Die kleine Geschichte des Films (verfasst im Jahr 1959)
1959 war es für Taschenbuchverlage noch sehr aufwendig, die Texte ausführlich und komfortabel lesefreundlich zu bebildern. Jedes Bild musste aufwendig positioniert werden und der Text hätte dann nicht mehr verändert werden können. Darum waren die raren Bilder oft in der Mitte auf 10 oder 20 Seiten am Stück gebündelt - so auch hier. Weiterhin wurden bei der Überarbeitung mißverständliche Formulierungen und sonstige Fehler verbessert sowie Kommentare ergänzt.
Dieses Kapitel hat mit der Technik des Films und des Kinos weniger zu tun und ist mehr wegen der Vollständigkeit der Kapitel enthalten.
Kapitel III
VON DER WINKELKUNST ZUR KUNST (1906 bis 1916)
Die neue Erfindung schien "dort, wo" sie sich jetzt breit gemacht hatte, in den Vorstadtvarietes, auf den Rummelplätzen, Messen und Jahrmärkten, den endgültigen Ort ihrer Bestimmung gefunden zu haben. Zwar, das Interesse in den Großstädten stumpfte merklich ab, das „lebende Bild" wurde zu einer Sensation von gestern, dafür bot sich aber der beinahe noch unerschlossene Markt der Mittel- und Kleinstädte, der Dörfer und des flachen Landes an.
Man mußte diesen Markt bereisen, der Kino Vorführer blieb „ambulant", auch wenn er jetzt schon ein Programm zusammenstellen konnte - mit Schicksalsdramen und neuesten Weltbegebenheiten -, das es ihm erlaubte, von Messe und Markt unabhängig zu sein.
Kultur und Bildung aufs Land bringen
Eigentlich war es doch Kultur und Bildung, die er aufs Land brachte, und die ganz Kühnen nannten sich auch schon „Wandertheater". Ihnen fiel es nicht schwer, etwa von den Schulen die Erlaubnis zu bekommen, in der Turnhalle (gegen einen blanken Zehner pro Nase) ihre Künste zu zeigen, wenn sich darunter die Verfilmung von Schillers „Glocke" befand.
Andere dieser wandernden Unternehmer rechneten noch mehr mit der Sensation: sie kurbelten irgendein Ereignis des Städtchens, die Fronleichnamsprozession oder den Empfang des Erbprinzen zur Einweihung des Heimatmuseums, herunter, um es zwei Tage später den erstaunten Mitwirkenden im Film vorzuführen. Natürlich waren dies nur Streifen von ein paar Minuten Dauer - aber lang genug, die Neugier auf das übrige Programm zu wecken.
Und dieses übrige Programm bestand aus einem wahren Kunterbunt. Noch immer war es ja so, daß der Vorführer - oder nennen wir ihn Theaterbesitzer - die Filmkopie direkt vom Produzenten kaufte; sie ging damit in seinen Besitz über, und er konnte sie so oft und so viele Jahre abspielen, als er Lust hatte.
Gekaufte Filme wurden verändert
Der Produzent, der seine Kopie verkauft hatte, verlor damit auch jede Kontrolle darüber, was weiterhin mit ihr geschah. Von dem reinen Betrug abgesehen, daß man mit ihrer Hilfe ein neues Negativ und also beliebig viele neue Kopien herstellen konnte (ein Verfahren, das mit ausländischen Filmen gern gemacht wurde, denn der Original-Produzent hätte die Sache nur unter großem Kostenaufwand überprüfen können), davon abgesehen also, ließen sich die Besitzer mit ihrem Eigentum der Kopie noch manches andere einfallen.
Sie schnitten z.B. Szenen heraus, war ihnen die Ortschaft zu prüde, oder sie fügten neue Szenen hinzu, erschien ihnen das „Sujet" zu lahm. Diese neuen Szenen entnahmen sie einfach ihrem älteren Material, der Unterschied wurde kaum bemerkt.
Nach einigen Monaten Vorführung war jeder Streifen gleich stark „verregnet". Aber man kann sich vorstellen, was aus den ursprünglichen Werken geworden war. Bald kamen die Vorführer auch auf den Gedanken, die Kopien, die ja ihr Eigentum waren, bei ihrem Kollegen aus der nächsten Stadt gegen andere umzutauschen oder sie ihm, sollte er nichts Passendes vorrätig haben, zu verkaufen.
Über den "betrogenen Produzenten"
Kurz, kein Weg, den Produzenten zu umgehen, blieb unentdeckt. Doch keine Angst: dem also betrogenen Produzenten ging es deshalb nicht schlecht, er wußte sein Risiko einzukalkulieren. Die Filme wurden in den Ateliers nur so heruntergedreht. Einen ganzen Vormittag für ein einziges „Sujet" zu verschwenden, das grenzte schon an Vergeudung. Zwei Kulissenwände im rechten Winkel zueinandergestellt, den Darstellern gesagt, um was es sich so ungefähr „handelte", den Scheinwerfer auf, und die Aufnahme konnte beginnen ... - Die Kulissen umgestellt, die Darsteller umgezogen, und das nächste Sujet war an der Reihe. Die Kosten verteilten sich ...
Noch nach Jahren, als man gewiß anspruchsvoller geworden war, beliefen sich die reinen Herstellungskosten des Meßterfilmes „Die kitzlige Jungfrau" mit Henny Porten auf ganze fünfundzwanzig Mark, die Gage der Künstlerin inbegriffen!
Damals schon der Slogan: Die Masse machts
Die Masse brachte es. Sie mußte es auch für den Kinobesitzer bringen; deshalb überboten sie sich gegenseitig in der Fülle ihres Programms, bei starker Konkurrenz zeigten sie, für ein einziges Eintrittsgeld, bis zu zwanzig verschiedene Titel; wußten sie sich auf ihrem Gebiet allein, so fütterten sie das Publikum weniger reichlich.
Damit nun aber das Durcheinander der Darbietungen nicht gar zu bunt und nicht jeder Willkür preisgegeben wurde - auch dies ein Gegenstand der Anklage der Kinogegner -, einigten sich die Theaterbesitzer auf eine „Normalformel für Programmzusammenstellungen", die eine Beschränkung auf zwölf Teile in folgendem Ablauf empfiehlt:
1. Musikpiece
2. Aktualitäten
3. Humoristischer Einakter
4. Drama
5. Komisches
6. Pause
7. Allgemeines
8. Naturaufnahmen
9. Drastisch-Komisches
10. Die große Attraktion
11. Wissenschaftliches
12. Derb-Komisches
Dieser Vorschlag, der manchem sonst hilflosen Theaterbesitzer eine Faustregel gegeben hat, stammt aus dem Jahre 1910, ungefähr dem Höhepunkt der Epoche, die der Berliner Sprachwitz das „Kintopp" nannte.
Kino und Film waren immer noch verrufen
Den oder das „Kintopp" zu besuchen, galt in der gut bürgerlichen Welt als unfein, es „schickte sich" einfach nicht, und als Vergnügungsstätte stand es etwa in dem gleichen Verruf wie die Spielautomatenhalle fünfzig Jahre später.
Ein Treffpunkt der Halbwüchsigen des Viertels, durch sein angenehmes Dunkel eine beliebte Gelegenheit für Liebespaare, die nach zwei Stunden durch die Stimme der Platzanweiserin: „Billet Nr. 3 ist abgelaufen" aus ihrer Versunkenheit gerissen wurden, und durch die Art seiner Darbietungen eine „Stätte des Lasters" und eine „Schule der Verderbnis".
Vom „Kintopp" zum Filmtheater
Das „Kintopp" war eine notwendige Durchgangsstation auf dem Wege des Films. Er hatte als eine technische Sensation begonnen, er bewies, daß man das Leben „abfotografieren" konnte, und da wollte er natürlich nicht mit der Gewöhnlichkeit des Alltags aufwarten (die jedermann zu kennen glaubte), sondern mit seiner Ungewöhnlichkeit, mit seinen Phantasien (man erinnere sich an Melies), seinen Abenteuern („Der große Eisenbahn-Raubüberfall"), seinen Verbrechen - steckt nicht hinter jeder klassischen Tragödie eine Untat?
Sieht man vom „Humoristischen" und „Derb-Humoristischen" ab, bestand der Kern aller Filmhandlungen in einer solchen Abseitigkeit. Dazu kam der Blick auf das Publikum, diesem untrüglichen Kennzeichen des Erfolgs eines jeden Produzenten. Filme wurden für den Jahrmarkt hergestellt, der Stätte, die nur von Übertreibungen und Superlativen leben kann.
Die erste Filmkrise ab 1908
Nach dem ersten Filmjahrzehnt (1896 bis 1906) machte sich die erste Filmkrise bemerkbar. Die Ermüdung von der Sensation. Die Produzenten in aller Welt - noch läuft die Entwicklung in allen Kulturländern parallel ab, noch ist der Film stumm, also a priori international, und noch sind ihm die nationalen Intelligenzen an Autoren, Regisseuren und Darstellern nicht verpflichtet - begannen sich nach neuen Themen umzusehen. Sie fühlten, daß es anderer Anstrengungen ihrerseits bedürfe, das Interesse des großen zahlenden Publikums wach zu erhalten.
Als einen typischen Ausdruck dieses Gefühls darf man eine Annonce der Edison-(Filmverkaufs)- Gesellschaft, Berlin, betrachten, die sie ins Fachblatt der Artisten „Das Programm" (Nr. 250) 1907, hatte einrücken lassen:
„Unser Geist ist gefüllt mit Films, unsere Films sind voller Geist.
Wir lassen unser Gehirn fortwährend arbeiten, um unsere Films zu verbessern, trotz der Tatsache, daß sie bereits die besten sind.
Wir zahlen mehr für unsere Aufnahmen, weil es mehr kostet, das zu bekommen, was wir verlangen.
Wir verlangen Films mit Geist darin, Films, die Bedeutung haben, voller Leben, originell, unique und der Menge gefällig, jene Sorte, welche das warme rote Blut durch die Adern der Zuschauer jagt.
Das ist die Sorte, welche wir fabrizieren, das ist die Sorte, welche wir Ihnen verkaufen, sobald Sie überdrüssig werden der alten, immer kopierten, immer schlecht arrangierten Sujets, für welche Sie gutes Geld zahlen mußten.
EDISON GESELLSCHAFT Berlin N. Südufer 25"
Diese Anzeige ist deshalb so allgemein in ihren Versprechungen gehalten, weil die Gesellschaft selber noch nicht wußte, wohin die Tendenz - auch ihrer „Films" - gehen würde. Daß sie „voller Geist" sein würden, ohne jedoch das „warme rote Blut" der Zuschauer zu verleugnen, versteht sich, wie auch heute noch, von selbst.
Weltliteratur verfilmen sei „Bildung" ins Volk bringen
Nun, in den nächsten Jahren zeigte es sich, daß die Tendenz zum Theater ging. Nichts lag näher als der Gedanke, die unausschöpflichen Vorräte der Bühne auszuwerten, das Theater der Weltliteratur zu verfilmen. Außerdem würde man auf diesem Wege „Bildung" ins Volk bringen, man würde dem Vorurteil der „Lasterhöhle" begegnen - und wer weiß, am Ende mochte es sogar gelingen, die hochmütig abseitsstehenden Schichten des Bürgertums, diese soliden Stützen der Stadt- und Hoftheater, für den Film zu gewinnen.
1907 - Die Zwischentitel im Film
Mittlerweile hatte der Film einen Fortschritt gemacht, der ihn endlich auch äußerlich von den anderen Jahrmarktsattraktionen unterschied:
Im Jahre 1907 taucht der Zwischentitel auf, die Filmhandlung wird jetzt nicht mehr durch einen Ansager erklärt, sondern durch eingeschobene Texte (in der Pinselschrift des Jugendstils) erläutert. Dies bedeutete nicht nur eine angenehme technische Verbesserung, sondern auch eine unschätzbare ideelle, denn die Erläuterungen konnten nunmehr authentisch vom Filmschöpfer festgelegt werden, sie blieben nicht mehr dem Mutterwitz oder der Einfallslosigkeit des jeweiligen Ansagers überlassen - einer Type, die, wenn sie sich auch noch so verfeinert hatte, doch die Atmosphäre des Rummelplatzes mit sich brachte. Und es ist sicher, daß solche komplizierteren Vorgänge wie die der herzerweichenden „Kameliendame", die jetzt an der Reihe war, einen doch halbwegs zutreffend authentischen Text verlangten. In Deutschland protestierte zwar der „Klub der Rezitatoren" aus naheliegenden Gründen gegen die Neuerung, aber sie setzte sich dennoch durch.
Auch damit gab es viel Lernbedarf
Allmählich - um diese Abschweifung zu machen - lernte man mit diesen Zwischentiteln umzugehen. Sie wurden nicht nur typographisch dem Charakter des Films angepaßt, also stilistisch mit ihm als eine Einheit genommen (gotische Buchstaben beim „Faust"), sondern auch inhaltlich. Es gab Zwischentitel im Telegrammstil (für Kriminalfilme), im Versmaß der Jamben (für Liebestragödien), und es gab keck gereimte (für flotte Lustspiele). Der Ehrgeiz der Dramaturgen ging dann allmählich dahin, die Zwischentitel völlig überflüssig zu machen.
Als Ideal schwebte ihnen eine Filmhandlung vor, die ohne jedes Hilfsmittel allein aus dem Ablauf der Bilder verständlich wäre. Auf der Höhe des Stummfilms, 1921, wurde dies Ideal beinahe erreicht: der von Leopold Jessner inszenierte Film „Hintertreppe" (mit Henny Porten, Fritz Kortner und Wilhelm Dieterle) kam mit drei oder vier Zwischentiteln aus, „Scherben", von LupuPick inszeniert (mit Werner Krauß), sogar nur mit einem einzigen.
Vom Theater abgeblockt oder verschmäht
Zunächst verlief das Liebeswerben des Films um das Theater recht negativ. Die Schauspieler hielten es weit unter ihrer Würde, bei dem verachteten „Kintopp" mitzuwirken, und wenn sie sich einmal dazu herabließen, dann bitte nur unter der Bedingung, daß ihr Name nicht genannt wurde; sie hätten sich um jeden Kredit, um jedes künstlerische Ansehen gebracht.
Nur auf diese Weise war Jakob Tiedtke zu bewegen, bei Meßter - der noch zur Erfindergeneration des Films gehörte und dessen Firma neben seinen Filmgeräten gleich auch die dazugehörenden Filme lieferte - einige Lustspielchen abzudrehen. An der Kamera stand Carl Froehlich, der als Elektriker in den Meßterschen Ateliers begonnen hatte. Er sollte zu einem weltberühmten Regisseur aufsteigen. Damals blieben nicht nur die Schauspieler anonym, sondern auch die technischen Helfer und Bezwinger des Films, von Regie war noch nicht die Rede.
Durchschnittliche mimische Begabung war ausreichend
Der „Fall" Jakob Tiedtke blieb eine Ausnahme; da die Bühnendarsteller sich weigerten mitzumachen, mußten sich die Produzenten „ungelernte" Kräfte suchen. Zum Glück brauchten diese ja nicht sprechen zu können, die durchschnittliche mimische Begabung reichte völlig aus, heftiges Gestikulieren genügte, um auszudrücken, was auszudrücken war. Auf diese Weise haben einige der prominentesten Filmstars ihre Karriere begonnen, ohne jemals vorher auf der Bühne gestanden oder einen Schauspielunterricht genossen zu haben.
Beispiel Henny Porten
Das deutsche Beispiel ist Henny Porten, das amerikanische Mary Pickford. Beide kamen als ganz junge Mädchen unmittelbar zum Film. Auch diese Direktmethode hatte ihre Vorteile: diese Darsteller wurden mit der Kamera groß, sie stellten sich ganz auf die technischen Gegebenheiten des Filmens ein, ihr einziger Lehrmeister war das Atelier, und unbeschwert von den Kenntnissen der Gesetzmäßigkeiten der Bühne brauchten sie diese nicht zu vergessen, sie brauchten sich nicht „umzustellen" - immer ihre Begabung vorausgesetzt.
1908 - Vom Sprechtheater zum „Filmtheater"
Man schreibt das Jahr 1908. Immer mehr Wanderkinos breiten sich im Lande aus, immer sicherer finden aber auch die „ortsfesten" Theater Zuspruch und Verdienst. Und so manches nicht von einer Stadt oder vom Staat subventionierte Sprechtheater, meist solche, in deren Spielplan sich Operetten, Lustspiele und Varieteprogramme abwechselten, stellte sich ganz auf den Film um, das heißt, es verwandelte sich in ein „Filmtheater". Das war nur klug, denn ihre Direktoren hatten erkannt, daß die billigeren Plätze mit jeder Saison schlechter verkauft wurden, das ärmere Publikum wanderte zum Kino ab. Das Defizit blieb bei den Theatern.
Vom Film „zugrunde gerichtet"
Auf der Versammlung des Deutschen Bühnenvereins 1908 in Eisenach kam zur Sprache, daß allein innerhalb des letzten Jahres neunundzwanzig private Sprechtheater ihre Pforten geschlossen und dem Film geöffnet hätten. Für den Bühnenverein waren diese Unternehmen „zugrunde gerichtet", selbstverständlich durch das konkurrierende Kino, und deshalb beschloß die Versammlung, „gegen die Mitwirkung von Bühnendarstellern im Film" zu protestieren. Man glaubte, das sei Abwehr genug. War mit diesem Boykott dem Film nicht einfach das Lebenslicht ausgeblasen ?
Anmerkung:
Sprach man 1956/58 davon, das Fernsehen hätte den Film und damit auch die Kinos zugrunde gerichtet, so ist hier um 1908 der Film der Bösewicht, der das Theater zugrunde gerichtet hätte. Doch das war - wie immer - nur die halbe Wahrheit, wenn dabei überhaupt von Wahrheit gesprochen werden darf.
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In Frankreich den umgekehrten Weg
In Frankreich ging man im gleichen Jahr den umgekehrten Weg. Die Theaterschauspieler und Regisseure sagten sich: „Wenn schon Film, dann bitte nicht ohne uns", und „der Film kann nur besser werden, wenn wir mitmachen". Also gründeten sie eine Gesellschaft, die „Film d'Art", mit dem Ziel, den „künstlerischen" Film zu schaffen. Die besten Autoren, die besten Regisseure, die besten Darsteller sollten zusammenarbeiten, um zu beweisen, daß der Film etwas anderes und besseres hervorzubringen imstande sei als die gewohnten Fünf-Minuten-Dramen.
1908 - Die Brüder Lafitte
Die Initiatoren der neuen Gesellschaft, die Brüder Lafitte, hatten sich der Mitwirkung der Stars der „Comedie Francaise" versichert, die weltberühmte Sarah Bernhardt unter ihnen. Die Alleinrechte des Vertriebs lagen bei Pathe. Hier konkurrierten Bühne und Film nicht, hier arbeiteten sie Hand in Hand - wenn auch nur für kurze Zeit, denn für den „Film d'Art" war es noch zu früh, noch wußte man nicht, daß Bühne und Film zweierlei seien, daß der Film nach anderen dramaturgischen Gesetzen verlangt als ein Theaterstück.
Wie meist bei solchen Gründungen, war der erste Wurf der beste. Vielleicht, weil er am liebevollsten vorbereitet, am ausgiebigsten durchdiskutiert worden war. Der Film hieß „Die Ermordung des Herzogs von Guise", und seine begeistert aufgenommene Premiere, im Dezember 1908 in Paris, wurde als ein kulturelles Ereignis gefeiert. Der Schriftsteller Henry Lavedan hatte das Filmmanuskript geschrieben, das Mitglied der „Comedie", der Schauspieler Le Bargy, die Inszenierung (und eine Hauptrolle) übernommen, der Komponist Saint-Saens eine eigene Musik dazu geschrieben. Die Schöpfer dieses Films besaßen auch schon eine Art richtiger Empfindung dafür, daß sich ihr Werk ebenso wie von den bisherigen Pathe-Atelier-Erzeugnissen auch vom Theater unterscheiden müsse.
Noch war der Film ein "Stummfilm", das Theater dagagen "sprach"
„Immerhin", schreibt Sadoul, „hatte Le Bargy, der ein intelligenter Schauspieler war, über die Probleme der stummen Kunst nachgedacht. Er wollte das Wort durch die Mimik ersetzen, ohne in die Konventionen der Pantomime oder in die Gestikulation zu fallen. Er schrieb seiner Truppe langsame, bedächtige, ausdrucksvolle Bewegungen vor. Und die fast gänzliche Unbeweglichkeit, die er momentweise annahm, steht im Gegensatz zur Unruhe der Gestalten Melies ...
Seine psychologische Studie (als Darsteller des verräterischen Königs) ist chargiert bis in ihre Nüchternheit hinein, die mit der >Nüchternheit< eines Jannings oder Charles Laughton verglichen werden kann... Diese psychologische Analyse einer Persönlichkeit war damals für den Film etwas ganz Neues. Deshalb kam die Lehre Le Bargys den ausländischen Schulen und vor allem den Amerikanern zugute, deshalb wurde >Die Ermordung des Herzogs von Guise< von Griffith und später von Carl Th. Dreyer als ein Meisterwerk begrüßt.
Das Wesentliche des Theaters ist der Kontakt mit dem Publikum
Le Bargys Versuch blieb eine Einzelleistung, denn schon die nächsten Produktionen der „Film d'Art"- Gesellschaft fielen wieder in die alten Tendenzen zurück, und zunächst sollte noch einmal das Prinzip, die Bühne möglichst naturgetreu zu kopieren - mit ihrem geheiligten Darstellungsstil, versteht sich -, triumphieren. Und je prominenter der Bühnenstar, der für den Film gewonnen wurde, desto sicherer bestand dieser auf seiner „Kunst". Der Film hatte ihn doch wohl nicht eigens geholt, daß er sie verleugne? Jedoch vor die Kamera gestellt, verlor er ein gut Teil seiner Selbstsicherheit, denn ihm fehlte dort etwas Wesentliches: der Kontakt mit dem Publikum. Auf der Bühne konnte er fühlen und spüren, wie die Wogen der Zustimmung auf ihn zukamen, konnte er im Rausch des Beifalls die Größe des Augenblicks auskosten, diese ihm unentbehrliche Droge der Anfeuerung genießerisch zu sich nehmen.
Im Atelier oder Filmstudio sei es schlimm für einen Schauspieler
Nichts dergleichen im Atelier. Er spielte, schlimmer noch als vor einem gähnend leeren Hause, vor einigen respektlosen Technikern, deren ganze Sorgfalt den unverständlichen Apparaten galt und nicht ihm, dem unerreicht großartigen Darsteller menschlicher Schicksale. Vor der Stummheit und Kälte des Ateliers verlor auch er schließlich den Maßstab, und statt sie zu dämpfen, übersteigerte er seine Kunst; da seine Worte nutzlos verhallten, übertrieb er seine Gesten, ähnlich wie der Opernsänger übertreibt, der weiß, daß man kein Wort seines Gesanges versteht und der deshalb die entsprechende Gestikulation macht. Deshalb sollte man den Theaterstil dieser ersten Filme richtiger einen Opernstil nennen.
Also doch nur "das Theater fotografieren" ?
Wenn einige dieser Filme, besonders „Queen Elizabeth" mit Sarah Bernhardt in der Titelrolle, Erfolge wurden, dann nicht etwa, weil sie in künstlerisches Neuland vorstießen, sondern im Gegenteil, weil sie das altbewährte Theater fotografierten, um auch dem Mann auf der Straße endlich den Genuß verschaffen zu können, die gefeierte Künstlerin - den ersten Star, dem man das Beiwort „göttlich" zubilligte - in einer Theaterglanzrolle zu sehen.
1912 - Sarah Bernhardt - die „göttliche Sarah" ?
Wer niemals daran denken konnte, die „Comedie Francaise" zu besuchen, hier war ihm die Gelegenheit dazu geboten. Die „göttliche Sarah" hatte im Lauf ihrer glanzvollen Karriere, die sich jetzt, 1912, ihrem Ende näherte, auch in Amerika viele Gastspiele gegeben und dort erst recht nur für die oberen Zehntausend gespielt. Ihr Ruhm und ihre Popularität waren dort so groß, daß es Adolph Zukor (der Begründer der Paramount) wagen konnte, für die Rechte des Alleinvertriebs ihres Films in Amerika die phantastisch hohe Summe von vierzigtausend Dollars zu zahlen. Dieses Geld wurde nebst dem erwarteten Gewinn wieder eingespielt.
Das ist aber auch das einzig Filmhistorische an der Transaktion, filmkünstlerisch bedeuten diese Theaternachahmungen nur einen Abweg, keinen Fortschritt. Sie waren ein Erfolg der Neugier. Das Mißtrauen gegen die Erzeugnisse der „Flimmerkiste" wurde durch sie nicht im geringsten vermindert.
Der deutsche Kampf zwischen Bühne und Film
In Deutschland gingen die Auseinandersetzungen unter den feindlichen Brüdern Bühne und Film heftig weiter. Publizistisch befand sich dabei das Theater im Vorteil, denn neben fast allen namhaften Schriftstellern und Kulturkritikern hatte es die Pädagogen auf seiner Seite. Die Leute vom Film konnten nur in aller Selbstverständlichkeit auf die schnell und sicher wachsenden Besucherzahlen ihrer Theater hinweisen.
Ihre Geduld wurde aber auf eine harte Probe gestellt, als der Bühnenverein bei jener Jahres-Versammlung, 1908, nicht bloß seinen Mitgliedern verbot, bei Filmen mitzuwirken, sondern vom Staat auch die Einführung einer „Kinosteuer" verlangte, deren Einkünfte den Sprechtheatern zugute kommen sollte. Selbstverständlich klang das Wort „Steuer" dem Fiskus angenehm in den Ohren, und das Stichwort für die „Lustbarkeitssteuer", die man später weniger pathetisch „Vergnügungssteuer" nannte, war gefallen.
Der harte Kampf bis unter die Gürtellinie
Der Entwicklung des Films tat sie übrigens keinen Abbruch, denn sie wurde ja dem Eintrittspreis zugeschlagen, also auf den Zuschauer abgewälzt. Aber die neue Steuerschikane trug nicht unwesentlich zur Verschärfung des Tons der jahrelang dauernden Auseinandersetzung bei. Daß sich die Filmtheaterbesitzer dann bald zu einem „Schutzverband" zusammenschlossen, beweist, wie hart auf hart der Kampf ging. Der Tenor der Leitartikel der Filmfachpresse besagte - nach Zglinicki: „Wenn das Publikum das Theater meidet, so ist nicht das Kino daran schuld, vielmehr die Tatsache, daß das Publikum klug genug ist, sich für sein Geld nicht mehr liederliche und unsaubere Theaterarbeit aufhängen zu lassen, wenn es im Kino für weniger Geld Gewissenhafteres zu sehen bekommt."
Nun, in diesem Ton ging es auch nicht. „Liederlichkeit" dem Theater vorzuwerfen und „Gewissenhaftigkeit" für den Film zu beanspruchen, hieß doch beinahe, die Verhältnisse auf den Kopf stellen.
Das Kino (bzw. der Film) in seinen Flegeljahren
Die geradezu unheimliche Anziehungskraft der Kinos und ihrer Filme, so schlecht sie nun einmal waren, hatte sich schnell herausgestellt und bildete ebenso bald einen Gegenstand der Sorge der Pädagogen. Bereits im Jahre 1907 setzte die „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens" in Hamburg eine „Kommission zum Studium der Wirkung des Kinematographien" ein - man kann sich denken, daß ihre Mitglieder nicht viel Positives werden berichtet haben können, es sei denn, sie seien bei ihrem Studium auf die „Films voller Geist" der Edison-Gesellschaft gestoßen.
Spaß beiseite: die Sorge der Erzieher war durchaus berechtigt, das Kino tobte sich in seinen Flegeljahren aus, und der Zusammenstoß beider Flegeljahre, nämlich der seiner leidenschaftlichsten Besucher, verlief nicht immer glücklich. Gesetzliche Maßnahmen „zum Schutze der Jugend" gab es noch nicht, sie waren erst das Ergebnis der Arbeit der Volkserzieher und ihrer Verbände, der Kirchen, der Frauenorganisationen, des Dürerbundes und auch der Sittlichkeitsvereine, welch letztere nicht nur in Lustspielen, sondern auch in der Wirklichkeit existierten.
Die Ideal-Vorstellung - ein deutsches Oberlehrer-Ziel
Das Ideal all dieser gegen das damalige Kino gerichteten Interessen wäre gewesen, daß der Film sich ausschließlich den „Lehr- und Unterrichtszwecken" zur Verfügung gestellt und daß er die „Unterhaltung" den Sprechtheatern, wie bisher, überlassen hätte. Ein deutsches Oberlehrer-Ziel, das aber doch die ganze positive Arbeit der Reformkinos, der „Urania"-Muster(film)-bühnen, des „Ersten Deutschen Bundes für Wissenschaftliche und Unterrichts-Kinematographie" (1912) und wohl nicht zuletzt die spätere deutsche Spezialität der „Kulturfilme" zur Folge hatte.
Vorschläge zur „Säuberung" der Kinos
Die Titel der Kampfschriften jener Tage zur „Säuberung" der Kinos beweisen am deutlichsten ihre Absichten:
„Die Schule im Kampf gegen den Schmutz" (Düsseldorf, 1909)
„Jugendschutz gegen Detektivromane und Kinematographie" (Bern, 1909)
„Mitwirkung der Schule bei der Bekämpfung desKino-Unwesens"
(Wien, 1910)
„Schundfilms, ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung"
(Halle, 1911)
„Ein Feind unserer Kinder, ein Feind unseres Volkes"
(Aarau, 1912)
„Kintopp - eine öffentliche Gefahr" (Essen, 1912)
„Der Kinematograph von heute - eine Volksgefahr" (Berlin, 1913)
„Das Kinematographen-Unwesen" (Riga, 1913)
„Vergiftete Geistesnahrung, eine ernste Mahnung an Jugendliche, Eltern und Erzieher" (Leipzig, 1914)
Damals hieß es noch "Der Kino"
Victor Noack, der Verfasser einer Kampfschrift „Der Kino", Leipzig, 1913, gefällt sich, was den verderblichen Einfluß des Films betrifft, in einem Vergleich mit den Wirkungen hochprozentigen Alkohols.
Er schreibt:
- „Die Analogie zwischen Kintopp und 4/10 Topp (Schnaps) tritt mannigfach in Erscheinung. Wie ein Rausch kam das Lichtspiel über das Volk, und Arbeiter, Kleinbürger und Bourgeoisie, sogar die Intellektuellen erlagen dem Gift des Kinoschundes...
- Es zeigte sich, daß der Kinofusel volkswirtschaftlich ebenso verderblich wirken kann wie der Alkohol. So ein passionierter Kintoppschleicher gleicht, nachdem der obligate Schlager seines Stammkinos ihn in das übliche Stadium der Gehirntaubheit versenkt hat, dem des Destillenbruders, dessen Hirn die gewohnte Ätherdusche empfangen hat. Der materielle und der intellektuelle Fusel sind einander wert; die Kintoppschwärmerei wurde ein neues Volkslaster."
Von solchen Pamphleten ist es nicht mehr weit zur Stimme eines zeitgenössischen Eiferers, der das Kino mit einer feilen Dirne vergleicht.
Der Schriftsteller Benno Rüttenauer schreibt
Etwas zurückhaltender drückt sich der Schriftsteller Benno Rüttenauer aus, doch immer noch unmißverständlich genug: „Im Vergleich zum Kino ist der roheste Zirkus noch ein hohes Kunstinstitut."
Das Kintopp auf dem Wege der Besserung
Leider muß man sagen, daß solche Beurteilungen nicht immer ungerecht waren, das Kintopp hat in geschäftlichem Übereifer manchen groben Fehler gemacht. Doch hätte man auch sehen müssen, daß es sich auf dem Wege der Besserung befand. Seine Bemühungen, mit der Bühne und ihren Darstellern zu einer Absprache zu kommen, waren ja ebenso gescheitert wie seine Aufrufe an die Autoren, Filmmanuskripte zu schreiben.
Erst nach jahrelanger Überlegung stellte es der „Allgemeine Schriftstellerverein" seinen Mitgliedern frei, der von ihm errichteten Unterabteilung „Fachschriftsteller-Verband von Lieferanten von Film-Akten" beizutreten. Von dieser Unterabteilung konnte aber das Heil des Films gewiß nicht kommen.
Das Heil des Films kam aus Dänemark
Es kam aus einem anderen Land und in Gestalt einer Schauspielerin. Die Vertreter des Kintopps in den langen und unerquicklichen Auseinandersetzungen mit der Bühne hatten instinktiv richtig gefühlt, als sie ihre Hoffnungen auf eine Zusammenarbeit mit dem Theater setzten.
Doch es mußte eine andere Schauspielerin kommen als die in der großen Pathetik des 19. Jahrhunderts befangene Sarah Bernhardt, um der Epoche zu geben, wonach sie verlangte: die Abkehr vom zappelnden Opernstil auf der Leinwand.
Le Bargy hatte experimentiert und war dabei in das andere Extrem, eine beinah statuenhafte Bewegungslosigkeit der Darsteller verfallen. Dabei hatte er ein Grundgesetz des Filmischen verletzt: Film braucht Bewegung, ja er ist mit Bewegung identisch, und da damals die Kamera noch unbeweglich war, hätten es seine Darsteller nicht auch noch sein dürfen - wo war die Mitte zwischen beiden Extremen ?
erst noch etwas mehr über den skandinavischen Film
Ein Film aus Dänemark sollte sie offenbaren. Dank Ibsen war Skandinavien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Theaterland emporgestiegen. In den Hauptstädten Norwegens, Dänemarks und Schwedens gab es blühende Theater mit Schauspielschulen, an denen streng und ernsthaft gearbeitet wurde. Als Dramatiker setzte Strindberg den Ruhm Ibsens fort; doch die neue Generation, der Strindberg angehörte, wollte nicht mehr, wie Ibsen, die Menschheit erlösen, sondern das Einzelwesen Mensch.
Sie zergliederte nicht mehr die Gesellschaftszustände, sondern die Zustände der Seele. Auf diesem Wege war eine Zwischengeneration tragisch zugrunde gegangen: der Norweger Hans Jaeger hat sie in seinem Roman „Christiania-Boheme" geschildert - um so strahlender ging die Sonne der neuen Seelenkenner und Künder aus dem Norden auf: Strindbergs, des Dramatikers, Hamsuns, des Romanciers, und Munchs, des Alalers.
In Skandinavien war, abseits der alten europäischen Bildungszentren, eine Sonderart moderner Geistigkeit aufgekommen. Sie war in ihren Ausschwingungen und Auswirkungen noch stark genug, über den Weg des Theaters auch noch den Film in ihren Bann zu ziehen. Nur vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund ist zu verstehen, was sich jetzt vollziehen sollte.
1910 - Über die Schauspielerin Asta Nielsen
Im Sommer des Jahres 1910 lief in Kopenhagen beschäftigungslos die Schauspielerin Asta Nielsen herum; zwar hatte sie ein Engagement an einem dortigen Theater, doch für ihr Rollenfach der Tragödin gab es nichts zu tun, weil die Bühne seit Wochen mit der kassenfüllenden Operette „Die Dollarprinzessin" besetzt war. Ebenso beschäftigungslos war dadurch auch der künstlerische Leiter des Theaters, der dreißigjährige Dramatiker und Regisseur Peter Urban Gad geworden.
„So haben wir uns", schreibt Asta Nielsen, „zusammengetan und begannen auf einem alten Kopenhagener Gefängnishof mit dem dreiaktigen Film „Abgründe". Urban Gad schrieb das Manuskript und führte auch die Regie. Ich verkörperte die Hauptrolle und bekam dafür zweihunden Kronen. Filmspielen hieß damals, durch pathetische Bewegungen die Sprache ersetzen. Ich versuchte als erste, so etwas wie einen seelischen Vorgang, wie eine innerliche Empfindung wiederzugeben..."
"durch pathetische Bewegungen die Sprache ersetzen"
Der Augenblick dieser Erkenntnis war der Augenblick der Geburt des Films als Kunst. „Den seelischen Vorgang, die innerliche Empfindung" vor der Kamera wiederzugeben, darin bestand das Geheimnis, das fähig war, den Film zu verwandeln, ihn aus der Sphäre der Winkelkunst in die der Kunst zu erheben. Diese Erkenntnis war nicht am grünen Tisch zu gewinnen, sie konnte nur in einer Persönlichkeit reifen, die auch fähig war, den schönen Gedanken in die harte Praxis umzusetzen, und mit beinahe höherer Notwendigkeit mußte diese Persönlichkeit aus Skandinavien kommen, der Landschaft der modernen Seelenkünder, der Heimat Strindbergs, Hamsuns und Munchs.
„Abgründe" wurde ein Welterfolg
Der Erfolg ihres ersten Films - und „Abgründe" wurde ein Welterfolg - konnte Asta Nielsen und ihren Regisseur Urban Gad nur darin bestärken, auf der Suche nach den Ausdrucksmöglichkeiten der Seele fortzufahren. Im Laufe ihrer künstlerischen Zusammenarbeit öffnete sich ihnen das Tor, an welchem Le Bargy so vergeblich geklopft hatte: nicht nur das Gesicht des Darstellers war als Spiegelung seelischer Vorgänge von der Kamera dauernd zu beobachten, auch jede seiner Bewegungen.
Freilich mußten diese Bewegungen aufs genaueste der Empfindung, die es auszudrücken galt, entsprechen. Sie mußten kontrolliert sein statt angelernt, sie mußten unwillkürlich zum Spiel gehören, statt willkürlich ausgeführt zu werden. Die Tatsache wurde zum erstenmal erkannt, daß der Film aus einem beziehungsvollen Übereinander-greifen beziehungsvoller Bewegungen besteht, daß Gesicht und Gestik sich entsprechen, sich gegenseitig ergänzen müssen.
Der "Film" ändert sich
Wo es diese Entsprechungen und Ergänzungen nicht gab, da mußten sie - die Hauptaufgabe des Regisseurs - eigens erfunden werden. Das Mundaufreißen des Opernsängerstils wurde damit ebenso von der Kamera verbannt wie das wilde Händeringen, das von der bisherigen Filmtragödie als Verzweiflung verkauft worden war.
Solche Einsichten gewannen Nielsen/Gad nicht schon mit ihrem ersten Film, aber gleich dieser erste Film unterschied sich von allen, die ihm vorausgegangen waren: zum erstenmal war die Beziehung des Menschen zur Kamera auf ein menschliches Maß gebracht worden; der Darsteller agierte nicht mehr, als habe er auf der Leinwand wie ein exotisches Schaustück zu erscheinen, merkwürdiges Wesen einer anderen Welt (selbst noch, wenn er sich in der banalsten Szene Schokoladenpudding ins Gesicht klatschen ließ), sondern er spielte jetzt so, daß die Kluft der Fremdheit zwischen Leinwand und Zuschauer überbrückt wurde, ja hinwegschwand.
Einen „wirklichen" Menschen
Man hatte jene Fremdheit der Technik zugeschoben und sich mit ihr abgefunden; jetzt zeigte es sich, daß der Film fähig war, „wirkliche" Menschen hervorzuzaubern, nicht bloß zappelnd-lebendige. Der Film war nachbarlich geworden, noch nicht intim. Die Technik gestattete, daß man sich mit ihm befreundete, die Kunst hielt darauf, daß der Abstand gewahrt blieb.
Die Kunst hieß in diesem Falle Asta Nielsen. Diese Schauspielerin, der das Theater keine Chance gegeben hatte (aber doch die gründliche Ausbildung der skandinavischen Schule), sah sich berufen, den Film zu revolutionieren. Sie machte Filmgeschichtej wie Männer Weltgeschichte machen. Sich treu bleibend, Siege ausnützend, aus Niederlagen lernend.
Sie war nicht allmächtig, und es hätte ihre Kräfte überstiegen, dem Film, der als tapsiger Riese daherkam, die ganze Seele einzuhauchen, aber jedem ihrer eigenen Filme gab sie ihre ganze Seele mit, zum erstenmal durften sich Kinozuschauer beschenkt fühlen, wenn sie den dunklen Saal verlassen hatten, im Inneren bereichert, selbst wenn es nur ein Lustspiel war, das sie gesehen hatten.
Den Zuschauer "beschenken"
Dies ist eine der Wirkungen der Kunst, und vorerst gab es nur die eine Asta Nielsen, die sie auf der Leinwand hervorrufen konnte. Ihre Filme waren stumm, doch beredt; ihre Sprache, das war ihr Spiel, das Zusammenwirken von Gesicht und Gebärde, diese so ausdrucksvoll und jenes so präzise beherrscht, daß sie sich jedem erschloß und jedem verständlich wurde, auch dem Analphabeten, der die Zwischentitel der Nielsen-Filme nicht entziffern konnte.
Es sollte später nur noch einen Filmdarsteller auf der Welt geben, dessen „Sprache" in gleichem Umfang international, ja universal verstanden und geliebt wurde: Charlie Chaplin.
Berühmt ist die Reaktion eines Spaniers, der, in seinem Dorfkino sitzend, Spiel und Wirklichkeit verwechselnd auf die Leinwand-Asta-Nielsen einen Revolverschuß abgab, so mitgenommen, so gepackt war er von ihrem Spiel.
Und ebenso berühmt ist die Lobeshymne, die ihr Guillaume Apollinaire gesungen hat: „Sie ist alles in einem! Sie ist die Vision des Trinkers und der Traum des Einsamen."
Asta Nielsen - "allein durch ihr Spiel den Zuschauer packen"
In seinem Buch „Gestalter der Filmkunst" versucht Ludwig Gesek den Eindruck ihrer Filmerscheinung festzuhalten: „Sprache waren für sie die Augen, der Kopf mit der Ponyfrisur, der gertenschlanke biegsame Leib, die feinnervigen Hände. Sprache war jede Bewegung: sie konnte mit einer Schulterbewegung, einem Müdewerden um Wangen und Mundwinkel mehr sagen als mit vielen Sätzen. Ihre liebste Rolle war die der Jesta, eines vierzehnjährigen Mädchens in dem Filmlustspiel >Engelein< ...
Sie brachte es in diesem Film zustande, ohne Wechsel der Kameraeinstellung in einer zweihundertvierzig Meter langen Filmszene, also volle zwölf Minuten, allein durch ihr Spiel den Zuschauer so zu packen, daß das Gefühl der Ermüdung gar nicht erst aufkam."
„Engelein", ein Lustspielfilm übrigens, der bewies, daß sich Asta Nielsen nicht auf die Tragödie festlegen ließ, war in Berlin gedreht worden. Nach dem Erfolg von „Abgründe" hatte die Deutsche Bioscop-Gesellschaft den Dänen einen Vertrag angeboten, dem sie zustimmten. Asta Nielsen und Urban Gad übersiedelten und heirateten.
Paul Davidson pokert mit der Zukunft und Asta Nielsen
Das deutsche Alleinvertriebsrecht für „Abgründe" hatte sich aber nicht die Bioscop gesichert, sondern Paul Davidson für seinen „Union"-Konzern, künftig derjenige Geschäftsmann, der auf die Zukunft Asta Nielsens die höchsten Summen setzte - und gewann. Eine entscheidende Figur des deutschen Films auf dem Wege von der Winkelkunst zur Kunst, auch eine in ihrer Bedeutung unterschätzte Figur; sein Werk ist in die spätere Ufa eingegangen, die, je nationalistischer sie sich entwickelte, um so weniger Anlaß hatte, sich seiner zu erinnern.
Paul Davidson, ein Ostpreuße
Paul Davidson, ein Ostpreuße der Herkunft nach und, wie auffallend viele Wirtschafts-Pioniere des Films, aus der Konfektionsbranche kommend, hat in den zwei Jahrzehnten zwischen 1905 und 1925 den Schicksalslauf des deutschen Films maßgeblich bestimmt. Zuerst interessierte er sich am Filmtheaterbesitz, dann am Filmverleih, dann an der Filmproduktion.
In den Jahren 1905 und 1906 eröffnete er in Mannheim und in Frankfurt seine ersten Filmtheater - und diese nicht als die üblichen, anspruchslosen Schlauchläden, die immer an Behelf und Jahrmarkt erinnerten, sondern als richtige Theater, mit richtigem Theaterkomfort.
Davidson war so fest von der (geschäftlichen) Zukunft des Films überzeugt, daß er die Mittel und Kredite fand, seinen Plan durchzusetzen, in (möglichst) allen Städten des Reiches solche Theater einzurichten, denen er den Einheitsnamen „Union-Theater" (U.T.) gab.
1906 - die „Allgemeine Kinematographische Theatergesellschaft"
Er rief zu diesem Zweck die „Allgemeine Kinematographische Theatergesellschaft" ins Leben, 1906, die so erfolgreich war, daß sie innerhalb der nächsten zehn Jahre zur Besitzerin von mehr als einem halben Hundert Theatern wurde, darunter solchen Palästen wie das U.T. am Berliner Alexanderplatz (1908).
Diese Kettenläden ließen sich erst ausschöpfen, wenn ihr Besitzer im Verleih ein Wort mitreden konnte, und noch besser, wenn er als Produzent auftreten konnte. Mit dem relativ geringen Kapital von einer halben Million Mark begründete also Paul Davidson im Jahre 1910 die Herstellerfirma: „Projektions-AG-Union", abgekürzt die „Pagu".
1914 war er schon so weit, daß er seine gefährlichste Konkurrenz, die „Vitascop"-GmbH aufkaufen konnte. Die beiden größten deutschen Filmproduzenten hatten sich „fusioniert", Paul Davidson vereinigte sie in seiner Hand.
Eine Schauspielerin bekommt hunderttausend Mark je Jahr
Asta Nielsen hatte die acht Filme, auf die ihr Vertrag mit der Deutschen Bioscop lautete, abgedreht, dann ging sie zur Union über; Paul Davidson hatte ihr ein glänzendes Angebot gemacht: sie erhielt bei der „Pagu" hunderttausend Mark je Jahr.
Der Durchbruch des künstlerischen Films
Was Asta Nielsen für die Welt getan - dem beseelten Film und damit dem künstlerischen zum Durchbruch zu verhelfen -, das tat Henny Porten noch einmal für Deutschland speziell. Sie war, wie gesagt, „direkt" zum Film gekommen, außer in Kinderrollen hatte sie vorher nicht auf einer Bühne gestanden. Es kam ihr aber zugute, daß sie aus einem Künstler-Elternhaus stammte, ihr Vater war Opernsänger und Theaterdirektor.
An der Seite dieses Vaters, Franz Porten, stand sie bereits 1907 vor der Kamera, in Meßters Atelier, um in „Tonbildern" aus Opernszenen mitzuwirken. Zwei Jahre später spielte der Backfisch in dem Film „Das Liebesglück einer Blinden" (nach einer Idee von Rosa Porten, ihrer älteren Schwester) die Rolle des blinden Mädchens, anonym, wie es sich gehörte, und der erste deutsche „Star" war damit auf der Bildfläche erschienen, denn das Publikum verlangte in Zuschriften an die Meßter-Gesellschaft nach weiteren Filmen mit dieser Darstellerin.
Nun sollte es sich beweisen, daß Henny Porten nicht die Darstellerin war, die sich nach den Wünschen und Launen ihrer Verehrer richtete, sondern daß sie das Umgekehrte im Sinne hatte: ihr Publikum zu erziehen.
Der Regisseur Curt Stark
Henny Porten hatte das Glück, einem Regisseur zu begegnen, Curt Stark, der es verstand, sie zur Schauspielerin heranzubilden. „Mit unerbittlichem Ernst hat er mich zur Arbeit angehalten und mich auf die Schwächen hingewiesen, an denen mein Spiel krankte. Unnachsichtig hat er kritisiert und nicht nachgelassen in Belehrungen. Er hat mit mir täglich gearbeitet...", erzählt sie in ihrer ersten, 1919 erschienenen Autobiographie („Wie ich wurde").
Curt Stark, der dann Henny Portens Ehemann wurde, fiel im ersten Weltkrieg - für die Schauspielerin ein Schicksalserlebnis, das sie tief getroffen hat, für den deutschen Film ein Ereignis von großer, indirekter Tragweite.
Abkehr von den belanglosen Lustspielchen
Henny Porten glaubte an den Film und nicht an die vom Geschäftsgeist diktierten Machwerke ringsum. Unter dem Einfluß Curt Starks verstärkte sich diese Zukunftshoffnung, und war sie vorher bereit, in belanglosen Lustspielchen mitzuwirken, so sagte sie jetzt nur noch zu, wenn ihr der Film die Gelegenheit bot, den Zuschauer „in wertvollem Sinne" zu beeinflussen. Dies war gleichsam das Vermächtnis Curt Starks, und sie erwies sich als Persönlichkeit gefestigt genug, es einzuhalten.
Das bedeutete aber, daß sich jeder Film mit Henny Porten von der üblichen Fabrikware abhob. Dadurch in erster Linie und weniger durch die blonde Sanftheit ihrer Erscheinung gewann sie die bürgerliche Mittelschicht für den Film. „Ins Kino gehen" - dazu gehörte für Herrn und Frau Müller noch jedesmal eine Überwindung - einen Henny-Porten-Film sehen, gut, das war etwas anderes.
Den Besucher ohne schwüle Erotik ins Kino locken
Und es bedeutete tatsächlich etwas anderes. Diese Filme waren, mit einem Wort, „sauber", frei von jener schwülen Erotik, die man sonst für unumgänglich hielt, um den Besucher ins Kino zu locken. Die Porten-Filme schlugen die entscheidende Bresche, und sie hätten gar nicht viel anspruchsvoller sein dürfen - das Niveau der Unterhaltungsschriftsteller Rudolf Stratz und Rudolf Herzog -, um Herrn und Frau Müller zu gefallen.
Die Porten verstand es, allem aus dem Wege zu gehen, was sie als eine „Diva" hätte abstempeln können. Von ihrem Privatleben hörte man nichts, es gab keine Skandale und keine geschmacklosen Werbefeldzüge, man brachte sie gedanklich nie mit sündhaften Orgien bei Sekt und Kaviar in Verbindung (wie das „mit denen vom Film" die Regel war), sie erschien immer in dezenter Kleidung. Eine deutsche Frau in „Zucht und Ehren", nach dem Idealbild der Marlitt. Nichts war geeigneter, das Odium des Verruchten und Lasterhaften vom Film zu nehmen, als eine solche Haltung.
Das deutsche Bürgertum mit Moral überzeugen
"Die Porten" hat das deutsche Bürgertum mit Moral überzeugt, und hierauf beruht ihre historische Leistung. Nur darf man nicht annehmen, daß sie dies unbewußt geschafft hätte:
- „Für mich galt es, im Film etwas Höheres zu suchen. Mich reizten die außerordentlichen mimischen Möglichkeiten, und daher mußte ich nur Rollen suchen, bei denen die >äußeren Reize< der Darstellerin weniger in Frage kamen und in denen das Schicksal nicht gleich plakatartig auf den Leib der Darstellerin geschrieben war. Die Darstellungen verkommener Frauen, Varietetänzerinnen usw. waren weniger meine Aufgabe, sondern mochten Schauspielerinnen überlassen bleiben, deren künstlerische Ziele mit den meinen nicht übereinstimmten ...
- Daher suchte ich mir für meine Filme solche Frauenschicksale aus, bei denen die Tragik innerlicher war als sonst üblich. Aus rein äußeren Anlässen Freude und Schmerz mimisch darzustellen, ist nicht das schwerste, aber die Erschütterungen der Seele glaubhaft zu machen und ... gleichzeitig erzieherisch zu wirken, das ist eine Aufgabe.
- Erzieherisch! Das Wort kann große Bedenken hervorrufen; denn alles, was mit >Erziehung< zusammenhängt, hat beim Publikum das Odium der Langweiligkeit. Es galt daher, einen Mittelweg zu finden. Es galt, gleichsam die Medizin in angenehmer Aufmachung zu verabfolgen ...
- Ich wollte den Typus der Frau wiedergeben, der in sich alle weiblichen Eigenschaften vereinigte, die als Vorzüge zu preisen sind ... Selbst der kleinste und nichtssagendste Film kann auf das naive Publikum einen so großen Einfluß ausüben, daß er tief in das Gedächtnisvermögen des Zuschauers eindringt. Infolgedessen hat jeder Film mehr oder weniger erzieherische Bedeutung und erzieherischen Wert.
- Diese Tatsache auszunutzen, ist lediglich Sache des Künstlers, der im Film spielt. Wer diese Aufgabe, die vornehmste Aufgabe des Films, verkennt oder mißachtet, betrachtet die gesamte Filmkunst von einem schiefen Gesichtspunkt ..."
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Die gewisse Naivität im Ausdruck dieses Bekenntnisses spricht dafür, daß es von der Darstellerin selber stammt, hier hat noch kein „ghost-writer" literarische Formulierungen eingeschmuggelt, es darf als ihre Herzenssache angesehen werden. Unbezweifelbar gehört Henny Porten zu jenen Persönlichkeiten, denen es zu verdanken ist, daß der Durchbruch vom Kintopp zum Kino gelingen konnte; sie hat den Film in Deutschland verbürgerlicht ...
1913 - ein Schicksalsjahr für den Film
Das Jahr 1913 bricht an, ein Schicksalsjahr für den Film. In Italien dreht Eleonore Düse, unbestreitbar die größte Bühnen-Tragödin des neuen Jahrhunderts, ihren ersten (und zugleich letzten) Film „Asche", in Amerika wird Charles Chaplin engagiert, in Deutschland schwinden die Vorurteile der Bühnendarsteller, und es entsteht eines der frühen Meisterwerke des Films: „Der Student von Prag".
Der Bühnendarsteller Albert Bassermann "fällt um"
Der „Umfall" der Bühnendarsteller in Deutschland ging von einem ihrer prominentesten Vertreter aus, von Albert Bassermann. Dem Regisseur Max Mack, der bisher für seine Firma, die „Vitascop", eine Reihe von Lustspielen gedreht hatte, war es gelungen, Bassermann in ein Filmatelier zu führen und ihm dort den Unterschied von Theaterspiel und Spiel vor der Kamera zu demonstrieren. Der Schauspieler begriff die Lehre, zeigte sich interessiert und nahm die Rolle an, die ihm vorzuschlagen Max Mack vorbereitet war. Mack dachte an die Verfilmung eines literarischen Werkes aus der harmlosen Feder des ältlichen Unterhaltungsschriftstellers Paul Lindau, des Romans „Der Andere".
Die Berliner Theaterkritik erschien vollzählig
Der Film kam zustande, der erste, zu dessen Uraufführung im „Mozartsaal" die gesamte Berliner Theaterkritik erschien, denn neben der Sensation der Mitwirkung Bassermanns galt es doch auch, den allerersten deutschen „Autorenfilm" zu sehen. Darunter wurde ein Werk verstanden, das nicht nur mit Billigung des Autors (die Klassiker hatten sich nicht gegen die Filmlustspiele wehren können, die man ans ihren Tragödien gemacht hatte) verfilmt wurde, sondern zugleich auch in Zusammenarbeit mit ihm.
Der Beginn der „Autorenfilme"
So hatte Paul Lindau auch an den vorbereitenden Regie- und Schauspieler- besprechungen teilgenommen. „Der Andere" verschwieg den Namen seines geistigen Schöpfers nicht - Grund genug, ihn und die Nachfolger seines Typs „Autorenfilme" zu nennen.
Zu erproben, ob „Literatur und Kunst Heimatberechtigung im Kinoleben" haben würden, gründete Oskar Meßter im gleichen Jahre 1913 eine eigene Produktionsgesellschaft, die „Autor-Film" in der ausgesprochenen Absicht, moderne Literatur zu verfilmen. Die Autor-Film startete mit „Eva", nach einem Roman von Richard Voss, dem Verfasser des Bestsellers „Zwei Menschen". Unter der Regie von Curt Stark wurde der Film zu einem Erfolg.
Allerdings waren es nicht gerade die Avantgardisten der Literatur, die der konservative Meßter fortan als „Autoren" verfilmte. Friedrich Spielhagens „Problematische Naturen" (1916), ein Roman, der schon vor einem Menschenalter erschienen war, hielt er gerade für modern genug.
Max Reinhardt - der „Zauberer" des „Deutschen Theaters"
Die Pagu, Meßters Konkurrenz, holte, ebenfalls 1913, zu einem größeren Schlag aus, einem Geschäft, von dem sie erwarten konnte, daß es den großstädtisch denkenden und großstädtisch eingestellten Teil des Kinopublikums in ihre U.T.-Theater bringen würde. Sie engagierte Deutschlands berühmtesten Theaterregisseur, den „Zauberer" des „Deutschen Theaters", auf der Höhe seiner Macht über das gesamte Berliner Theaterwesen, Max Reinhardt. Gegen eine Gage von zweihunderttausend Mark hatte er sich verpflichtet, jährlich vier „Filmdramen" zu inszenieren, und dies drei Jahre lang, so daß Reinhardt für zwölf Filme sechshunderttausend Mark eingenommen hatte. Es bleibt aber zweifelhaft, wieviel Reinhardt-Filme überhaupt produziert wurden, denn die „Pagu" konnte sich nicht verhehlen, daß diese Filme (die außerdem auf ziemlich anspruchsvolle Bücher zurückgingen) keinen großen Anklang fanden.
Max Reinhardt, dessen Theaterregietätigkeit noch auf Jahrzehnte hinaus den Filmregisseuren hunderterlei der verschiedensten und der wichtigsten Anregungen schenken sollte - ihm fehlte der eigentlich filmische Blick. Er inszenierte, als ob er immer die drei Wände der Guckkastenbühne vor Augen gehabt hätte. Auch seinen Stoffen, ob sie von Karl Vollmöller („Venetianische Nacht") oder von Leo Greiner („Die Insel der Seligen") stammten, mangelte das filmische Element.
1915 - Ernst Lubitsch „Die Augen der Mumie Ma"
Der Zauberer des Theaters mußte es erleben, daß der kleine Pagu-Film seines kleinen Schülers Ernst Lubitsch „Die Augen der Mumie Ma" (1915) von der Handlung und von der Regie her mehr filmische Essenz enthielt als seine feierlich aufgezäumten Großwerke.
Der Film verlangt nach Stoffen, die zum Sehen gedacht, „zum Schauen geboren" sind. Seine Vorgänge sind nicht wie die des Theaters an Ort und Zeit und Raum gebunden, und sie verlangen erst recht nicht die Einhaltung der klassischen Regel von der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung. Der Film kann ohne Anstrengung die phantastischsten Illusionen schaffen - er braucht nur das phantasienschaffende Gehirn, das ihm solche Möglichkeiten vormacht. Mit dieser Einsicht konnte er sich vollends vom Theater loslösen, durfte er seine eigenen Wege gehen. Er begann zu erkennen, daß er nicht nur eigenen, dramaturgischen Gesetzen (die zum großen Teil erst noch herausgefunden werden mußten) zu gehorchen habe, sondern auch, daß er als Filmwerk um so vollkommener ist, je weniger sein Stoff sich fürs Theater eignet.
Über die Filmautoren
Filmautoren müssen „Schaumänner" sein, den optischen Blick besitzen. „Die Phantasie des Dichters fährt noch in der Postkutsche, während die Phantasie des Technikers schon im Aeroplan daherbraust", hatte Friedrich Freksa seinen schriftsteuernden Kollegen ermunternd zugerufen, als sie sich noch vor jeder Berührung mit dem Film scheuten.
Jetzt gab es wenigstens einige Autoren, deren Phantasie „im Aeroplan dahersauste" - stellten sie sich auch als die alten Routiniers in Schauergeschichten und in abseitigen Erfindungen heraus. Der Geist E. Th. A. Hoffmanns spukte damals recht vernehmlich in der deutschen Literatur.
Alfred Kubin, Hanns Heinz Ewers, Gustav Meyrink
Alfred Kubin zeichnete nicht nur phantastische Geschichten, er schrieb auch welche, Hanns Heinz Ewers hatte das unheimliche Motiv der Alraune-Sage zu einem sensationell erfolgreichen Roman genommen, und Gustav Meyrink erschreckte den Spießer mit seinen Grotesken. Solche phantasievollen Autoren wie Ewers und Meyrink erschienen dem jungen Bühnenschauspieler Paul Wegener, einem Darsteller des Reinhardt-Ensembles, gerade recht für seine Pläne, die auf Revolutionierung des Films hinausliefen.
Beeinflußt von den darstellerischen Leistungen einer Asta Nielsen, fand Paul Wegener für sich selbst einen eigenen „filmischen" Ausdrucksstil, der ihn lehrte, das Bühnenpathos abzuwerfen. Damit ging ihm auch die Erkenntnis auf, daß sich, ebenso wie sich die Filmschauspielerei von der Theaterschauspielerei unterscheide, auch der Filmstoff vom Theaterstoff zu unterscheiden habe.
Ewers und „Der Student von Prag"
So stieß er mit der Notwendigkeit des Zufalls auf den Schriftsteller Ewers, der ihm ein Originalfilmbuch schrieb, „Der Student von Prag": Eine Handlung mit einer Doppelrolle für Wegener: - der arme Student Baldwin verkauft einem Zauberer sein Spiegelbild (wie Faust an Mephisto seine Seele verkauft), um Liebe und Reichtum dafür einzutauschen. Aber nachdem sein Spiegelbild einmal ins Leben getreten ist, macht es sich selbständig, und der Doppelgänger vereitelt alle guten Absichten seines Urbildes. Tatsächlich könnte man sich diese Handlung kaum auf der Bühne denken - für den Film stellt sie einen Idealfall dar.
Daß der „Student von Prag" ein klassischer deutscher Film wurde, lag aber nicht an dem Buch und an dem Darstellungsstil Wegeners allein, sondern daran, daß dieser Film von Anfang an als ein Werk der Zusammenarbeit - später wird man „Teamwork" sagen - gedacht war. Der Däne Stellan Rye führte Regie, an der Kamera stand Guido Seeber. Diesem Team kam es darauf an, nichts dem Zufall zu überlassen, jede Szene war in ihrer Wirkung und in ihrer Beleuchtung genau studiert worden, und ihre Abfolge war auf die nächste genau abgestimmt.
Regie führen bei Reinhardt gelernt
Nicht umsonst hatte Paul Wegener dem Reinhardt-Ensemble angehört, er wußte, wie sorgfältig und gründlich Regiearbeit sein muß - was aber noch mehr bedeutet: er wußte, was es überhaupt heißt, „Regie führen", nämlich nicht bloß die Schauspieler anleiten und für ihre Auftritte und Abgänge sorgen - seit Reinhardt heißt Regieführen auch eine geistige Tat:
Interpret des Dichters zu sein, die bestimmte Absicht des Stückes oder, wo es vieldeutig ist, eine bestimmte Absicht des Stückes herauszuarbeiten und ihr jeden Vorgang auf der Bühne unterzuordnen. So interpretiert ein Regisseur a la Reinhardt ein Stück von Schiller, wie Furtwängler eine Symphonie von Beethoven interpretiert, so sprach man von „Reinhardts Don Carlos", wie von „Furtwänglers Neunter".
Seltsamerweise war es Reinhardt nicht gelungen, im Film seine Regieabsichten deutlich werden zu lassen, sein Blick war zu sehr theaterbefangen. Paul Wegener, der nicht zufällig schon in seinem nächsten Film „Der Golem" 1914, selber Regie führte, übertrug die Arbeitsmethode und die Regieauffassung Reinhardts auf den Film.
Von Deutschland aus in die Welt "Der Regisseur"
Der Regisseur - nach dem Ideal Max Reinhardts - hat sich zuerst in Deutschland durchgesetzt, die anderen Länder kannten ihn, wie ihn die Deutschen zur Zeit der Meininger kannten, als „Spielleiter", eine Person, die dafür verantwortlich war, daß der betreffende Schauspieler zu seiner betreffenden Szene in dem betreffenden Kostüm auf der Bühne war, daß das ganze Stück in der von seinem Autor gewollten Reihenfolge ablief und daß die Bemerkungen des Autors („wendet sich stumm ab") auch befolgt wurden.
Diese alte Aufgabe des Spielleiters ist noch in dem englischen Wort dafür enthalten, er heißt dort der „Hersteller" des Stücks (oder des Films), der „producer". Der Spielleiter verwandelt sich in dem Augenblick zum Regisseur, da er entscheidet, ob eine Szene gestrichen oder umgestellt wird, sagen wir, aus dem dritten Akt in den zweiten Akt vorverlegt. Er tut dies nicht willkürlich, sondern weil er eine künstlerische Absicht damit verfolgt. Von solchen dramaturgischen Eingriffen bis zu seinen Anweisungen für Farbe, Licht und Musik ist alles „Regie".
Der erste deutsche Regiefilm
„Der Student von Prag" war in diesem Sinne der erste deutsche Regiefilm. Seine Neuheit gegenüber den bisherigen Filmen, den französischen, italienischen oder dänischen, die sich ebenfalls schon eines Regisseurs rühmten, bestand darin, daß er zum erstenmal die fotografischen Möglichkeiten von Licht und Schatten und die Aufnahmetricks der Kamera als Regiemöglichkeiten einsetzte. Unvergeßlich blieb den Zuschauern z.B. die Szene, in welcher der erfindungsreiche Kameramann Guido Seeber Baldwins Doppelgänger langsam aus dem Spiegel heraustreten läßt. Noch blieb die Kamera fest und starr an ihren Platz gebannt, aber schon spielte sie mit, sei es auch nur in der Art eines genialen Jungen, der sich frühreif zum Wort meldet.
Die Grenzen der Bühne gesprengt - „Der Golem"
Eine Art Wesensverwandtschaft muß Paul Wegener nach Prag gezogen haben: auch sein nächster Film - nach einem Stoff von Gustav Meyrink - spielte dort, „Der Golem". Wiederum ein eminent filmischer Stoff, eine Handlung, die wiederum die Grenzen der Bühne sprengt. Ihr Motiv ist einer altjüdischen Prager Legende entnommen: Rabbi Low versteht es, dem Golem, einem Ungetümen Lehmbild, Leben einzuhauchen - im Film wird die unbeholfene Statue dadurch beseelt, daß sie in Liebe zu einem Mädchen verfällt; da jedoch das Mädchen die Liebe des Unheimlichen nicht erwidern kann, stürzt sich dieser von der Höhe eines Turmes in den Tod.
Paul Wegener hat in der Rolle des „Golem" seinen eigenen, unverwechselbaren Stil der Darstellung gefunden und ihn in zahllosen künftigen Rollen beibehalten. Ein so guter Sprecher er auch war, seine besten Rollen waren seine stummen; Gesicht und Gestik dieses Schauspielers verrieten so viel Empfindung, wirkten so „beredt", daß sie seine Sprache überflüssig machten.
Wie verlief die Entwicklung in den einzelnen Ländern?
Am Markstein der Wegener-Filme (die übrigens den ideellen und materiellen Erfolg hatten, den sie verdienten) angekommen, ist ein Blick auf die Entwicklung des Films in den anderen europäischen Ländern geboten. Grob vereinfacht läßt sich sagen, daß die Filme, die die einzelnen Nationen hervorbrachten - soweit sie als nennenswerte Produzenten überhaupt auftraten -, ihrem Nationalcharakter entsprachen.
Waren die skandinavischen Filme, wie wir gesehen haben, psychologisch raffiniert, so die englischen von nüchternem Wirklichkeitssinn erfüllt, die französischen beweglich phantasievoll, die italienischen naiv-pathetisch und die österreichischen voller Musikalität.
Wien : Graf Alexander (Sascha) Kolowrat- Krokowsky
Um mit Wien zu beginnen: Die Anfänge des Films in der Doppelmonarchie gehen auf die Begeisterung eines Dilettanten zurück, der reich genug war, seiner Leidenschaft zu frönen, die allein dem Film galt. Dieser mit einer russischen Fürstin verheiratete Magnat Graf Alexander (Sascha) Kolowrat- Krokowsky hatte bei einem Aufenthalt in Paris die erste Bekanntschaft mit dem Kino gemacht. Jedenfalls war sein Vertrauen in die Zukunft des Films grenzenlos.
Allen Warnern zum Trotz gründete er in Wien eine Filmproduktion, die „Sascha-Film", und noch ehe in Deutschland die Vorurteile der Bühnenprominenz dem Kino gegenüber ausgeräumt waren, beschäftigte die Sascha-Produktion bereits Max Pallenberg, und im Jahre des Bassermann-Films wartete die Sascha mit einer gleichen Sensation auf: Alexander Girardi, als Volksschauspieler noch populärer als Bassermann, trat in einem ihm eigens auf den Leib geschnittenen Film „Der Millionen-Onkel" (einer Art Revue seiner beliebtesten Bühnenrollen) auf.
1913 - Eröffnung des „Marmorhaus" am Berliner Kurfürstendamm
Mit diesem Film wurde übrigens das „Marmorhaus" am Berliner Kurfürstendamm eröffnet (1913). Der Wiener Operettenkomponist Robert Stolz hatte die Musik zum „Millionen-Onkel" geschrieben, Regie führte Hubert Marischka. Der Musikfilm ist seitdem eine Spezialität der Wiener Produktion geblieben, nicht nur des heiteren, sondern auch des ernsthaften Genres. Fünf Jahre später drehte ein junger Wiener Charakterdarsteller, Fritz Kortner, für die Sascha seinen ersten Film „Beethoven".
Mit dem Krieg 1914 ändert sich alles
Nach Ausbruch des ersten Weltkriegs stellte die Sascha im Auftrag des (Wiener) "Großen Hauptquartiers" einige patriotische Filme her, und einem Gebot der Kriegswirtschaft folgend, vereinigte sie sich mit der Wiener Niederlassung der Meßter-Film und der Verleih-Organisation Pressburger. Als Meßter einige Jahre später mit seinen Tochterfirmen in die Ufa überging, machte sich die Sascha-Gesellschaft unter ihrem ursprünglichen Namen als österreichische Firma wieder selbständig. Sie besteht noch heute.
Dennoch : Für viele der Beginn einer Karriere
Aus der Sascha-Schule ist eine bedeutende Anzahl von Regisseuren und Darstellern hervorgegangen: Fritz Kortner, Liane Haid, Magda Sonja, Hans Moser, Hugo Thimig, Willi Forst, die Regisseure Gustav Ucicky, Karl Hartl, Robert Wiene, Michael Kertesz (der sich in Hollywood Curtis schreiben sollte) und Alexander Korda, der die glänzendste Karriere von allen machte.
Ein Blick nach Osten
Auch in Prag, in Warschau und in den Hauptstädten der Balkanländer entstanden schon früh eigene Produktionen; doch gefielen sich diese meist in der Nachahmung der üblichen Pathe-Importware; für den deutschen Filmmarkt zeigten sich diese Länder insofern von Bedeutung, als sie sich als außerordentlich kinofreudig erwiesen.
Von dem aufgeschlossenen Großstadtpublikum Warschaus oder Budapests zu schweigen, setzte der Film auch die Bewohner der abgelegenen Land- und Garnisonstädtchen in die Lage, Anschluß an den internationalen Vergnügungsström zu gewinnen.
In Rußland haben die eigentlichen Filmpioniere gefehlt. Es mag mit der Vorherrschaft des französischen Kapitals in Rußland (damals einem Mittel der Politik) zusammenhängen, daß sich eine einheimische Filmindustrie von Bedeutung nicht entwickelte; sie fühlte sich nicht von produktiven Kräften ermuntert, und andererseits lieferte Pathe zur vollen Zufriedenheit. Die schwache eigene Produktion, in der damaligen Hauptstadt St. Petersburg konzentriert, lag zu nahe an der skandinavischen, um nicht von ihr zu lernen. Als einer der ersten „zaristischen" Filme ist uns ein „Peter der Große" bekannt, 1910 mit dem Ensemble des St. Petersburger Hoftheaters gedreht; einen „literarischen" Film, „Stenka Rasin" (nach Gontscharow) hatte es bereits 1908 gegeben.
Ein Blick nach Westen
Die Engländer hatten ihre Aufmerksamkeit weniger dem Spielfilm als dem Reportage- und dem Kulturfilm zugewandt - eine Entwicklung, die nahe lag.
London bildete den Mittelpunkt eines Weltreiches, das sich über die fünf Kontinente ausbreitete. Wurde der Spielfilm bald als eine ideale Möglichkeit, die Mitgliedstaaten untereinander näherzubringen, erkannt, so bewährte sich der Reportagefilm als ein ebenso ideales Mittel zur schnellen Unterrichtung über die Vorgänge in der kolonialen oder halbkolonialen Welt.
Schon aus dem Burenkrieg, um die Jahrhundertwende, brachten englische Kameraleute originale Aufnahmen nach Hause, und Reporter der britischen „Urban-Trading" waren es, welche die aufsehenerregenden Originalszenen der russischen Revolution von 1905 gedreht hatten. (Wir erinnern uns, daß es üblich war, solche Ereignisse im Atelier zu stellen und diese kostümierten Nachahmungen als „historisch" zu verkaufen.)
Charles Urban - Vorläufer für "Blick in die Welt"
Der Begründer der „Urban-Trading", Charles Urban, ein gebürtiger Amerikaner, ein Kameramann der Pionierzeit, gab für seine 1903 in London errichtete Gegellschaft die Parole aus! „Wir bringen Ihnen die Welt vor Augen"; die Antwort des Kameramannes der Konkurrenz, der Warwick-Gesellschaft, ließ nicht auf sich warten: „Überall, wo etwas geschieht, ist Barker dabei." Engländer waren es auch, die die Südpolexpedition Shackletons begleiteten und die ersten Bilder aus der Antarktis mitbrachten.
Pathe - Sieger aus dem Wettlauf der Aktualitäten
Auf dem Feld des Wochenschau-und Dokumentarfilms holten sich die Engländer die ersten Lorbeeren. Jedoch - aus dem Wettlauf der Aktualitäten sollte Pathe schließlich als Sieger hervorgehen, er brachte ihn auf den Gedanken der verfilmten Zeitung, brauchte er doch nur die aktuellen Berichte seiner Reporter zusammenzufassen, um das „Pathe-Journal" entstehen zu lassen, die erste „Wochenschau". Zugleich wurde in Paris das erste Aktualitäten-Kino eröffnet, ein Theater, das nur solche Berichte vorführte.
G. Albert Smith bekommt ein Patent auf „Kinemacolor"
Ein Engländer, G. Albert Smith, hatte 1908 ein Patent zur Herstellung von Farbfilmen erlangt; seine Methode, das „Kinemacolor" (hauptsächlich auf Handkolorierung aufbauend) wurde von der Urban-Gesellschaft erworben, die 1911 mit sensationellem Erfolg den ersten Film „in natürlichen Farben" herausbrachte: „The Delhi Durbar". Es ist alles schon sehr früh dagewesen.
Ein Blick nach Süden
In Italien war die Firma „Cines", gegründet von Filoteo Alberini, seit 1896 Inhaber des ersten italienischen Patents für einen Filmaufnahmeapparat, mit (nachträglich gestellten) Aufnahmen vom Erdbeben von Messina (1908) gut ins internationale Geschäft gekommen.
1906 schon hatte diese Firma „Quo vadis?" herausgebracht: ganze zweiundfünfzig Meter lang war dieser Urvater so vieler späterer Monstrefilme, doch er zeigte sofort die Lust und Liebe der Italiener für die Wiederholung großer historischer Gemälde im Film. Schließlich forderte das wundervolle Bauwerk des Colosseums in Rom, ebenso umsonst als Atelier und Kulisse zu haben wie die südliche Sonne, zu filmischer Ausnutzung der altrömischen Geschichte geradezu heraus.
Die Cines nahm die Herausforderung an, und da auch die Arbeitskräfte in Italien viel billiger zu haben waren als sonst in Europa, brauchte man an Statisten nicht zu sparen. Alberini brachte 1909 „Nero und der Brand Roms" heraus, jetzt schon dreihundertfünfzig Meter lang, ein aufregendes Vergnügen von einer guten Viertelstunde.
Die ersten abendfüllenden Filme
Während die Cines sich dieses Gebiet der Filmhistorie weiter ausbaute: „Die Schlacht bei Legnano" (1910), „Der Bettler von Assisi" (1912), wurde sie von der Konkurrenz, der „Italiana" (Unione Cinematografica Italiana) auf ihrem eigenen Felde geschlagen, mit der nächsten Verfilmung von „Quo vadis?".
Von zweiundfünfzig Metern konnte jetzt nicht mehr die Rede sein, man schrieb 1911, der Film wurde „abendfüllend". Für die Mitarbeit am Drehbuch war kein Geringerer als Gabriele d'Annunzio gewonnen worden, Italiens Dichterfürst, die Regie führte Arthuro Ambrosio, der vorher als Kameramann für Pathe gearbeitet hatte.
D'Annunzio, versteht sich, konnte nichts ausladend genug, nichts riesig genug, nichts prächtig genug sein; wie er zehn Jahre später Mussolini „erfunden" hat, die historische Größe unter allen Umständen, so sollte auch der italienische Film Zeugnis ablegen vom Großmut der Nation, wenn dieser auch nur so dekorativ zu brauchen war wie in der überlebensgroßen Gebärde des Marmorungeheuers des Nationaldenkmals in Rom oder im Pathos der prunkvollen Verse d'Annunzios selber.
Im gleichen Sinne wurde „Quo vadis?" inszeniert: für die schaulustige Menge in aller Welt eine üppige Mahlzeit, die mit dem gleichen Genuß verschlungen wurde, mit dem sich die brüllenden Quo-vadis-Löwen an die ihnen vorgeworfenen Christenleiber machten. Besonders das amerikanische Publikum zeigte sich davon entzückt und wollte alle zehn Jahre wieder dieses Gericht aufgetischt haben.
Die italienischen Groß-Filme übertrumpfen sich
Die Schmach, mit „Quo vadis?" ausgestochen worden zu sein, konnte auch die Cines nicht auf sich sitzen lassen. Die Hersteller Ambrosio-d'Annunzio mußten übertrumpft werden, koste es, was es wolle. Und es kostete viel; jedoch dem Geschmack seines Publikums vertrauend, hatte sich ein Amerikaner bereitgefunden, den nächsten, neuen, Quo-vadis-Film der Cines zu finanzieren. Es klingt unglaubhaft, entspricht aber der reinen Wahrheit, daß dieses neuerliche schaurige Freskogemälde - diesmal inszenierte es ein Maler, Enrico Guazzoni - den finanziellen Erfolg seines Vorgängers noch übertraf. Und dies alles noch vor dem Auftauchen Cecil B. de Milles, der dem Genre der historischen Großfilme doch erst den richtigen Auftrieb geben sollte!
Noch größer - noch teurer
Ambrosio von der Italiana ließ sich aber nicht verblüffen; ein Blick auf die am meisten gelesenen Bücher, zu denen ja auch „Quo vadis?", der Roman des Polen Heinrich Sienkiewicz gehörte, hatte ihn auf den Roman des Engländers Bulwer-Lytton „Die letzten Tage von Pompeji" verwiesen. Und er verfilmte diesen übrigens honorarfreien Bestseller.
Es entstand der erste Film, dessen Herstellungskosten eine Million (Goldmark) überschritt; dafür dauerte seine Vorführung auch nicht weniger als drei Stunden. Auch hier hatte ein amerikanischer Verleiher das finanzielle Risiko übernommen, ohne daß er das Wagnis hat bereuen müssen.
Keine künstlerischen Fortschritte mit den Großfilmen
Künstlerisch bedeuten diese italienischen Geschichts-Revue-Filme - ihre Titel lauteten etwa: „Julius Caesar", „Die Sklaven von Karthago", „Der Fall von Troja" - kaum einen Fortschritt. Nur „Cabiria", 1913 gedreht von Piero Fosco, der den „Fall von Troja" inszeniert hatte, macht eine Ausnahme. D'Annunzio hatte die „künstlerische Oberleitung", das Drehbuch stammte von dem Regisseur, der es auf möglichst viele Gelegenheiten für großartig wirkende Szenerien anlegte. Die Texte der Zwischentitel zu verfassen, behielt sich aber d'Annunzio persönlich vor. Der Film behandelt das Schicksal eines römischen Mädchens, Cabiria; vom Ausbruch des Ätna (dem es entkommt) angefangen bis zur Zerstörung von Karthago bleibt ihr nichts erspart. In dem Bestreben des Regisseurs, seine Zuschauer von einer Szene der Schaulust zur anderen zu führen, kam er zwangsläufig dazu, ihm, dem Zuschauer, einige Gedankensprünge zumuten zu müssen, Sprünge über Zeit und Raum.
Mit der Phantasie seiner Zuschauer umgehen
Damit entdeckte der Film ein weiteres Gesetz, das ihn vom Theater unterschied. Er konnte mit der Phantasie seiner Zuschauer anders umgehen, als es die bisher übliche Dramaturgie lehrte. Ausgesprochen hat „Cabiria" diesen Grundsatz noch nicht, aber doch schon angewandt.
Die Kamera wird fahrbar
Der Kameramann dieses Films, der Spanier Segundo de Chomon, probierte hier auch zum erstenmal ein neues Aufnahmeverfahren: das „Carello", d.h., er hatte seinen Kurbelkasten auf Räder montiert, mit denen er z.B. die langen Straßenszenen abfuhr - die „Fahrtaufnahme" war erfunden, die Kamera war beweglich geworden. Fosco hatte diesen Wagen konstruiert, war er doch seiner Herkunft nach Ingenieur (mit dem bürgerlichen Namen Pastrone), und er war sich über die umstürzlerische Neuigkeit des Carello-Verfahrens so im klaren, daß er ein Patent darauf nahm.
Die Portraitaufname des Gesichts
Schon die nächste Möglichkeit des neuen Verfahrens, die Großaufnahme, wurde von Fosco in „Cabiria" ausgenutzt. Die beweglich gewordene Kamera erlaubte es nunmehr, nicht nur an die Bauten heranzufahren, um sie im Detail zu zeigen, sondern auch an die Darsteller, genauer gesagt, an ihr Gesicht. In „Cabiria" sah man den ersten „abgeschnittenen" Kopf des Films, das Gesicht des Mannes, der die römische Flotte in Brand steckt.
Nicht endende Serienfilme werden gedreht
Endlich wurde „Cabiria" noch für einen Darsteller von historischer Bedeutung, für Bartolome Pagano, der die Nebenrolle des Maciste spielte. Ein Hüne von Gestalt, nutzte er den Ruhm dieser Rolle aus und schuf eine nicht enden wollende Serie von „Maciste"- Abenteurerfilmen.
In Deutschland bekannt als „Maciste, der stärkste Mann der Welt", gab er das Vorbild für die bald folgende, nicht minder spannende Reihe des deutschen Alleingänger-Abenteurers Harry Piel. Wer heute eine Aufnahme Paganos aus „Cabiria" sieht, dem wird plötzlich klar, daß kein anderer als dieser „Maciste" mit seinem vorgeschobenen Kinn zum Ideal Mussolinis werden mußte. Zum erstenmal hat sich die Weltgeschichte aus einem Filmideal Impulse geholt ...
Noch etwas aus Frankfreich
Von der französischen Anstrengung, den „Film d'Art" zu schaffen, haben wir bereits gehört; sie stellte die Ausnahme innerhalb der Produktion eines Landes dar, in welchem dank dem Industriegeiste Pathes Filme wie am laufenden Bande hergestellt wurden. Doch man darf nicht nur von Pathe reden, wenn auch sein Wahrzeichen, der gallische Hahn, vorzumachen versucht, daß er allein seine Filmnation repräsentiere.
Pathe hatte auch Konkurrenz - Leon Gaumont
Die Firma Pathe hatte eine Konkurrenz, die im Filmgeschäft schon ebensolange tätig war wie sie selbst, die Firma Gaumont. Leon Gaumont, ihr Chef, hatte genau wie Pathe als Filmapparateverkäufer angefangen, 1895. Dann gliederte er sich einen Zwischenhandel mit Filmen an und stellte auch auf eigene Rechnung einige her, „Die Abenteuer eines Kalbskopfes" hieß sein erster, 1898. Der kometenhafte Aufstieg Pathes bewog ihn, es ihm nachzumachen. Das war jetzt schon nicht mehr ohne größere Geldmittel möglich.
1905 - das größte Filmatelier der Welt
Man schrieb das Jahr 1905, und Pathe war bereits ein Millionen-Unternehmen. Mit Hilfe der „Banque Suisse et Francaise" konnte Leon Gaumont entsprechend starten: er ließ auf den Buttes-Chaumont das größte Filmatelier der Welt errichten und nahm es wie eine Fabrik in Betrieb, welche die Ware Film in regelmäßigen, knappen Abständen auszustoßen hatte.
Sadoul beschreibt den Gaumont-Betrieb recht anschaulich:
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- „Die Darsteller erhielten tausend Francs pro Monat und waren auf drei Jahre verpflichtet. Sie waren Angestellte wie die Architekten, die Tischler, die Regisseure, die Kameraleute. Die Drehbuchverfasser arbeiteten auf Stücklohn und erhielten fünfzig Francs für jeden angenommenen Entwurf ... Vor dem Eingang seiner großen Filmfabrik auf den Buttes-Chaumont erwartete Leon Gaumont, einen schwarzen Strohhut auf dem Kopf, mit der Uhr in der Hand seine Angestellten und schmetterte mit einem Blick den Regisseur nieder, der es sich erlaubte, fünf Minuten nach acht zu erscheinen ... Dank dieser eisernen Kontrolle betrug der mittlere Herstellungspreis eines gewöhnlichen Films nie mehr als zehn Francs pro Meter, der eines komischen Films fünf Franc. Eine Superproduktion zu fünfzig Francs pro Meter bedeutete etwas ganz Außergewöhnliches.
- Die gleichen Methoden und die gleichen Gestehungskosten waren in allen französischen Ateliers die Regel, und Frankreich diente damals der übrigen Welt als Beispiel."
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Nach Gaumont kam auch noch „ficlair"
Gaumont war es gelungen, den phantasiereichsten Kopf unter den französischen Regisseuren, Victor Jasset, für sich zu gewinnen. Jasset kam aus dem Zirkusschau-Geschäft; er hatte für das Pariser Hippodrome prunkvolle Darbietungen inszeniert (das, was man später „Ausstattungsrevuen" nannte), und in diesem Stile produzierte er auch seine Gaumont-Filme, etwa „Die Träume eines Opiumrauchers" oder „Das Leben Jesu Christi".
Jasset bekam Streit mit seinem gestrengen Chef, verließ Gaumont und stellte sich einer dritten Firma zur Verfügung, deren wichtigstes Betriebskapital er bald werden sollte, der „ficlair". Er schuf für diese Gesellschaft die erste Detektivfilmserie der Welt, „Nick Carter" - wieder war filmisches Neuland entdeckt, eine Quelle von ungeahnter Ergiebigkeit angeschlagen.
Erset französische „Kammerspiele"
Jassets Nachfolger bei Gaumont wurde Louis Feuillade, der vom Journalisten zunächst zum Drehbuchverfasser und dann zum Regisseur überwechselte. Feuillade machte die Mode der „großaufgemachten Schaustellungen, die gewisse Leute ihrer Kundschaft als den letzten Schrei großer Kunst vorsetzten" (das sind seine eigenen Worte), nicht mit. Er neigte zu einer intimeren Darstellung und drehte dementsprechend für Gaumont in den Jahren 1911 bis 1913 eine Serie „La Vie teile qu'elle est" - „Das Leben, so wie es ist". „Diese Szenen", schrieb er, „wollen Abschnitte des Lebens sein, und sie sind es. Sie versagen sich jeder Erfindung und stellen die Menschen und Dinge dar, „wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten."
Ein kühnes Programm - und zugleich die Vorwegnahme der „Kammerspiele" des Films, an denen sich zehn Jahre später die Deutschen so erfolgreich versuchen sollten. In ihrem Aufbau erinnert Feuillades Filmserie an die Romanserien Emile Zolas. „Das Leben, so wie es ist" geht, wie Zolas Romane, nicht von einem bestehenden Konflikt aus, sondern sie schafft diesen Konflikt erst, indem sie entsprechend geeignete Themen aufgreift.
Über die Sitten seiner Zeit Gericht halten
So heißen denn Feuillades Filme „Der Geiz", „Der Neid", „Die Verleumdung", „Die Schande", und dazu erfindet er Handlungen, die meist als Tragikomödien auslaufen. Zum erstenmal versuchte der Film, über die Sitten seiner Zeit Gericht zu halten, indem er sie schilderte. Zwar gab sich Feuillades Sozialkritik noch milde - aber das Thema war angeschlagen und sollte seither nicht mehr zur Ruhe kommen. Seine Anklage wollte sich auf die nüchterne Schilderung der Tatbestände beschränken: „Die richtige Atmosphäre schaffen, die genaue Note geben, das Maximum an Wirkung erreichen, ohne auf jene Einfachheit zu verzichten, die dem Werk seine präziseste Bedeutung gibt."
- „Panzerkreuzer Potemkin",
- „Revolte im Erziehungshaus",
- „Verdammt in alle Ewigkeit",
wollten diese späteren Filme etwas anderes ?
Feuillades Popularität erreichte ihren Höhepunkt mit einer
anderen Filmserie, „Fantomas, der Herr des Schreckens", fünf Filmen nach Episoden aus einem damals beliebten Kolportageroman. Der Darsteller des Titelhelden, Rene Navarre, soll drei- bis vierhundert anbetende Briefe täglich bekommen haben. Der Starkult des Films beginnt. „Fantomas" erschien 1913/14 in den Kinotheatern. Der Erfolg war derart überwältigend, daß Feuillades nächste Serien, immer nach dem gleichen Schema, vor der Tür standen: „Les Vampires", 1915, „Judex", 1916.
Diese französischen Serienfilmerfolge hatten die Produzenten in aller Welt aufhorchen lassen. Bald darauf übernahm Amerika den Typ der Serienfilme: sie wurden dort „serials" genannt, und „Tom Mix" sollte „Nick Carter" ablösen, wie Amerika Frankreichs Ruhm als Filmland (und als bedeutendster Filmhersteller der Welt) ablösen sollte.
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