Die kleine Geschichte des Films (verfasst im Jahr 1959)
1959 war es für Taschenbuchverlage noch sehr aufwendig, die Texte ausführlich und komfortabel lesefreundlich zu bebildern. Jedes Bild musste aufwendig positioniert werden und der Text hätte dann nicht mehr verändert werden können. Darum waren die raren Bilder oft in der Mitte auf 10 oder 20 Seiten am Stück gebündelt - so auch hier. Weiterhin wurden bei der Überarbeitung mißverständliche Formulierungen und sonstige Fehler verbessert sowie Kommentare ergänzt.
Kapitel I
SPIELE MIT LICHT UND SCHATTEN
Nachdem das regelmäßige Wunder des Auf- und Niedergangs der Sonne (des Mondes und der Sterne nicht minder) einmal begriffen war, zögerte der Mensch nicht, sich das Licht spielend Untertan zu machen; denn spielen wollte er.
Im müßigen Nachdenken über das Obwalten der Geheimnisse, die den Tag mit der Nacht verbinden, den Schatten mit dem Licht, erfand er das raffinierteste aller Spiele unter der Sonne: die Zeit.
Erst als er sie messen konnte, war sie sein eigen. Der Schatten des in den Sand gesteckten Stabes wanderte: Widerschein einer fernen Bewegung, und auf die Dauer eines Sonnentages lief das erste Schattenspiel ab, für den geduldigen Betrachter schon ein Film.
Man braucht sich nur vorzustellen, daß er an der Spitze des Stabes die rohe flächige Abbildung eines Menschen oder eines Tieres befestigte, und schon wandert dieser Mensch oder dieses Tier geheimnisvoll im Rund, dabei seine Gestalt nicht minder geheimnisvoll verändernd.
Die Sonne und der Schatten als Uhr
Schließlich konnte man die Bewegungsphasen des durch den Stab hervorgerufenen Sonnen-(oder Mond-)Schattens bis auf den Bruchteil einer Minute genau vorausberechnen, die Zuverlässigkeit der Sonne bürgte für die Qualität der Uhr.
Aber gerade dieser Umstand - die Sonne als bewegte Lichtquelle - erwies sich für die Schattenspielereien des Menschen als ärgerlich. Wollte er einen bestimmten Effekt erreichen, so durfte er ihn sich nicht durch die Sonne verkürzen oder verlängern, d. h. verderben lassen.
Das künstliche Licht und dessen Schatten
Er ersetzte also das natürliche, bewegte Licht durch ein künstliches mit festem Standort, und der nächste Schritt ergab sich von selbst, auch das künstliche Licht konnte fortgerückt werden, in waagerechter und in senkrechter Richtung, und das Tempo der Bewegungsphasen lag ganz in der Hand des Spielenden.
Der Junge, der sich in der Sonne Nasen dreht, um das belustigende Schauspiel seines Schattens zu genießen, war nicht mehr auf sie angewiesen. Der lodernde Holzstoß in einer Höhle gab die geschnittenen Fratzen ebenso zurück (ja in ihren Bewegungen noch grotesker), wie sie die stille Kerze an die Wand einer Stube warf.
Das Spiel mit den Schatten
War die Zügelung des Schattens einmal gelungen, hinderte den Menschen nichts mehr daran, diese flüchtigen Gebilde für die Wirklichkeit zu nehmen, das Spiel mit den Schatten, ebenso elementar menschlich wie das Spiel mit Puppen, entwickelte sich zu einer eigenen Ausdruckskunst.
In Kulturkreisen wie dem indischen oder chinesischen nahm es den Platz ein, den im griechisch-europäischen das Theater ausfüllte. Das sind Geschichten für sich, aber ebensowenig, wie man sich im Osten auf Schatten- oder auf kombinierte Sehnten/Puppenspiele beschränkte, ebensowenig verzichtete man im Westen auf das Medium des Schattens als eines künstlerischen Ausdrucksmittels, und noch um das Jahr 1910, als es schon die ersten richtigen Spielfilme gab, wurden in Deutschland eigene Stücke fürs Schattentheater geschrieben, die „Schwabinger Schattenspiele", von so bedeutenden Schriftstellern wie Karl Wolfskehl oder Alexander v. Bernus verfaßt.
Das Schattenspiel verhält sich, was seine technischen Voraussetzungen betrifft, zum Film etwa so wie eine Silhouette zu einer Fotografie. Wenn sie auch eine ganze Welt technischen Fortschritts trennt - das Licht ist ihrer aller Ursprung und Vater, im Anfang war das Licht.
Das Licht in der Physik
Und im Anfang aller Lichtkünste steht der Physiker; jahrhundertelang als Experimentator tätig, schon mit bemerkenswerten Ergebnissen, stellt er eines Tages Theorien auf, Gesetze, nach denen sich die Natur zu richten hat und auch richtet. Wenigstens gilt das für den Bereich der klassischen Physik, dessen Gesetzgeber Isaac Newton heißt. Die Gesetze der Optik, von denen uns hier einige interessieren, gehören zum Glück der klassischen Physik an, man kann sie also noch verstehen.
Doch das Wichtigste sind unsere Augen
Die Grundlage aller Filmerei, d.h. die Tatsache, daß man eine Bewegung als eine Bewegung wiederzugeben vermag, beruht auf der unausdenkbar wohltätigen Eigenschaft des menschlichen Auges, die man die „Nachbildwirkung" nennt. Das heißt, die Netzhaut bewahrt den Bildeindruck, den sie soeben empfangen hat, noch für den Bruchteil einer Sekunde länger auf als nötig, das erste Bild verblaßt erst, wenn das zweite schon von ihr aufgenommen wird, das zweite erst, wenn das dritte schon da ist, das vierte erst, wenn das fünfte ... usw. bis zur Nummer sechzehn.
Tatsächlich ist dies ungefähr die Zahl von Bildeindrücken innerhalb einer Sekunde, die das Auge benötigt, um in uns den Vorgang „Bewegung" hervorzurufen. Ohne diese, wie gesagt, wohltuende „Netzhautträgheit", ohne diese geniale Wiederholung - sich im langsamen Erlöschen mit dem nächsten Bildeindruck zu verbinden - käme nicht die Kontinuität unseres Sehens zustande, das Auge würde starre, voneinander getrennte Bilder aufnehmen, allenfalls eine abgehackte Bewegung, keine fließende.
Das Auge täuschen .....
Wollte der Mensch nun versuchen, fließende Bewegung außerhalb seines Auges zu reproduzieren, so mußte er danach streben, den optischen Vorgang, eigentlich die optische Täuschung ihres Zustandekommens, nachzubilden.
Aber es war ein weiter Weg von der Lehre, die das einfache Experiment gibt: - ein an einem Draht befestigtes glühendes Stückchen Holz so schnell herumzuschleudern, bis der Eindruck eines feurigen Kreises entsteht -, bis zur theoretischen Erkenntnis dieses Vorgangs.
Im Jahre 1824 veröffentlicht der Arzt Peter Mark Roget (ein Engländer Schweizer Abstammung) seine Theorie: „The Persistence of Vision with Regard to Moving Objects", die erste, eigens der Nachbild Wirkung gewidmete wissenschaftliche Untersuchung.
Das „Thaumatrop" aus England
Wenige Jahre vorher hatte ein anderer englischer Arzt, John Ayrton Paris, als Ergebnis seiner optischen Experimente das sogenannte „Thaumatrop" konstruiert - ein großartiger Name für einen Scherzartikel, der heute noch gang und gäbe ist und sich z.B. als Anhänger für Autoschlüssel der Beliebtheit erfreut.
Die ganze Sache besteht aus einer vertikal aufgehängten Scheibe, deren Vorderseite eine unvollständige Zeichnung (oder die querhalbierten Buchstaben eines Satzes) zeigt, während die Rückseite die ergänzende Zeichnung (oder die andere Hälfte der Buchstaben) trägt. Dreht man nun diese Scheibe schnell genug um ihre Achse, so verbindet sich der Bildeindruck von Vorderseite und Rückseite, die sich ergänzenden Zeichnungen beleben sich, ein Mann nimmt den Hut ab - die Buchstaben finden sich zusammen, die Scheibe, die vorher mit Hieroglyphen graviert schien, sagt jetzt: „Ich liebe Dich!"
Die bewegten Seiten eines Buches
Ungefähr den gleichen Effekt erzielt man auch, wenn man ein Buch in die Hand nimmt und es schnell mit dem Daumen zurückblättert. Man braucht also, um den Eindruck dieser Bewegung sinnvoll zu machen, nur die Bilder des umzublätternden Buches in die verschiedenen Phasen der gewünschten Bewegung zu verlegen, und der Eindruck wird erweckt.
Man kann auf diese Weise z. B. einen Reiter das Pferd besteigen sehen. Als Spielzeug waren solche Büchlein während der Biedermeierzeit sehr beliebt, und noch in unseren Tagen tauchen sie gelegentlich auf, meist stark erotischen Inhalts und deshalb die Öffentlichkeit scheuend.
1830 - Das "Phenakistoskop" aus Belgien
Um das Jahr 1830 verwirklichte der belgische Physiker Joseph Plateau eine neue Idee, die er vorher in einer Doktorarbeit theoretisch fundiert hatte: er konstruierte das Phenakistoskop, wiederum einer jener großartigen Namen, die für die Fortschritte auf dem Weg zum Film so bezeichnend sind.
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Er malte den oberen Rand einer Pappscheibe mit den Bewegungsphasen eines Vorgangs, z. B. eines seilspringenden Kindes; drehte man die Scheibe schnell genug, entstand der Eindruck der Bewegung; soweit war die Sache nicht neu. Plateau steuerte aber diese Bewegung, d.h. er kontrollierte sie, indem er das Tempo der Drehung festlegte. Das erreichte er mit einer zweiten Pappscheibe, die er über die erste legte; diese zudeckende Scheibe war schwarz, jedoch mit acht regelmäßig verteilten Schlitzen versehen. Drehte man nun die beiden Scheiben in entgegengesetzter Richtung, so gaben die Schlitze gerade soviel von den aufgemalten Bewegungsphasen frei, wie sie das Auge brauchte, um den Eindruck der normalen Bewegung hervorzurufen.
Das Stroboskop oder „Lebensrad" aus Österreich
Unabhängig von Plateau konstruierte Simon v. Stampfer, ein österreichischer Professor, einen ähnlichen Apparat, er nannte ihn Stroboskop oder „Lebensrad".
Nichts hindert uns daran, diese Apparate schon richtige Filmapparate zu nennen; wenn auch von Optik noch nicht die Rede ist, so geben sie doch gezeichnete Filme wieder, und wäre die Erfindung der Fotografie nicht gekommen - auf dieser Grundlage hätte sich der heutige Zeichenfilm entwickeln können.
Die „Camera obscura" aus Arabien
Schon damals hat man technisch durch den österreichischen General Franz v. Uchatius (1853) die Möglichkeit gehabt und sie auch ausgenutzt, feste Bilder (aber auch die beweglichen etwa des „Lebensrades") auf eine weiße Fläche zu projizieren. Dies geschah mit Hilfe der „Camera obscura", einer ursprünglich arabischen Erfindung, der Leonardo da Vinci große Aufmerksamkeit widmete und die ein deutscher Jesuitenpater, Anasthasius Kircher, dadurch verbesserte, daß er sie mit optischen Linsen versehen hatte. Sie heißt jetzt „Laterna magica".
1823 - die ersten „Momentfotografien"
Aber die Fotografie war erfunden: der Franzose Nicephore Niepces hatte ums Jahr 1823 die erste Aufnahme gemacht, das Stilleben eines gedeckten Tisches, die Belichtungsdauer betrug vierzehn Stunden.
Die Verbesserung der chemischen Verfahren erlaubte es, die Belichtungszeit fortschreitend zu verkürzen - es kam der Zeitpunkt, da man die sechzehn (um bei dieser Zahl zu bleiben) Einzelbilder, die das Auge innerhalb einer Sekunde braucht, um die Illusion der Bewegung hervorzubringen, herstellen, d.h. belichten konnte.
Die „Lebensräder" - lebende, sich bewegende Menschen
Aber lange bevor man solche „Momentfotografien" machen konnte, nutzte man die neue Kunst für die Zwecke der nach den Prinzipien von Plateau/Stampfer konstruierten „Lebensräder" aus. Statt die Scheibe mit dem seilspringenden Kind mühevoll mit den einzelnen Bewegungsabschnitten zu bemalen, fotografierte man dieses Kind, und zwar in Zeitaufnahmen in der Reihenfolge, wie sie die aufeinanderfolgenden Bewegungen erforderten.
Die Mühseligkeit des Verfahrens wurde aber durch den verblüffenden Effekt ausgeglichen: es waren keine gemalten Figuren, die sich da so natürlich bewegten, es waren richtige Menschen!
Wie für die „Lebensräder", so wandte man das Prinzip auch für die „Abblätterbücher" an, Fotografien statt Zeichnungen, man sah in diesen „Volksausgaben" jener teuren Apparate lebende, sich bewegende Menschen!
1875 - die fotografische Flinte
Jetzt erst, mit der Möglichkeit der Momentfotografie - deren Entwicklung ein spannendes Kapitel für sich ist -, sind alle technischen Vorbedingungen des Films gegeben. Man schreibt das Jahr 1875, jetzt haben nur noch die Praktiker das Wort, und sie stürzen sich mit einem Eifer auf die Aufgabe der Verbesserung sowohl der Aufnahmegeräte - deren verblüffendstes wohl eine fotografische Flinte für Serienaufnahmen darstellt, als auch der Wiedergabeapparate, die zunächst nicht, wie man erwarten sollte, in die Richtung der Projektion auf eine weiße Wand gingen - daß man glauben möchte, sie alle hätten das Riesengeschäft gewittert, das mit ihrer Lösung verbunden war.
1887 - Wo der Name "Film" herkommt . . . .
Einen gewaltigen Vorsprung in diesem Rennen gewann der amerikanische Erfinder Hannibal Goodwin, dem es gelang, die chemische (Bromsilber-) Schicht, die man bisher nur auf Glasplatten auftragen konnte, auf Zelluloidstreifen zu binden.
Dieses Verfahren, das dem Film seinen Namen geben sollte („Film" meint nichts anderes als den hauchdünnen Bromsilberüberzug), stammt aus dem Jahre 1887.
1891 - Perforiertes Trägermaterial aus Zelluloid
Zelluloid als Träger der dünnen lichtempfindlichen, d.h. belichtungsfähigen chemischen Schicht brachte außer den Vorteilen seiner Handlichkeit und Unzerbrechlichkeit den Glasplatten gegenüber noch einen anderen: man konnte es perforieren; mußte bisher die Aufnahmekamera jedesmal „vor dem Schuß" neu „geladen" werden, so konnte man jetzt den perforierten Rohfilm in der Kamera, ohne die Unterbrechung des Kassettenwechsels, fortlaufend, drehend, belichten. Man konnte „kurbeln".
Aus der Erfinderwerkstatt Edisons ging dann 1891 das genormte Filmband hervor, wie es heute noch im Gebrauch ist: fünfunddreißig Millimeter breit, mit je vier Perforationslöchern rechts und links.
Edisons Traum - der sprechende Film
Edison hatte sich für Filmapparate zunächst nur im Zusammenhang mit seiner Erfindung, dem Phonographen (später Grammophon genannt), interessiert; was ihm vorschwebte, war der sprechende Film: da er es möglich gemacht hatte, die Sprache auf Wachsrollen aufzunehmen, um sie nach Belieben ertönen zu lassen, sollte es nicht gar zu schwer sein, auch den neuen bewegten Fotografien die Sprache zu schenken.
Edison hatte sich eigens zur Lösung dieses Problems einen Mitarbeiter herangebildet, William Kennedy Laurie Dickson (er verdient es, mit vollem Namen genannt zu werden), der seinem Chef am 6. Oktober 1889 einen von ihm hergestellten sprechenden Filmstreifen - von zwanzig Sekunden Dauer - vorführte.
Mr. Dickson selbst stellt den Star dieses Films dar: er zieht den Hut und begleitet die Begrüßungsgeste mit den Worten: „Guten Morgen, Mister Edison, wie gefällt Ihnen die Sache?" Edisons direkte Antwort scheint nicht überliefert zu sein; Tatsache ist, daß er sich jetzt mit Eifer an die Entwicklung eines Filmaufnahme- und Wiedergabegerätes machte, das war seine indirekte Antwort.
1883 - Das „Zootrop" - ein verbessertes Plateausches Lebensrad
Edison griff auf das sogenannte „Zootrop" zurück, eine englische Verbesserung des Plateauschen Lebensrades. Dieser Apparat, den man später als „Wundertrommel" in den Spielzeugläden zu kaufen bekam, hatte die Projektion der Bilder vermittels einer besonderen Spiegeleinrichtung in das Innere eines trommelartigen Gebildes verlegt.
Ottomar Anschütz und sein „Schnellseher"
Dem deutschen Fotografen Ottomar Anschütz (1846-1907), der sich speziell der Verbesserung der Aufnahmetechnik für Momentfotografien verschrieben hatte, gelang es, aus der „Wundertrommel" einen Apparat zu entwickeln, den er „Schnellseher" nannte.
1892 - das „Elektrotachyskop"
Als „Elektrotachyskop" (elektrischer Schnellseher) baute die Firma Siemens, Berlin, während der Jahre 1892 bis 1895 etwa achtzig dieser Apparate, denen „die optische Vereinigung von Serienfotografien zu lebenden Bewegungsbildern vollkommen und präziser als allen ihren Vorgängern" gelungen war.
Diese Schnellseher, die seit 1890 in Deutschland öffentlich zu bestaunen waren, hatten 1893 auf der Weltausstellung in Chikago neben dem „Zoopraxiskop" des Engländers Eadweard Muybridge ihren ebenbürtigen Platz und wiederholten als „the greatest Wonder of the World" ihren Erfolg, den sie seit der großen elektrischen Ausstellung in Frankfurt am Main, 1891, verbuchen konnten.
Edisons „Kinetoscop"
Es fehlt noch ein winziger Schritt zum Film. Ohne Zweifel vom Anschützschen „Schnellseher" angeregt, sollte Thomas A. Edison dieses letzte Glied der Erfinderkette schmieden.
In erstaunlich kurzer Zeit gelang es ihm, ein brauchbares Wiedergabegerät zu konstruieren, das den Namen „Kinetoscop" erhielt, und dennoch war ihm jemand zuvorgekommen.
1889 - Der Engländer Friese-Greene
Dem Engländer William Friese-Greene wurde am 21. Juni 1889 ein Patent auf einen mit einem Projektor versehenen Filmaufnahmeapparat erteilt, der den einzigen Nachteil hatte, daß die Bilder flimmerten.
Des Deutschen Oskar Meßters „Malteserkreuz" mußte erst noch ersonnen werden, um diesem Übel abzuhelfen. Friese-Greene hat die aktenmäßige Priorität für sich, aber Edisons „Kinetoscop", das im gleichen Jahr auf den Markt kam, den Erfolg.
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Erste Filme für das „Kinetoscop"
Hinter dem amerikanischen Erfinder stand ein bedeutendes Kapital, der englische Erfinder geriet bald in Vergessenheit. Edisons Mitarbeiter Dickson drehte für das „Kinetoscop" die ersten wirklichen Filme für das Publikum, nicht mehr für das Laboratorium. Und er drehte sie auf Rohfilmen der Firma Eastman, nicht auf denen Goodwins, der das Patent auf die Zelluloidstreifen hatte.
Der Film-Krieg Eastman gegen Goodwins
Tatsächlich hatte Eastman von sich aus ein ähnliches Verfahren entwickelt, doch darf man aus dem Ergebnis eines jahrzehntelang dauernden Patentstreites, nach welchem sich die Firma Eastman bereit erklärte, den Erben Goodwins einen Millionenbetrag zu zahlen, schließen, daß Goodwins Idee auch für Eastman einigermaßen wertvoll war.
30 Sekunden Film für einen Groschen
In jener Frühzeit überstürzten sich, wie gesagt, die Ereignisse. Während das Publikum Dicksons Dreißig-Sekunden-Filme gegen die kleine Gebühr von einem Groschen durch die Gucklöcher des Kinetoscopes bewunderte, sann ein ganzer Stab von erfindungsfrohen Technikern bereits darüber nach, wie man jene Filme aus ihrem Gucklöcher-Dasein befreien könnte, denn man sagte sich, daß sie, an die Wand projiziert, gleichzeitig von Hunderten oder Tausenden Zuschauern gesehen werden könnten; bis jetzt war immer nur ein Augenpaar auf jene Filmchen gerichtet.
Aber der große Edison verwarf diesen Gedanken entrüstet. Das hieße, meinte er, „die Henne schlachten, die uns die goldenen Eier legt". Es schien ihm rentabler, seine Kinetoscope zu verkaufen, die bald an den internationalen Vergnügungszentren der Großstädte auftauchten.
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Am 4. April 1894 ein Kassenrekord
Auf der Weltausstellung in Chikago, 1893, hatten sie eine sehr gewinnbringende Sensation gebildet. Am Broadway waren gleich zehn dieser Film-Gucklöcher-Kästen aufgestellt; sie brachten am 4. April 1894 den Kassenrekord von hundertdreiundfünfzig Dollars Tageseinnahme. Es kamen also auf einen Apparat fünfzehn Dollars und dreißig Cents im Durchschnitt oder, da es ein Penny- Geschäft war, fünfzehnhundertdreißig Zuschauer. Kein Wunder, daß sich der neue Schlager schnell herumsprach.
„Kinetoscope" findet man seit
- November 1894 in Paris (Boulevard Poissonniere)
- März 1895 in Berlin (CastansPanoptikum Unter den Linden)
- Juni 1895 in Wien (Prater).
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Immer mehr „Penny-Arcades" in den USA
Daß die amerikanischen Großstädte ihre „Penny-Arcades" hatten, versteht sich von selbst. Das waren die Vorläufer der heutigen Spielhallen, eine Ansammlung automatischer Geräte aller Art. Man konnte mit ihnen sein Glück erproben oder seine Geschicklichkeit, und man konnte aus ihnen seine Zukunft oder ein belegtes Brötchen ziehen. In diese Nachbarschaft gerieten die Filmautomaten Edisons.
Welche Art von Filmen war es nun, die man für geeignet hielt, dem Zuschauer das Wunder der sich bewegenden Bilder einzuprägen? Nun, man ging so drastisch wie möglich vor: laufen, springen, rennen, hüpfen, tanzen, schwimmen, reiten, fahren und gefahren werden, solche Tätigkeiten wurden gezeigt, und damit war man schon auf ein Grundgesetz der späteren Filmdramaturgie gestoßen: der Film will Bewegung, oder umgekehrt ausgedrückt: die Bewegung ist das typisch „Filmische".
Viel Unsinn in 30 Sekunden
Der erste der Dicksonschen Filme für Edisons „Kinetoscop" - jeder einzelne hatte eine Vorführungsdauer von etwa dreißig Sekunden, aber zusammengeklebt und aneinandergereiht und wiederholt konnte man damit schon ein paar Minuten herausholen: genug für einen Penny - der erste Dickson-Film also bestand in der Aufnahme einer Gruppe tanzender Bären.
Nach den dressierten Hunden und den boxenden Katzen (Erinnerungen an den Vorrat des „Zootrops") ließen die lassowerfenden Cowboys und die tanzenden Girls nicht länger auf sich warten, und in dem Streifen „Fred Ott muß niesen" erschien auch schon die erste Großaufnahme eines menschlichen Gesichts, jener mehr beweglichen als bewegenden Beschäftigung hingegeben.
1893 - Das erste Filmatelier
Zur Vervollkommnung der Aufnahme dieser Filme hatte Edison das erste Filmatelier der Welt konstruiert, 1893, ein drehbarer, außen mit schwarzem Blech beschlagener Kasten, der ihm den Namen „Black Maria" (was mit „Grüne Minna", das heißt Gefängnis wagen zu übersetzen wäre) eintrug. Kostenpunkt: ganze 637,67 Dollars. Gleich den allerersten Licht- und Schattenspielen der Welt ging Edison der Sonne nach, deshalb hatte er sein Atelier drehbar gemacht.
Die Blütezeit des Kinetoscops
Die Blütezeit des Kinetoscops fällt in die Jahre 1890 bis 1895. Dann mußte Edison erkennen, daß es ganz ausnahmsweise einmal richtig war, „die Henne zu schlachten, um goldene Eier zu haben", das heißt, die Anziehungskraft der neuen Spielerei war nicht so schnell erschöpft, wie er sich das gedacht hatte. Man konnte die Projektion ruhig aus dem Gehäuse, wo sie nur einem Augenpaar sichtbar blieb, befreien und an eine Wand werfen, an der sie Hunderte, ja Tausende von Augenpaaren gleichzeitig sehen konnten, daß sich die Einnahmen also nicht zu vermindern brauchten, sondern verhundertfachen konnten.
Edisons Fehler - keine weltweiten Patente
Seine „Kinetoscope" hatte Edison in alle Welt verkauft, für Amerika hatte er sie patentamtlich schützen lassen, doch versäumte er es - es hätte ihn hundertfünfzig Dollars mehr an Gebühren gekostet -, sich den Rechtsschutz in aller Welt zu sichern.
Man sagt, daß er geglaubt habe, das Geschäft sei nach dem ersten Rausch bald vorbei...
Ärger aus England - Robert William Paul baut Kinetoscope
Der erste diesbezügliche Ärger kam aus England, wo übrigens Friese-Greenes Patent gültig und Edison also ohnmächtig war; dort baute Robert William Paul, ein Londoner Optiker, der bald auch als Produzent und Regisseur am Filmgeschäft teilnahm, Kinetoscope ziemlich frei nach Edison, die in England und Frankreich gern gekauft wurden.
Als ihm deshalb von Edison keine Vorführfilme mehr geliefert wurden, begann er auf eigene Faust zu drehen. Begabt wie er war, konstruierte er eine brauchbare Aufnahmekamera, die an Beweglichkeit Edisons umständliche Maschine weit übertraf. Erst Pauls mit der Hand zu kurbelnde Kamera ermöglichte es dem Film, „auf die Straße zu gehen" und Aktualitäten einzufangen.
Edison bekam weltweit Konkurrenz - mit Kinos
Jedoch das war das kleinere Fell, das Edison wegschwimmen sah. Eine größere Gefahr zeichnete sich ab: das Kinetoscop-Geschäft drohte der Edison-Gesellschaft aus den Händen zu gleiten. In Amerika, in England, in Frankreich, in Deutschland zogen die Konstrukteure von Projektionsapparaten aus Edisons Zögern Gewinn und gingen erfolgreich an die Verbesserungen, die nötig waren, die Filme aus dem Guckkastendasein zu befreien und sie auf einer weißen Fläche vorzuführen.
Als praktisches Vorbild konnte die „Laterna magica" Pater Kirchers (aus der Camera obscura entwickelt) genommen werden, die Physiker des frühen 19. Jahrhunderts hatten die theoretischen Vorbedingungen längst geliefert. Sicherlich hat sich auch Edison über die Auswertung seiner Filme auf einer Projektionswand Gedanken gemacht, aber da er immer noch daran dachte, die Filme mit Hilfe seines Phonographen „sprechend" zu machen, konnte er, dieses Ziel vor Augen, sich nicht gut vorstellen, daß sich ein großes, in einem Saal versammeltes Publikum mit den stummen Verrenkungen, die es dort zu sehen bekäme, begnügen würde.
1895 - Das Kino wurde erstmal ein Flop
Und die ersten Versuche der Leute, die da anderer Ansicht waren und an die Zukunft des stummen Films glaubten, schienen ihm sogar recht zu geben. Das Jahr 1895, das Geburtsjahr des Films, begann mit Niederlagen: die ersten öffentlichen Vorführungen bei bezahltem Eintritt mit auf die Leinwand projizierten Filmen fanden keine Beachtung.
In Amerika hatten es - im Februar - die Pioniere Jean Le Roy und Eugene Lauste versucht, im Mai Otway Latham (und Söhne) und im September Thomas Armat und F. Charles Jenkins. Sie alle hatten eigene Projektionsapparate gebaut und für die Vorführung Edison-Dicksonsche Filme verwendet. Aber schon nach ein paar Vorstellungen blieb das Publikum weg. Noch war die Attraktion nicht theaterreif.
Die Brüder Lumiere und die Brüder Skladanowsky
Die europäischen Konstrukteure solcher Projektionsapparate mußten andere Wege suchen, um an die Öffentlichkeit zu kommen. In Frankreich hatten die Brüder Auguste und Louis Lumiere - die Söhne eines Fabrikanten fotografischer Artikel in Lyon - ein Patent für einen „Cinematographen", datiert vom 13. Februar 1895, erhalten, in Deutschland waren die Brüder Emil und Max Skladanowsky aus Berlin dabei, ihren „Original-Apparat" zu vervollkommnen, den sie „Bioscop" nannten. Ihr Patent lautete auf „Schneckenradgetriebe zur Fortbewegung eines Filmbandes" - man sieht, daß es um die für eine erfolgreiche Projektion entscheidende technische Frage ging.
Die geniale Idee mit dem „Malteserkreuz"
Aber erst ein Jahr später konstruierte der Deutsche Oskar Meßter - der sich ähnlich wie William Paul in London vom optischen Filmtechniker zum Filmproduzenten entwickeln sollte - das sogenannte „Malteserkreuz", auch als „deutsches Getriebe" bezeichnet, welches den optischen Vorgang des Zustandekommens der fließenden Bewegung (mit sechzehn Bildern in der Sekunde) am natürlichsten zustande kommen ließ: die - vorläufig - letzte technische Lücke war geschlossen.
Die Brüder Lumiere machten "Marketing"
Edison war ins Hintertreffen geraten. Die Brüder Lumiere führten ihre Künste am 22. März 1895 der Gesellschaft zur Förderung der Nationalen Industrie in Paris vor, und kurze Zeit später machten sie sich den Spaß, die Teilnehmer eines fotografischen Kongresses, die in Lyon zusammengekommen waren, zu filmen und das Ergebnis zwei Tage später den staunenden Mitspielern vorzuführen: ohne Zweifel, ihre Apparate hatten Edison geschlagen; im November reisten die Lumieres nach Brüssel, wo sie vor einem Kongreß belgischer Fotografen auftraten: ihre Taktik wurde klar, sie wandten sich an die Fachleute, sie waren Apparate-Hersteller und wollten diese verkaufen.
„Babys Frühstück" oder „Soldaten im Reitsaal"
Die Filme, die dazu gehörten, drehten sie selbst, da waren sie nicht verlegen. Louis stellte sich mit seinem Apparat vor das eigene Fabriktor und filmte die nach Feierabend heimkehrenden Arbeiter. Das Dokument ist erhalten, es macht auch heute noch eine verblüffende Wirkung. Im übrigen hießen die Lumiere-Filme „Babys Frühstück" oder „Soldaten im Reitsaal". Ein anderer Streifen „Abbruch einer Mauer" machte deshalb Freude, weil er auch rückwärts aufgespult wurde, das heißt die Mauer, die man soeben hatte einstürzen sehen, richtete sich im gleichen Tempo, wie sie zusammengesunken war, wieder auf und stand zuletzt in alter Pracht wieder da: ein Gag, der für die ganze Experimentierfreude der Erfinder bezeichnend ist.
„Ankunft des Zuges auf einem Bahnhof"
Der berühmteste der frühen Lumiere-Filme hieß: „Ankunft des Zuges auf einem Bahnhof" - berühmt, weil hier schon die drei Grundeinstellungen der Kamera benutzt wurden, die Totale, die Halbtotale und die Großaufnahme. Zuerst sah man den Zug klein, im ganzen Bild, dann erschien die Lokomotive immer größer (die Zuschauer sollen von ihren Sitzen gesprungen sein, aus Angst, sie könnten überfahren werden), dann hielt der Zug, den Abteilen entstiegen die Reisenden, und schließlich sah man einzelne dieser Personen in Großaufnahme. Für dieses Meisterstück von 1895 hatte sich Louis Lumiere einfach unbekümmert an einen Bahnsteig zu stellen brauchen!
Im Berliner „Wintergartens" die erste öffentliche Filmvorführung
Den Sommer über hatten die Skladanowskys in Berlin ebenfalls eine Reihe von kleinen Filmen gedreht, und sie gingen damit ins Variete. Dort bildeten sie nur eine Nummer unter anderen, das Risiko, das der Veranstalter damit einging, war also nicht sehr groß. So gab es also im Novemberprogramm des Berliner „Wintergartens" die erste öffentliche Filmvorführung in Deutschland, und sie erwies sich nicht als eine besondere Zugnummer.
Die Brüder Lumiere zeigten ihre Filme im Nebenraum eines Pariser Cafes
Größeren Zulauf hatten die Brüder Lumiere, die Ende Dezember im Nebenraum eines Pariser Cafes ihre Filme gegen Entgelt zeigten - ihr Erfolg hing sicher auch mit der besseren Qualität ihrer Apparate und ihrer Filme zusammen. Nur sieben Wochen später, zu Beginn des Jahres 1896, war auch Robert William Paul so weit, den Londonern Filme vorführen zu können. Er hatte sie selber hergestellt, ja teilweise handkoloriert.
April 1896 - Edison zeigt sein „Vitascop"
Wohl oder übel sah sich Edison gezwungen, dieses Rennen um die Gunst des Publikums mitzumachen, die Erfolgsziffern der Brüder Lumiere lauteten immer bedrohlicher. Endlich konnte er ebenfalls mit einem Vorführungsapparat aufwarten, dem „Edison Vitascop", den Thomas Arnet konstruiert hatte. Fünf Monate nach den Brüdern Skladanowsky ging Edison damit ebenfalls in ein Variete, und zwar in „Koster und Bial's Music Hall" in der 43. Straße New Yorks.
Dort wurde am Montag, dem 20. April 1896, als die Nummer acht des Programms Thomas A. Edisons „jüngstes Wunder", das Vitascop, vorgestellt. Es warf ein Dutzend Kurzfilme auf die Leinwand, und sie waren stumm, der Erfinder des Phonographen hatte nachgegeben - die Henne „Kinetoscope" war geschlachtet worden!
Edison kämpft erbittert um seine Patente
Nichtsdestoweniger begann Edison im nächsten Jahr einen erbittert geführten Patentkampf in Amerika, in dessen Verlauf die meisten seiner Konkurrenten unterlagen. Vielleicht haben Edisons Name und Weltruhm mehr zur Annahme beigetragen, er sei der „Erfinder" des Films, als seine tatsächlichen Leistungen. So bedeutend sie auch waren - diejenigen der Brüder Lumiere wiegen ebensoviel, und ohne die Ideen der kleineren Erfinder, der Friese-Greene, der Skladanowskys, der Dickson, Meßter oder William Paul, ohne dieses internationale Zusammenwirken wäre der Film so schnell nicht die internationale Einrichtung geworden, die ein Teil seines Wesens ist.
Das nächste Kapitel II handelt "VOM PENNY ZUM NICKEL"
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