnet, die Ausstrahlung war für 20 Uhr vorgesehen. Man schaffte es in der Kürze der Zeit nicht mehr, die einzelnen Teile nahtlos aneinander zu schneiden. Die Folge – vier Teile wurden während der Sendung von verschiedenen Maschinen „aneinandergefahren“. Natürlich sollte das niemand merken. Wer das Fernsehen kennt, der weiß, welcher Balanceakt das ist. Nach dem ganzen Theater klappte der Chef der Aktuellen Kamera mit akuten Herzbeschwerden zusammen und wurde ins Krankenhaus Buch gebracht.  

Krenz wurde im Studio hingesetzt, dass er aussah wie das Häschen im Kohl, und da die gesamte Rede auch nicht über das Vorführgerät gezogen wurde, war seine Mühe mit dem Manuskript unübersehbar. Außerdem hatte niemand den Mut, dem neuen General zu sagen, dass sich bei längerem Reden Schaum in seinen Mundwinkeln sammelte. Es war grauslich.  

Noch etwas Internes aus der AK: Das ZDF hatte gemeldet, in „Heute“ um 19 Uhr, dass unsere Sicherheitskräfte auch dann noch einer Frau auf den Leib geschlagen hätten, als diese mehrfach schrie, sie sei schwanger. Schon eine knappe halbe Stunde später wurde in der Aktuellen Kamera diese „Ungeheuerlichkeit“ scharf zurückgewiesen mit dem Vermerk, das sei übelste Stimmungsmache. Wenig später rief der Chef der Charite an und erklärte, er habe Zeugen für diesen Fall und die AK möge sich bitteschön ihre Dementis überlegen.  

Wir hatten am vergangenen Montag, also am 23.10., noch eine APO-Versammlung. Nahezu einstimmig wurde ein Forderungskatalog beschlossen (es gab nur eine Gegenstimme von unserem ewig servilen Chefreporter, der dem Frieden offenbar noch immer nicht traut und vermutlich sicher ist, dass er die Kurve auch später noch kriegt). In dem Katalog u.a. die Forderung nach einem Mediengesetz, nach wahrheitsgetreuer Widerspiegelung der Realität auf dem Sender, nach Absetzung von Schnitzlers „Schwarzem Kanal“ und der Reihe „Wettlauf mit der Zeit“  und nach personellen Konsequenzen, falls die Erneuerung gehemmt wird. Die Kollegen der Innenpolitik (!) protestierten dagegen, dass sie zur Untätigkeit verdammt seien, weil die Leitung (Bereichsleiter und APO-Sekretär, beide anwesend) abwarte und nicht wüsste, was getan werden müsse.  

Es wurde beschlossen, dass sich eine Abordnung von Kollegen sofort zusammensetzt und eine Konzeption für künftige Sendungen entwirft. Da ich daran nicht teilnehmen konnte wegen der Kur, reichte ich meinen o.a.Vorschlag schriftlich ein. Der ebenfalls anwesende Kreisparteisekretär kommentierte meinen Beitrag mit den Worten, er sei wegen seiner destruktiven Wirkung nicht zu realisieren. Und zur Forderung nach Absetzung des Schwarzen Kanals meinte er, wir könnten doch jetzt nicht aufhören, uns mit dem Gegner auseinanderzusetzen, ganz im Gegenteil, wir müssten doch wieder versuchen, in die Offensive zu kommen (ein Zwischenruf: Dann wechselt doch wenigstens den Schnitzler aus, wenn den die Zuschauer sehen, geht ihnen doch das Messer in der Tasche auf.)    

10.11.89    
Es ist irre. Eben, vormittags, immer noch zur Kur in Bad Kösen, komme ich am Fernsehraum vorbei, es laufen im Westen gerade Bilder der denkwürdigen Nacht, die Mauer ist offen, die Menschen strömen hindurch, jubelnd, singend, weinend, sie spazieren auf der Mauer entlang, gehen durch das Brandenburger Tor, unsere Grenzer stehen hilflos-freundlich herum, sie haben keine klaren Anweisungen, ihnen ist in diesen Stunden alles unbegreiflich. Ohne Passkontrolle, ja, teilweise ohne in der Eile überhaupt Ausweispapiere bei sich zu haben, unternehmen die Leute nächtliche Ausflüge nach Westberlin, die meisten kommen wieder zurück, sagen das auch, ebenso, dass sie am Morgen wieder zur Arbeit gehen werden, es ist ein anrührendes, ein großes, ein historisches Bild, und es ist gleichzeitig wohl auch ein Bild des Chaos, ein Beweis, dass unsere Führung nun völlig die Übersicht verloren hat.  

Gegen Morgen hieß es ,um 8 Uhr werde die Visumspflicht wieder eingeführt, zwar unbürokratisch und kurzfristig solle das alles geschehen, aber man wolle die Kontrolle behalten. So lauteten die Nachrichten noch heute morgen 7 Uhr. Jetzt, um 9.30 Uhr, verkünden die Westmedien, unsere vermutlich auch, dass die visafreie Regelung noch übers Wochenende gilt.  

Der große Augenblick, an den keiner so richtig geglaubt hat, der Fall der Mauer, scheint da zu sein. Aber die Begleitumstände vermitteln nicht nur mir – ich habe mit ein paar Kurpatienten darüber gesprochen – auch ein Gefühl der Angst. Zu sehr schimmert die Direktionslosigkeit unserer Machthaber dabei durch, und solche Hilflosigkeit bei Regierenden bedeutet selten etwas Gutes für das Volk.  

Vorgestern sind K. und ich nach Berlin gefahren, um an der großen Demonstration teilzunehmen. Wir standen unter der reichlichen halben Million von Leuten, es war erhebend, war es doch die erste Demonstration in meinem über 50-jährigen Leben, die mir wirklich etwas gab. Hunderte, vermutlich Tausende von selbstgebastelten Transparenten gab es, mit Losungen, für die in den meisten Fällen die Träger noch vor einem halben Jahr mit hohen Haftstrafen belegt worden wären. Herausragende Themen waren freie Wahlen und Losungen an die Adresse der Stasi, aber auch sonst wurde alles zu Markte getragen, was die Leute bisher in sich rein fressen mussten, von den Reisebeschränkungen über die mangelhafte Versorgung, über Korruption, sinnlose Gewerkschaften, Gammelei in den Betrieben, die Heuchelei von Schnell-Gewendeten, die Vorbehalte gegen Krenz und den Führungsanspruch der SED überhaupt bis zu solchen Detailfragen wie Radfahrwege und Staatsbürgerunterricht. Sprechchöre, von uns teilweise mitgerufen, artikulierten, was inzwischen bei allen DDR-Demos zum geflügelten Wort  wurde – „Wir sind das Volk!“.  

Wir wollten eigentlich auch ein Transparent malen, ich hatte mir ausgedacht „Wenden, nicht winden!“, aber wegen praktischer Probleme haben wir es schließlich gelassen.  
Die Medien haben sich schon grundlegend verändert. Das Neue Forum darf aus Adlershofer  Studios live im Westfernsehen auftreten (vorgestern Bärbel Boley), meine Kollegen machen Sendungen, die im Prinzip meinem vor der Kur gemachten Vorschlag („Bestandsaufnahme“) entsprechen, wer hätte das je gedacht.  

Wir hocken jeden Abend vor dem Fernseher und verfolgen alle Nachrichten- und sonstigen politischen Sendungen. Danach wird im Kreis der Kurpatienten diskutiert. Die Haltungen sind unterschiedlich, im Prinzip sind alle für die Wende, bis auf einen General a.D.. Aber die meisten haben auch Angst vor dem Chaos, sie können sich nicht vorstellen, wie die marode Wirtschaft in Gang gebracht werden soll. Je jünger sie sind, desto engagierter sind sie für die Veränderungen. Die über 50-jährigen fürchten offensichtlich um ihre soziale Sicherheit, sie sind hier in der DDR angebunden, können in ihrem Alter Grundsatzentscheidungen wie Übersiedlung kaum noch treffen, außerdem haben die meisten in gewisser Weise auch staatstragende Unterfunktionen besessen (selbst der einfache Meister war ja irgendwann einmal die verlängerte Knute des Politbüros), und sie wissen nicht, wie negativ ihnen das angerechnet wird. Ein paar „Leichen“ haben ja viele im Keller.   

Was uns aber alle eint, ist die Sorge um die Zahl der Ausreisenden. Wie eine sich stetig verdunkelnde Wolke liegt sie über all den begrüßenswerten Veränderungen. Von vorigen Freitag bis heute haben wieder sage und schreibe 50.000 Leute das Land verlassen. Fast ausschließlich Junge! In einer Woche! Insgesamt sind es in diesem Jahr bereits weit über 200.000! Daß dieser Aderlaß zu einer gravierenden Schwächung unseres ohnehin nur schwerfällig funktionierenden Staates führen muß, ist sonnenklar. Und das Ende der Völkerwanderung ist nicht abzusehen. Das lässt inzwischen auch die drüben nicht mehr kalt. Sie wissen nicht mehr, wohin mit den Leuten, einige Städte verweigern bereits die Aufnahme, die ehemaligen DDR-Bürger kampieren in Zelten, Turnhallen, Wohnwagen, Kasernen, Containern. Und jetzt kommt der Winter. Wenn wir beabsichtigt hätten, die BRD in Schwierigkeiten zu bringen, das haben wir erreicht. Nur leider ist auch hier, wie bei allem, was wir nach dem Westen exportierten, für uns der Preis viel zu hoch.  

Heute nacht waren übrigens auch mehrere Einheits-Bekundungen zu hören. In der Westpolitik taucht dieser Gedanke, obwohl offiziell nicht formuliert, jetzt immer öfter auf. Bei uns hier zur Kur spielt dieser Wunsch keine Rolle, in unseren theoretischen Konstruktionen, was alles werden könnte, wird eine solche Vorstellung allerdings schon mal formuliert, dann nämlich, wenn wir voranstellen, dass der Sozialismus, weil wirtschaftlich nicht funktionsfähig, hier im Zuge freier Wahlen einem sozialen Kapitalismus Platz macht. Dann wäre die Einheit vermutlich nur noch eine Formsache.  

Ich erhole mich gut hier zur Kur. Das registriere ich mit Befriedigung natürlich auch deshalb, weil ich für meine künftigen, völlig neuen Aufgaben als Journalist topfit sein will.   
Ich freue mich schon auf die Arbeit.    

17.11.89    
Dreieinhalb Wochen sind wir weg von zu Hause, und wenn wir zurückkehren nach Berlin, wird die Welt eine andere sein. Heute stand erstmals in der „Freiheit“, einer Zeitung der SED, das Programm von ARD und ZDF. Vor drei Tagen hat ein Kollege von mir einen Film auf den Sender gebracht, in dem es um die Jugendlichen ging, die im vergangenen Jahr von der Ossietzky-Oberschule in Berlin geflogen sind, weil sie sich gegen eine Militärparade aussprachen in einer Zeit, da die ganze Welt von Abrüstung sprach. Alle Verantwortlichen wurden genannt und kamen zu Wort, und jeder schob es auf den Nächsthöheren, die Klassenlehrer auf den Direktor, der auf die Schulrätin, die auf den Staatssekretär, der auf Margot Honecker. Ein entlarvender, für das ganze System so typischer Film. Noch vor 8 Wochen wäre er undenkbar gewesen.  

Die Volkskammer tagt in dieser Woche bereits zum zweiten Mal. Die teilweise kontroversen Debatten sind völlig neu für dieses Gremium und werden teilweise entsprechend unbeholfen geführt, Uralt-Stasi-Chef Mielke wurde persönlich angegriffen, wagte sich daraufhin ohne Manuskript ans Mikrofon und erlebte ein Fiasko, weil seine unglaubliche Primitivität, Dummheit und Senilität sichtbar wurden.   

Mich kotzt das so an, was jetzt alles ruchbar wird. Wie sehr sie uns, neben der permanenten Erpressung, die wir natürlich wahrgenommen hatten, wie sehr sie uns darüber hinaus noch belogen und betrogen haben.
Gestern stand in der CDU-Zeitung, dass sie entgegen allen Beteuerungen doch einen Teil unserer Dresdner Kunstschätze heimlich verhöckert haben gegen Westgeld (ich hatte vor Jahren im Dresdner „Grünen Gewölbe“ die Führerin gefragt, ob diese Gefahr bestünde, denn bei unserer Obrigkeit, bar jeder Hemmungen und nur aufs Überleben orientiert, hielte ich das für möglich, und sie hatte Stein und Bein geschworen, K. war dabei, dass dies nicht der Fall sei).   

Und der Verfall unserer herrlichen alten Städte, in Meißen beispielsweise siehts schlimm aus, und in Naumburg, und in Görlitz, von Halle und Leipzig gar nicht zu reden.  

Und unser Gesundheitswesen, in der Ausstattung am Ende, erstklassige Behandlung nur für Privilegierte oder gegen Westgeld.  

Und noch immer taktiert die Partei, noch immer sind im „Neuen Deutschland“ nicht die bösen Details zu finden, noch immer werden in unserem Fernsehen die schlimmen Leipziger Ereignisse in Windeseile unter der Rubrik „Schnee von gestern“ abgelegt, noch immer kommt jeder wirkliche Fortschritt von der Straße, sie tun alles nur unter Druck, und danach schmücken sie sich mit diesen Taten.  

Bei all dem – was soll ich noch in dieser Partei?  

Es war ohnehin ein Irrtum, das wusste ich längst, aber aus der Partei auszutreten war praktisch unmöglich, wollte ich mir wenigstens annähernde Chancengleichheit im Beruf erhalten. Als Gorbi antrat, dachte ich, vielleicht bin ich noch einmal stolz darauf, in dieser Partei zu sein, aber sie verleugneten Gorbatschow bis zum bitteren Ende, und sie würden es am liebsten heute noch tun. Ich grübele, ob ich aus der Partei austreten soll.  

Eine gute Woche ist noch Kur, dann geht’s wieder los mit der Arbeit. Ich bin prächtig erholt, habe 8 Pfund abgenommen, bin jeden Tag gelaufen. Ich fühle mich gut und freue mich eigentlich auf die Arbeit, denn was meine Kollegen zur Zeit anbieten, berechtigt zu besten Hoffnungen (Filme über Ausreise-Kandidaten, oder „Ist Leipzig noch zu retten“, oder die Sache mit den Oberschülern, usw.).  

Allerdings ist nicht klar, was mich in Berlin erwartet, denn in gewisser Weise hatte ich eine Zwitterstellung in der Redaktion. Zwar war ich von allen Journalisten der Aufmüpfigste, am schnellsten zu kritischen Bemerkungen Neigende, gleichzeitig aber, wenn man meine Aufträge in den letzten zwei, drei Jahren betrachtet, auch eine Art Privilegierter. So eine Art geliebtes „enfant terrible“ sowohl der Chefs als auch der Partei.
Das ist ohne Zweifel meinem journalistischen Talent zuzuschreiben, denn Anbiederungen jedweder Art kamen in meiner Arbeit kaum einmal vor, auch das gehörte zu meinem Privileg. Aber da ich logischerweise auch sehr engagierte Neider habe, ich denke da insbesondere an ein paar Damen, weiß ich nicht, wie die das alles hingedreht haben. Ich werde es erfahren.   

28.11.1989    
An die Parteileitung    
Mitte Oktober, anlässlich des persönlichen Gesprächs zum Dokumententausch, ließ ich der Kreisleitung ein Schreiben zukommen, in dem ich meine ernsthaften Bedenken gegen die Politik der SED festhielt.  
In dem Gespräch selbst formulierte ich noch wesentlich weitergehende Kritiken und auch Änderungsvorstellungen.  

Damals kannte ich jedoch erst die Spitze des Eisberges. In der Zwischenzeit ist das ganze Ausmaß des Versagens der Partei bekannt geworden. Ich erspare mir die Einzelheiten, bin jedoch bereit, falls es gewünscht wird, diese aus Lug und Trug und Heuchelei bestehende Reihe, die mich zutiefst erschüttert hat, aufzuzählen.  

Ich hatte in den Tagen meiner Kur (ab 25.10. war ich für 4 Wochen in Bad Kösen) ausreichend Zeit, die Dinge gründlich zu durchdenken. Quintessenz: Meine Mitgliedschaft in der SED war ein Irrtum. Deshalb trete ich hiermit aus.  

Natürlich werde ich weiter als Journalist an einer besseren Zukunft unseres Landes mitarbeiten. Ich hoffe, sie wird sozialistisch, diese Zukunft. Sicher ist das nicht mehr, nachdem meine Partei den Sozialismus dermaßen in Verruf gebracht hat.  

5.12.89    
Heute vor einer Woche, am 28.November, bin ich aus der Partei ausgetreten. Die schriftliche Erklärung enthält unter anderem den Passus „....ist jetzt das ganze Ausmaß des Versagens der SED bekannt geworden...“ Ich armer Irrer! Es geht nach wie vor Schlag auf Schlag. Nach dieser einen Woche gibt nun kaum noch jemand einen Pfifferling für diese Partei. Was da täglich, stündlich an Korruption und Machtmissbrauch und, daraus resultierend, an Verschleierungsversuchen entdeckt wird, das haben sich vermutlich die bösartigsten Feinde des Systems nicht ausdenken können. Es ist wirklich wie in einer Bananenrepublik. Nun hat das Volk die Schnauze voll, nun werden die so bewunderungswürdig friedlichen und disziplinierten Demonstrationen immer hitziger, und außerdem sind, in Leipzig beispielsweise, jetzt immer vordergründiger Einheitsforderungen zu hören, angestachelt natürlich auch durch den 10-Punkte-Vereinigungsplan, den Bundeskanzler Kohl vorige Woche im Bundestag vortrug. Die Leute fühlen sich  verarscht und betrogen, zudem werden sie durch die Hinhalte- und Verschleierungstaktik immer mehr gereizt, so dass sie nun beginnen, die Stasi-Burgen zu stürmen, um die Vernichtung von belastendem Material zu verhindern.  

Überall ist der Teufel los, die Soldaten, selbst die vom Wachregiment, begehren auf, die Knastbrüder streiken, das Politbüro und das ZK sind komplett zurückgetreten, zwölf ehemals hohe Genossen (auch Honecker) sind aus der Partei ausgeschlossen worden, eine Reihe von ihnen, u.a. Mittag, ist verhaftet worden, aus dem ZK darf  keiner irgendwelche Papiere mehr mitnehmen, trotzdem werden Fälle bekannt und publiziert, dass Tonnen von Schriftgut vernichtet werden, es wird langsam unheimlich, weil man nicht weiß, was losgeht, wenn das erste Blut geflossen ist.   

Meine fröhlich-optimistische Aufbruchstimmung weicht nun doch langsam Besorgnissen, ob wir das bevorstehende Chaos unbeschadet überstehen werden.     

Parallel zu allem geschieht natürlich auch Konstruktives. Modrow, der Ministerpräsident, verhandelt mit dem Westen, um die Wirtschaft in Gang zu bekommen, die Reisebeschränkungen für die Bundis sind aufgehoben worden, für uns wurde ein gemeinsamer Devisenfons gegründet, der am Ende aber eine Enttäuschung war, denn mehr als 200 Mark pro Person sind nicht rausgesprungen (100 Mark eins zu eins, 100 Mark eins zu fünf ), das ist verdammt wenig.  

Ich bin in meiner Redaktion der erste gewesen, der aus der Partei austrat. Man hat kaum etwas dazu gesagt. Im gesamten Bereich, das werden um die 150 Genossen sein, waren es bis jetzt fünf, vielleicht auch mehr.  
Das interessiert mich nicht mehr, ich fühle mich befreit, das war, so empfinde ich es jetzt, eine der notwendigen Maßnahmen beim Erlernen des aufrechten Ganges.  

Bei einer ganzen Reihe von Leuten, einige kamen deshalb zu mir und fragten nach meiner Meinung, spielt der mögliche Vorwurf der Feigheit bei einem Austritt gerade jetzt, wo das ohne jeden Nachteil möglich ist, eine Rolle. Daß sie jahrelang feige die durchsichtig-miese Politik mittrugen, haben sie nicht als so ehrenrührig empfunden. Aber ich lasse jedem seine Meinung, ich war ja auch lange genug unschlüssig.  

6.12.89    
In der Redaktion, nach 5-wöchiger Kur-Abwesenheit, bin ich in ein hektisches, euphorisches Getriebe geraten. Meine Kollegen produzieren die Reihe „Klartext“, sie machen teilweise ganz tolle Sachen. Irgendwie war ich überflüssig, die Redakteure balgen sich um Themen und Kameras, wir haben ganze zwei davon, sie schwelgen in der neugewonnenen Freiheit, fahren nach Westberlin und Hamburg und Wien, jagen Prominente, die bisher absolut tabu für uns waren, sie haben Zuschauer, Anerkennung, Erfolg, und ich könnte sie bei diesem wohligen Bad eigentlich nur stören. Mein Redaktionsleiter J.T., eigentlich ein mieser, überzeugungsloser Typ, ist, weil die Bereichsleitung zurückgetreten ist, zum rotierenden Alleinherrscher geworden. Er genehmigt Themen, er nimmt fertige Filme ab, und danach gehen sie sofort auf den Sender. Das ist unglaublich und kennzeichnet die chaotische Situation im Fernsehen, denn unser Redaktionsleiter durfte früher so gut wie gar nichts entscheiden, und er war glücklich dabei. Aber nun braucht er keine Angst mehr zu haben, und schon ist er ein anderer Mensch. Eine interessante Studie.  

Auch für die Westmedien ist die Reihe „Klartext“ natürlich interessant, es erscheinen Artikel im „Spiegel“ und in anderen westlichen Zeitungen, und das ist zur Zeit der höchste Adel, den sich meine Kollegen vorstellen können (an mir geht das logischerweise bisher vorbei, deshalb weiß ich nicht, ob ich, läse ich meinen Namen im „Spiegel“, auch so vor Wonne zerfließen würde).  

Da ich aber doch irgendetwas tun muß, habe ich ein Thema vorgeschlagen, das  nun zunehmend alle möglichen Leute als ein Problem betrachten.  

Ich denke, die Fairness verlangt, dass wir Journalisten nicht nur andere über den Tisch ziehen, sondern uns auch zu unseren eigenen Leichen im Keller bekennen. Und so habe ich einen „Klartext in eigener Sache“ vorgeschlagen, einen Beitrag über unseren eigenen Anteil an dem Versagen der Medien in unserem Land, dargestellt an der Reihe „Wettlauf mit der Zeit“, jener perfekten, von Politbüromitglied  Mittag persönlich betreuten Schönfärberei, die exakt jene Truppe fertigte, die jetzt „Klartext“ macht. Ich habe von diesem meinem Tagebuch als möglichem Roten Faden besprochen, und da niemand weiß, was da drin steht, sind zumindest die ehemaligen Chefs verständlicherweise nervös.  

Einer der Stellvertretenden Bereichsleiter, der bewusste, mit dem ich im Oktober das hier in Auszügen protokollierte Gespräch hatte, versuchte sofort, mir  das Vorhaben auszureden. Das interessiere niemand, die Sendungen, damals Hauptvorhaben der Publizistik, hätten doch nur 1 bis 2 Prozent der Zuschauer gesehen. Und wenn ich die alten Dinge schon ans Licht zerren wollte, dann vielleicht in Form eines offenen Briefes innerhalb des Fernsehens. Er selbst sei  übrigens bereit, seinen Orden „Banner der Arbeit“, den er für die Reihe „Klartext“ erhielt, zurückzugeben.  

23.12.89    
Drei Wochen Pause sind heutzutage eine geradezu epochale Distanz. Gestern wurde mit großem Brimborium nun auch die Mauer am Brandenburger Tor geöffnet. Modrow und Kohl waren da, flankiert von den Bürgermeistern und Außenministern, natürlich Tausende von Menschen, wir hatten uns mit unserem Fernsehausweis bis in Sichtnähe vorgearbeitet, ich grübelte die ganze Zeit, ob die doch alle schon betagten Prominenten den strömenden Regen auf ihre unbedeckten Häupter wohl unbeschadet überstehen würden. Wir sind dann einmal durchgegangen durchs Tor, haben es berührt, haben ein paar hektisch nach „Einheit“ Schreiende neugierig aus der Nähe betrachtet und sind in dem Bewusstsein nach Hause gefahren, bei etwas Wichtigem dabei gewesen zu sein.  

Ein noch bedeutenderes Tagesereignis: Die Rumänen sind dabei, sich zu befreien. Noch dauern die Kämpfe an (die Sicherheitspolizei hält zu Ceausescu, obwohl der schon verhaftet sein soll), es hat Hunderte oder sogar Tausende Tote gegeben, aber es sieht so aus, als würde sich am Ende alles zum Guten wenden.  

Die SED hat ihren Sonderparteitag gestaltet, in zwei Etappen, jeweils am Wochenende, um keine Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen. Nach anfänglich chaotisch anmutender Verfahrensrangelei einigte man sich auf einen alten ,neuen Namen (SED – Partei des Demokratischen Sozialismus), auf  konsequente Loslösung vom bisherigen Modell des stalinistischen Sozialismus und auf den Vorsitzenden Gregor Gysi. Letzteres könnte die Partei retten. Gysis Ausstrahlung ist so groß, dass er dem Volk vermutlich alles Mögliche schmackhaft machen könnte, auch  das, was ihm eigentlich überhaupt nicht gut tut.  

Andere Parteien haben sich ebenfalls konstituiert bzw. Parteitage abgehalten, SDP, CDU, Demokratischer Aufbruch, Neues Forum. Alle durch die Bank wirken sie untermaßig, zerfahren, kaum einer ihrer Führer zeigt Profil, zumindest nicht so wie das SED-Triumvirat Gysi-Modrow-Berghofer. Am sogenannten „Runden Tisch“, an welchem sich alle Parteien und eine Reihe anderer gesellschaftlicher Gruppen zusammenfinden, zerfleischen sie sich stundenlang in Verfahrensfragen, bevor endlich die sachlichen Dinge zur Sprache kommen, es ist ein böses Bild. Möglicherweise müssen die Dinge so laufen, wenn ein Volk Demokratie erlernt, aber der lachende Sieger bei all dem könnte die noch immer straff organisierte und mit eindrucksvollen Leuten ausgestattete SED sein. Bei der ersten echten Meinungsumfrage in unserem Land war sie denn auch folgerichtig bereits wieder die beliebtste Partei (um die 15 %, alle anderen kamen nicht über 10%).  

Die Montagdemonstrationen in Leipzig tragen immer mehr den Stempel von Befürwortern einer schnellen Einheit Deutschlands. Dagegen verwahrten sich die Urheber dieser Demonstrationen, was zu  zusätzlichen Spannungen führt.  

Apropos Spannungen: Stasi-Burgen wurden gestürmt, ein Kumpel aus Leipzig, Kripo-Offizier, rief mich an und bat um Hilfe, weil die Leute drohten, auch Polizeigebäude zu besetzen, andrerseits berichtete mein Freund E. aus Potsdam, es herrsche geradezu eine Pogromstimmung gegen SED-Mitglieder, und bei uns im Fernsehen drohten Stasi-Anhänger in anonymen Anrufen, den Sender zu stürmen, wenn weiterhin aufputschende Enthüllungen über ihre Praktiken gezeigt würden.  

Die Stimmung im Volk ist so explosiv, dass wir meinten, das Fernsehen müsse zunächst, natürlich ohne den Reinigungsprozeß zu unterbrechen oder gar zu behindern, darauf verzichten, durch Enthüllungsbeiträge noch Öl ins Feuer zu gießen. Mit ein paar Kollegen habe ich einen Aufruf in dieser Richtung formuliert und ausgehängt. Im Großen und Ganzen ist er begrüßt worden, denn zur Zeit haben viele Leute Angst, dass es irgendwo knallen könnte, und dann würde alles aus der Kontrolle geraten.  

Inzwischen glauben wir allerdings, dass die Lage sich in dieser Hinsicht entkrampft hat. Das Ministerium für Staatssicherheit, das zunächst in Amt für Nationale Sicherheit umbenannt worden war, ist auf Empfehlung des Runden Tisches aufgelöst worden.  

Die Regierung Modrow rotiert, vorzugsweise gemeinsam mit BRD-Wirtschaftsexperten, um die völlig marode Wirtschaft in Gang zu bringen.  

Bundeskanzler Kohl war hier, kurz darauf Frankreichs Staatspräsident Mitterand. Mehr noch als für uns, die wir in erster Linie an wirtschaftlichen und DDR-innenpolitischen Themen interessiert sind, spielt für die BRD und das Ausland die Einheitsfrage eine Rolle. Die BRD will die Einheit möglichst schnell vollziehen, das gesamte Ausland hingegen, auch übrigens die Russen, was in diesem Zusammenhang wichtig ist, will sie hinausschieben, bis Europa als Ganzes zusammengewachsen ist. Die Gründe der Ausländer sind naheliegend – Angst vor der wirtschaftlichen und militärischen Stärke des vergrößerten Deutschlands, Veränderungen des Gleichgewichts in Europa, das Gefüge der Blöcke gerät durcheinander.   

Nach dem Umfrage-Ergebnis will der größte Teil unserer Bevölkerung doch lieber zunächst für sich bleiben. Hauptgründe sind vermutlich die sozialen Sicherheiten in diesem Teil Deutschlands. Die Einheitsbefürworter scheinen in der Minderzahl zu sein, aber sie sind aktiver und lauter und deshalb in den Medien überproportional vertreten, zumindest in den Westmedien.  

Da die SED gegen eine schnelle Einheit ist und sie praktisch nach wie vor die Medien regiert, hört man in unserem Fernsehen kaum einmal sachliche und fundamentierte Argumente für die Einheit.  
Alles in allem herrscht zur Zeit ein ziemlicher Wirrwarr. Auch mir fehlen genaue Zielvorstellungen. Noch ein Sozialismusexperiment will ich nicht mittragen, für einen gutfunktionierenden, sozial abgefederten Kapitalismus haben wir zu schlechte Voraussetzungen. Die Einheit Deutschlands halte ich eigentlich für etwas Natürliches, aber die weltpolitischen und auch sozialen Komponenten eines schnellen Anschlusses an die BRD sind mir durchaus gegenwärtig, ich weiß tatsächlich im Augenblick nicht, was ich will. Und ich weiß auch nicht, wen ich wählen soll, wenn Anfang Mai, wie es auf Empfehlung des Runden Tisches geschehen soll, die Parteien erstmals zu einer demokratischen Wahl antreten.  

Das geringste Chaos verspricht zur Zeit wirklich noch die SED, weil ihr alter Apparat noch funktioniert und ihre Spitzenleute sich in den Jahren der Macht profilieren konnten. Aber darin liegt auch genau  das Argument, sie nicht zu wählen – diese Leute, wenn sie wieder an der Macht sind, werden logischerweise dasselbe tun, was sie taten, als sie die Macht noch in Händen hatten. Es widerspräche jeglicher menschlicher Erfahrung, täten sie es nicht.  

Also wen wählen? Vielleicht gar nicht? Unvorstellbar, dass man seine Stimme nicht nutzt, wenn man nach Jahrzehnten erstmals über eine Stimme verfügt. Sehr, sehr kompliziert, das Ganze.  

Ich habe neulich orakelt, dass jetzt und in den nächsten Monaten Geschichte sich vollzieht nach Gesichtspunkten und Gesetzen, die niemand voraussagen kann. Dass die Dinge in unserem Land sich vorwärtsarbeiten wie ein Rinnsal, das sich seinen Lauf  durchs unebene Gelände sucht, ohne dass man seinen Verlauf vorher genau bestimmen könnte. Erst hinterher erkennt man, weshalb es hier links und dort rechts und da im Bogen verlief, und warum das Wasser am Ende dort ankam, wo es jetzt langfließt. Denn ein breites , deutlich erkennbares Bett für die Entwicklung dieses Landes gräbt zur Zeit niemand.  

Morgen übrigens, zu Heiligabend, gibt es einen neuen Meilenstein: Westberliner und Bundis können ohne Visum und Zwangsumtausch zu uns kommen. Wir rechnen damit, dass sie uns kahl fressen bei dem Währungsgefälle und damit alles noch mehr durcheinanderbringen, als es das ohnehin ist.

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