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Die kleine Geschichte des Films (verfasst im Jahr 1959)

1959 war es für Taschenbuchverlage noch sehr aufwendig, die Texte ausführlich und komfortabel lesefreundlich zu bebildern. Jedes Bild musste aufwendig positioniert werden und der Text hätte dann nicht mehr verändert werden können. Darum waren die raren Bilder oft in der Mitte auf 10 oder 20 Seiten am Stück gebündelt - so auch hier. Weiterhin wurden bei der Überarbeitung mißverständliche Formulierungen und sonstige Fehler verbessert sowie Kommentare ergänzt.

Kapitel II
VOM PENNY ZUM NICKEL

Das Filmprogramm der Brüder Skladanowsky im „Wintergarten", wenn auch kein besonderes Zugstück, hielt sich dort immerhin ein paar Monate. Als das Interesse erloschen, das Feld abgegrast war, packten die Erfinder ihr Bioscop zusammen, um die Wundermaschine an anderen Orten vorzuführen.

1896 in Dänemark im Tivoli

Im Sommer 1896 gastierten sie im Tivoli, dem berühmten Vergnügungspark von Kopenhagen - sie unterschieden sich in nichts von reisenden Schaustellern. Gaben sie persönlich diese Tätigkeit auch bald auf, so bleibt sie nichtsdestoweniger bezeichnend für den Weg, den der Film jetzt nehmen sollte. Er wurde zur Jahrmarkts- und Schaubudensensation, eroberte sich später als Wanderkino die Nebenzimmer der Wirtschaften in den Städten und die Tanzsäle auf dem flachen Lande, um schließlich in gemieteten Lokalen, in umgebauten Läden oder in eigens errichteten „Theatern" seinen dauernden Platz zu bekommen.

Ein Jahrzehnt von 1896 bis 1906

Für diese Entwicklung brauchte der Film das Jahrzehnt von 1896 bis 1906. Sie lief in jedem europäischen Land verschieden ab und wiederum verschieden davon in den Vereinigten Staaten. Mit den ersten an die Wand projizierten Filmen waren die Guckkasten-Automaten, diese rentablen Dinger, ja nicht außer Kurs gesetzt, sie blieben munter in Betrieb, in England - wir erinnern uns an den Ärger Edisons - wurden sie von William Paul nachgebaut, und die ähnlichen Apparate der Brüder Lumiere machten ziemlich schnell ihren Weg.

Die Schokoladenautomaten von Stollwerck

Stollwerck Anzeige aus 1894

Im Frühjahr 1896 hatte sich Stollwercks Deutsche Automatengesellschaft die deutschen Rechte an diesen Filmautomaten gesichert. Die Stollwerck-Fabrik, die Gründung eines Kölner Zuckerbäckers, machte über ihre Schokoladenautomaten, die auf allen Bahnhöfen zu finden waren, den größten Teil ihres Umsatzes; ihr „zug"kräftiges Geschäft war mit der bestechenden Idee der Sammelbilder wirkungsvoll verknüpft. Es bedeutete also nichts Geringes, daß sich eine solche Firma für den Film-Groschen-Automaten interessierte.

Jedoch die Entwicklung verlief schneller (seine ersten Lumiere-Automaten zeigte Stollwerck am 19. August 1896 in Hannover), als es sich auch der findigste Kaufmann denken konnte, in einer anderen Richtung.

Die Zukunft liegt in der Projektion

Die goldenen Eier des Films sollte nicht die Henne „Automat" legen, sondern die Henne „Projektion" - um zum letztenmal Edisons unmöglichen, aber deutlichen Vergleich zu gebrauchen.

Die Projektion setzt eine Leinwand voraus und diese einen Raum, den man verdunkeln kann. Also boten sich zunächst die Varietes an, in England die „Music-Halls", in Frankreich die Nebenzimmer der Cafes, in Deutschland die der Gasthäuser. Vorerst aber lohnte es sich für deren Inhaber noch nicht, solche Umstände zu machen.

Für die Schaubudenbesitzer auf den Rummelplätzen und für die von den Messen zu den Jahrmärkten und von den Kirchweihen zu den Schützenfesten wandernden Schausteller erwies sich das Objekt als lohnender. All diese Volksvergnügungsfeste hatten damals als billiges Belustigungsmittel eine viel stärkere Bedeutung und Anziehungskraft, als man es sich heute vorstellen kann. Es gab das Kino noch nicht, und die Schausteller befriedigten mit ihrem Angebot an Weltwundern, die man „gesehen haben mußte", jene sensationslüsterne Neugier, die heute der Film so raffiniert ausbeutet.

Film bedeutete Jahrmarkt und Gaukler

Insofern war der Film auf dem Jahrmarkt ganz an seinem Platze, nichts anderes als eine Attraktion unter seinesgleichen. Für die Schaubudenbesitzer besaß er den lieblichsten aller Vorzüge: er war billig.

Der Artist, der die Dame lebendigen Leibes zersägte, wollte seine Gage haben, die indische Riesenschlange mußte warmgehalten, gepflegt und gefüttert werden - die Filme, die man zeigte, kosteten den einmaligen Anschaffungspreis, und der war niedrig genug.

Filme wurde bislang noch verkauft

Auf die ausgekochte Idee, die Filme zu verleihen, war noch niemand gekommen, die Produzenten verkauften die Kopien, und wer einmal eine Kopie erworben hatte, konnte sie so lange laufen lassen, wie er nur wollte, sie galten als sein völliges Eigentum.

Der Preis für eine Kopie schwankte, je nach der Länge des Streifens und je nach dem „Sujet", zwischen achtzig und zweihundertfünfzig Mark.

Für die Produzenten waren die Herstellungskosten im Durchschnitt gedeckt, wenn sie zwanzig bis dreißig Kopien verkauft hatten, jede Kopie darüber hinaus stellte ihren Gewinn dar. Die „Schlager" unter den damaligen Streifen erreichten nicht selten eine Auflage von zweihundert Exemplaren, d.h., das investierte Kapital konnte sich verzehnfachen.

Damals gab es auch schon "die Kopierer"

Diese einfache Rechnung hatte jedoch eine empfindsame Lücke: man kam bald auf den Gedanken, von einer gekauften Kopie ein Negativ herzustellen, und von einem solchen gestohlenen Negativ ließen sich beinahe beliebig viele neue Kopien anfertigen. Besonders im Austausch zwischen Amerika und Europa war dieser fröhliche Raub gang und gäbe, wer hätte auch kontrollieren sollen ?

Sogar die Edison-Firma geriet in den Verdacht solcher Freibeuterpraxis. Edison hat sich mit dem Hinweis darauf verteidigt, daß er sich in diesem Falle eben nur zurückgeholt habe, was ja durch seine Erfindung sein rechtmäßiges Eigentum geworden sei. Von einem Urheberrecht, das den geistigen oder künstlerischen Inhalt des Films geschützt hätte, war noch nicht die Rede, und solchen Schutz verdienten die damaligen „Films" meist auch nicht.

Die Geschichte der Firma Pathe

Da die Geschichte der Firma Pathe mit den Jahrmarktsanfängen und mit der Jahrmarktsblüte des Films am deutlichsten verknüpft ist, sei sie hier als Beispiel genommen:

Charles Pathe, der Sohn eines Metzgers aus Vincennes bei Paris, hatte ebenfalls dieses ehrbare Handwerk erlernt; aber schon früh trieb ihn Abenteuerlust in die weite Welt hinaus. Er war Ende zwanzig, als er enttäuscht und ohne einen Pfennig in der Tasche aus Südamerika in seine Heimat zurückkehrte. Charles heiratete und war froh, als kleiner Angestellter unterzukommen; sich als Metzger selbständig zu machen, fehlte ihm das Geld.

Im Herbst des Jahres 1894, als er den ersten Edison-Phonographen in Betrieb sah - auch dies ein beliebter Jahrmarktsartikel -, erblickte er in einem solchen Apparat die Chance, sich wieder unabhängig zu machen. Sein Entschluß war gefaßt, er kaufte um einen Preis, der das Sechsfache seines Monatsgehalts als Angestellter betrug, einen Phonographen. Am Abend seines ersten Schaustellertages hatte er so viel verdient wie sonst in einem Monat. Brauchte es einer anderen Überzeugung, den Neuheiten Edisons zu vertrauen ?

Ein Jahr später übernahm Charles, der inzwischen mit seinem Bruder Emile die Firma „Pathe Freres Paris" gegründet hatte, die Generalvertretung für Edisons Phonographen und Kinetuscope.

Edison hatte in Europa "ausgedient"

Wiederum zwei Jahre später hatte die junge Firma Geld genug, um sich von Edisons Lizenzen zu befreien, sie kaufte den Brüdern Lumiere alle Rechte an ihren Erfindungen ab und ging sogleich daran, in Vincennes ein eigenes Filmatelier, das erste in Frankreich (1897), zu errichten.

Ihrer Grammophonfabrik (Walzen) fügte die Firma Pathe Freres eine Filmfabrik an. Diese Bezeichnung ist nicht übertrieben, wenn man hört, daß man dort bald soweit war, ein komplettes Lustspiel im Laufe eines einzigen Vormittags herunterzudrehen (für ernstere Vorwürfe ließ man sich allerdings bis zu anderthalb Tagen Zeit).

Doch greifen wir der Zeit, da Vincennes die Rolle von Hollywood spielte, nicht voraus und fragen wir besser nach dem Inhalt und nach der technischen Fertigkeit der Filme, die Pathe vorfand, als er seine Produktion aufnahm.

Ein Millionär an Einfällen: Georges Melies

In seinem eigenen Lande gab es neben den Filmen der Brüder Lumiere noch die Produktion eines Mannes, die Pathe nicht leicht übernehmen konnte. Der Millionenfirma stand ein Einzelgänger gegenüber, der ein Millionär an Einfällen war: Georges Melies.

Die Umstände seines Lebens lesen sich wie ein Roman, und seine Leistungen verdienten es, daß man diesen Roman verfilmte, anderen Filmpionieren hat man längst ein flirrendes Denkmal gesetzt ....

Georges Melies, der Meister der Zauberkünste

Georges Melies war der Direktor und Eigentümer eines kleineren, aber immer gut besuchten Pariser Theaters, das sein Publikum mit Taschenspielereien und Zauberkünsten erfreute, bis er der denkwürdigen ersten öffentlichen Filmvorführung der Brüder Lumiere als Zuschauer beiwohnte. In seinem Kopf müssen sich sofort die phantasievollsten Filmszenen abgespielt haben, denn er ruhte nicht, bis er in den Besitz eines solchen Zauberkastens kam.

Da er wohlhabend war, bot er den Brüdern Lumiere für die alleinige Ausnützung ihrer wunderlichen Erfindung eine hübsche Summe - aber diese dachten noch nicht daran, zu verkaufen. Robert William Paul aus London war gefälliger und ließ über einen ähnlichen Apparat mit sich reden.

Der Kauf kam zustande, ohne daß Melies gleich eine ganze Erfindung mitzubezahlen brauchte. Melies konnte drehen und vorführen. Wie ein Besessener ans Werk gehend, kurbelte er darauf los und stellte innerhalb eines Jahres auf Kodak-Rohfilmen an die achtzig Filme her; es ist nicht weiter verwunderlich, daß diese sich in Stil und im Motiv nicht sehr von denen der Brüder Lumiere und von denen aus Edisons Kinetoscopen unterschieden.

Durch Zufall fand er die Tricks heraus

Was aber lag für ihn näher als der Versuch, die Zaubertricks, die er auf der Bühne so meisterlich beherrschte, auch auf den Film zu übertragen? Diese Möglichkeit mußte der Kamera also entlockt werden.

Ein Zufall half ihm auf die Spur: Als kühner Kurbler hatte Melies inmitten des Pariser Weltstadtverkehrs Aufnahmen gemacht. Als er sie entwickelt hatte und projizierte, bemerkte er, daß sich da ein gewöhnlicher, biederer Omnibus erschreckenderweise in einen Leichenwagen verwandelt hatte. Die Ursache festzustellen war nicht schwer: beim Kurbeln hatte die Filmspule geklemmt und war für eine kurze Weile stehengeblieben - jedoch der Straßenverkehr hielt nicht inne, und den Platz des Omnibusses hatte inzwischen das düstere Gefährt eingenommen. Die nächste Überlegung mußte Melies sagen, daß es nicht schwer sein müsse, diesen Zufall mit Absicht zu wiederholen.

Neu: Die Doppelbelichtung des Films

Einen nächsten fundamentalen Trick, die Doppelbelichtung des Films, lernte er ebenfalls aus einem Versehen - und schon war es möglich, „Geister" zu filmen, d.h. sie erscheinen zu lassen (durch Übereinanderkopieren) - „fotografieren" konnte man Geister schon lange vorher, wie es denn auch Trickfotografien schon lange vorher gab; Melies aber blieb es vorbehalten, die Geister lebendig zu machen.

Melies baute sich 1898 in Montreuil bei Paris ein eigenes Aufnahmeatelier, das zur Geburtsstätte von filmtechnischen Meisterwerken werden sollte.

Der gelernte Zauberer ließ in seinem ersten Trickfilm eine Dame verschwinden, im zweiten konnte er sie bereits in einen Teufel verwandeln (Teufel waren schon von der „Laterna magica" für derartige Effekte sehr beliebte Geschöpfe), und mit jedem seiner nächsten Streifen verdoppelten sich seine Einfälle. Alle Tricks, die ihm von der Bühne her geläufig waren, wendete er auf den Film an, und in den meisten Fällen gelang ihm eine analoge Umsetzung der Theatertäuschung auf die Leinwand.

Das Theater im Film simulieren

Die Verblüffung seiner Zuschauer mußte um so größer sein, als sie hier, im Gegensatz zum Theater, die verhüllenden Zeremonien und das ablenkende Drum und Dran der Gestikulationen nicht zu sehen bekamen, sondern nur die reine Wirkung des Tricks. In seinem Atelier, das er nach dem Vorbild eines Fotoateliers (mit verschiebbaren Vorhängen zur Regelung der Lichtverhältnisse) hatte errichten lassen, nahm die Nachbildung einer originalgroßen Theaterbühne den größten und wichtigsten Platz ein. Der Vorhang dieser Bühne öffnet sich zu den meisten seiner Zauberfilme, am Ende schließt er sich, der Zuschauer hat das Gefühl, einer Theatervorstellung beizuwohnen, die Aufnahmekamera bleibt starr auf die Guckkastenöffnung, die der Vorhang freigegeben hat, gerichtet.

Es ist also fotografiertes Theater, das Melies vorführt und für das er alle Bühnengebrauchsanweisungen übernimmt, aber es ist Zaubertheater (kein literarisches), und der Regisseur - im Falle Georges Melies darf man zum erstenmal mit Recht von einem Filmregisseur sprechen - vergißt das Zaubern keinen Augenblick und hält sein Publikum in Spannung.

„Die Reise zum Mond" (1902)

Gleich in seinen Anfängen begegnet uns der Film als der große Illusionist. Auch dieses Rezept mußte zum erstenmal gemischt werden. Das großartigste Beispiel für die Vollkommenheit der erzielten Illusion ist sein Film „Die Reise zum Mond" (1902), ein Streifen von zweihundertachtzig Meter Länge, dessen Vorführung eine Viertelstunde dauerte, ein Großfilm also, wie es sich für dieses Thema gehört.

Ausnahmsweise ist der Film erhalten geblieben; später, als es ihm schlecht ging, hat der arme Mann Melies den Schatz seiner Negative als Celluloid-Altmaterial verschleudern müssen. „Die Reise zum Mond" anzusehen, gewährt auch heute noch ein Vergnügen, das sich nicht bloß aus der Sentimentalität erklärt, einem so frühen Film gegenüberzusitzen, sondern das vor allem der frischen Unbekümmertheit entspringt, die man hier an der Arbeit sieht. Dazu gesellt sich ein gleichsam natürlicher Witz, ein Humor, der der Sache, dem Augenblick, der Gelegenheit entspringt und der sozusagen unterwegs mitgenommen wird.

Der inszenierte Film bzw. die Filmregie

Hatte Melies mit den Brüdern Lumiere insofern einen Wettstreit ausgetragen, als diese von den theatermäßig inszenierten Filmen wenig hielten und ihr Heil in solchen Filmen suchten, die sich damit begnügten, „das Leben und nichts anderes" wiederzugeben, so hatte der Zauberer jetzt gewonnen: der inszenierte Film (und mit ihm die Filmregie, auch wenn es sie als einen eigenen Begriff noch gar nicht gibt) hatte bahnbrechend gesiegt.

Es wurde geklaut und kopiert, was das Zeug hielt.

In Amerika liefen Hunderte von Kopien - obwohl ihr Urheber nur fünf dorthin verkauft hatte ... Diesen Raub fand Melies zu weit getrieben; um ihm zu begegnen, eröffnete er ein Jahr später eine Filiale in New York; seinem Verkaufskatalog für Amerika - er hatte jetzt schon ein paar hundert Filme, die meisten nur dreißig bis fünfzig Meter lang auf Lager - stellte er die folgende Warnung voraus:

„Georges Melies ist der Urheber jener klassischen Filme, die aus künstlich angeordneten Szenen gemacht sind. Ihre Schöpfung hat einem in den letzten Zügen liegenden Handel neues Leben gegeben. Er hatte auch den Einfall, phantastische und magische Bilder zu schaffen, und seine Schöpfungen sind seither überall ohne Erfolg nachgeahmt worden. Eine große Anzahl französischer, englischer und amerikanischer Filmfabrikanten, die Neuigkeiten suchten und denen es an Einfällen fehlte, fanden es leichter und billiger, ihre schlechten Kopien, Duplikate von Melies' Originalfilmen, als eigene Ideen zu inserieren ... Wir haben diese Agentur eröffnet, um unsere Rechte zu verteidigen, und dem Gesetz wird Genüge getan werden." (Sadoul)

Die inszenierten aktuellen Ereignsse

Melies' Methode zu filmen, die wir heute mit „Inszenierung" bezeichnen, wird hier noch mit „künstlerisch angeordneten Szenen" umschrieben, was aber nichts daran ändert, daß das Prinzip der Regie damit erfunden ist und schon sorgsam befolgt wird. Ja, Melies ging sogar so weit, aktuelle Ereignisse seiner Zeit zu „inszenieren", d.h. sie im Atelier nachzubauen.

So rekonstruierte er 1899 die „Affaire Dreyfus", so baute er im Jahre 1902 die „Krönung Eduards VII." mit allen Kulissen und unter Befolgung aller Vorschriften der Etikette in seinem Atelier auf - wochenlang bevor das eigentliche Ereignis in London stattfand, und das Publikum sah sich diese vorweggenommene Reportage vorher genauso andächtig an wie später.

Natürlich kann man sich vorstellen, daß man die Zuschauer tief in der Provinz ganz gern in dem Glauben ließ, sie sähen das echte Ereignis ablaufen, ein Fall, wie er nur in den Kindertagen des Kinos denkbar war, als das Staunen noch das Nachdenken überwog.

Melies, der Hersteller solcher Aktualitäten, hat gewiß nicht betrügen wollen - sonst hätte er die „Krönung Eduards VII." nicht schon im Film gezeigt, ehe sie Ereignis wurde - er hat aber damit bewiesen, daß der Film nicht nur künstliche Illusionen schaffen, sondern auch brutal betrügen und fälschen kann.

Der Weg zur politischen Propaganda

Eine Lehre, von der die politische Propaganda gleich nach Ausbruch des ersten Weltkrieges ausgiebigen Gebrauch gemacht hat. Doch auch schon den Tendenzfilm hat Melies geschaffen. In seiner Rekonstruktion der Affaire Dreyfus wählte er die Szenen, die er drehte, so aus, daß alles gute Licht auf den Major Dreyfus fiel, auf dessen Seite er stand.

Die filmische Reproduktion erlaubte also eine Parteinahme, welche die Dokumentation verbot. Nicht nur das plumpe Mittel der Fälschung war entdeckt, sondern auch das verfeinerte der Einsickerung einer bestimmten Absicht in einen scheinbar objektiv dargestellten Handlungsablauf.

Der ungeheuere Kampf um den Nickel

Man muß sich demnach davor hüten, die ersten Filme für „primitiv" zu halten - sie waren es von heute gesehen im technischen Sinne, doch der ungeheuer hart geführte Konkurrenzkampf um den Nickel sorgte dafür, daß jede Möglichkeit, den Zuschauer zu gewinnen, ausgenutzt wurde.

Eine Entwicklung, für welche die Zeitungen hundertfünfzig Jahre gebraucht hatten, übernahm der Film und bildete sie in ebensovielen Wochen aus, er trat als neues publizistisches Mittel meinungsbildend auf. Englische Kameraleute sorgten schon beim Burenkrieg, 1902, dafür, daß mittels gestellter Aufnahmen ihre nationale Sache auch als die einzig gerechte erschien.

Die erotische Neugierde des Publikums

Noch ehe der Film aber als wirkungsvolle Hilfestellung des Patriotismus (aller Länder) entdeckt und mit einem kräftigen „Hurra" in Beschlag gelegt wurde, war er als ein geradezu ideales Mittel erkannt worden, die erotische Neugierde zu befriedigen. Für keinen anderen Film-Inhalt, man mußte ihn nur genügend deutlich versprechen, schien der Nickel lockerer in den Taschen zu liegen.

Schon die Filmchen für das Kinetoscop, von Dickson und Edmond Kuhn - dessen Nachfolger als Kameramann Edisons - aufgenommen, boten eine - im Verhältnis - reiche Auswahl von Aufnahmen von Schleier- und Bauchtänzen und von Entkleidungsszenen bis zu einem gewissen Punkt.

Vor dem Filmautomaten konnte sich die Herrenwelt solche Bilder ungeniert ansehen, sie war bei dem Genuß sozusagen allein, es gab keinen Nachbarn rechts und links. Und wer weiß, ob Edisons Zögern, die Filme zu projizieren, nicht auch auf seine Annahme zurückzuführen ist, das Geschäft mit solchen Aufnahmen müßte schlagartig zurückgehen, wenn die Intimität der Betrachtung gestört würde.

„Die Entkleidung einer Frau von Welt"

Dann hätte er psychologisch nicht bedacht, daß die Projektion eine neue Intimität, nämlich die Dunkelheit, schafft und daß in dem Massengenuß des Verbotenen ein neuer, zusätzlicher Reiz versteckt ist. Die Rolle des „Voyeurs", einer Figur, ohne die kein pornographischer Roman auskommt, konnte jetzt von jedermann gespielt werden. Aber hier soll nicht vom rein pornographischen Film, der ebenfalls nicht lange auf sich warten ließ und dem man auch heute noch in seinen entsprechenden Schlupfwinkeln begegnen kann, die Rede sein, sondern von seiner harmlosen Abwandlung, die das Gesetz erlaubt.

„Rund um eine Badekabine", „Die Entkleidung einer Frau von Welt" oder „Die Kissenschlacht" - so oder so ähnlich lauteten die Titel und die Motive der ersten Einminutenszenen dieser Art; natürlich versprachen sie mehr, als sie halten konnten - doch auf dem Jahrmarkt nimmt man Übertreibungen in Kauf.

Nur Georges Melies machte Pathe Konkurrenz

Blättert man den Katalog der Filme von Georges Melies durch, findet man höchst selten einen Titel, der auf eine Spekulation im Geschmack der Schlüsselloch-Schau schließen läßt. „Eine Braut am Hochzeitsabend" macht da die Ausnahme.

Dieser Zauberer der Dekoration und Hexenmeister der Kamera vergaß, daß er zugleich auch ein Entdecker gefährlicher Filmeigenschaften war, und drehte Märchen - von Rotkäppchen bis zu Aschenbrödel - sowie Feen- und Geistergeschichten, in welchen er seine visuelle Phantasie austoben konnte.

Dieser Mann also - wir würden ihn heute als einen unabhängigen Produzenten bezeichnen (doch war er zugleich auch sein eigener Drehbuchverfasser, Regisseur und Verleiher) - stellte sich der Firma Pathe als einziger ernst zu nehmender Konkurrent gegenüber; die Brüder Lumiere hatten in ihrem Vertrag mit Pathe auf eine Filmproduktion verzichtet.

Pathe, die Erfolge der Konkurrenz nachahmen

Die ersten Filme, die Pathe in seinem Atelier in Vincennes herstellte, beschränkten sich darauf - wie könnte es anders sein -, die Erfolge der Konkurrenz nachzuahmen. Auch dieses Gesetz scheint so alt zu sein wie der Film selbst. Wenn man will, hat Melies Lumiere nachgeahmt und Lumiere Skladanowsky und dieser Dickson und dieser wiederum jenen Zeichenfilmhersteller Emile Reynaud, der bereits 1877 ein „Optisches Theater" vorführte, das unter Verzicht auf Fotografie - nach dem Wundertrommelprinzip - „lebendige" Bilder hergestellt hatte. Seine Szenen bevorzugten die gleichen Themen, sogar die „Badekabine" fehlte nicht. Also tut man auch hier gut daran, das Wort Nachahmung nicht im strengsten Sinne zu gebrauchen. Das neue Spielzeug verlangte überall dort, wo es auftauchte, gleichsam von sich aus nach den gleichen „Sujets".

Ferdinand Zecca, der Schauspieler

Die Firma Pathe hatte die Herstellung ihrer Filme einem Manne anvertraut, von dem sie sicher sein durfte, daß er sich im Geschmack seines Publikums - den Besuchern von Jahrmarktsbuden - auskannte. Er hieß Ferdinand Zecca. Aus einer herumreisenden Artistenfamilie stammend, trat er als Schauspieler auf, wo immer man ihn brauchen konnte, nur nicht an einer großen Bühne - das brachte ihm den Vorteil, daß er genau wußte, was die kleinen Leute sehen wollten und worüber sie Tränen lachen konnten.

Er hatte einige der Wachsrollen des Phonographen besprochen und war dadurch mit der Pathe-Gesellschaft ins Geschäft gekommen. Jetzt übernahm er die Filmproduktion in Vincennes, ein unbezahlbarer Kenner des Vorstadtgeschmackes.

Vom Schauspieler zum Produzenten

Bei den ersten Filmen wirkte er noch persönlich mit, dann blieb ihm dazu nicht mehr viel Zeit, er hatte alle Hände voll zu tun, die Produktion, nach der eine ungeahnt große Nachfrage bestand, zu steigern, indem er sie planmäßig organisierte. Es versteht sich, daß er alle seine Helfer, die er ausbildete, auf seinen Geschmack festlegte.

Die Handlungen seiner Filme glichen jenen leicht ordinären Einaktern, wie sie in den Vergnügungsstätten der Arbeiterviertel (mit obligatem Bierkonsum) üblich waren. An Drastik ließen sie nichts zu wünschen übrig, diese sich um eine Blondine streitenden Matrosen und diese dem Gefängnis der Ehe entschlüpfenden älteren Jahrgänge.

Pathes Filme - die unterste Zumutung an Unterhaltung ?

Bald konnte sich Melies beruhigen, das Genre, auf das sich Zecca spezialisierte, hatte nichts mit seinen Feenstücken und Märchenträumen gemein. Aber diese ersten Pathefilme waren nicht dazu angetan, den Ruf des Films zu verbessern, sie verstärkten nur die Ansicht, die man sich beim soliden Bürgertum von ihm gebildet hatte: das sei eine Sache der untersten Zumutung an Unterhaltung.

Dabei hat Zecca - mit dem Glück eines jeden Pioniers - eine ganze Reihe von aufnahmetechnischen Neuerungen eingeführt und Melies, der konservativ bei seiner die ganze Breite der Bühnen-Öffnung erfassenden Kamera stehengeblieben war, übertroffen. Er scheute sich z.B. nicht, Aufnahmen im Freien zu machen und solche Szenen mit den „inszenierten" der Atelierbühne zu verkoppeln; der theater- und kulissengläubige Melies hätte sich nie dazu verstanden.

Freilichtaufnahmen nicht populär ?

Die Freilichtaufnahmen, übrigens eine konsequente Errungenschaft der ersten englischen Kameramänner aus der Schule von William Paul, fanden beim Publikum damals hauptsächlich deshalb keine große Gunst, weil sie den Zuschauern zu billig, zu gewöhnlich vorkamen. Die Kulissen mußten zeigen, daß sie auch etwas gekostet hatten - so anspruchsvoll war man doch.

Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich die Firma Pathe (ihre Schutzmarke war eine kecke Darstellung des gallischen Hahns) zur führenden Filmfabrik der Welt. Hatte Melies noch der Verkauf von zwanzig bis dreißig Kopien genügt, um ihm einen Gewinn zu sichern, so verkauften die Pathes, bei kaum höheren fixen Kosten, nicht selten mehrere hundert, ja tausend Exemplare.

Pathes Erfolg in Zahlen

Georges Sadoul, der verdiente Historiker des Films, besonders des französischen, berichtet nähere Zahlen:

„Alljährlich hatte der laufende Verkauf von Kopien vor Ende Januar die Produktionskosten für das ganze Geschäftsjahr amortisiert. Durch elf Monate stellte also jeder Meter verkauften Films einen Reingewinn dar. Bald verkaufte man täglich bis zu achtzigtausend Meter Film, und jeder in die Produktion gesteckte Tausendfrancsschein brachte in einem Jahr deren zehn ein ...

Während der Zeit ihrer Vorherrschaft verzeichneten Pathe Freres tatsächlich kolossale Gewinne:

  • Im Jahre 1900: 345000 frs
  • Im Jahre 1902: 910000 frs
  • Im Jahre 1904: 1370000 frs
  • Im Jahre 1906: 6500000 frs
  • Im Jahre 1907: 24000000 frs


.... einschließlich Amortisation, bei einem Anfangskapital von zwei Millionen, das durch Verteilung von Gratisaktien an den Aufsichtsrat auf fünf Millionen erhöht wurde. Und bei dieser Schätzung sind die bedeutenden Anteile des Aufsichtsrates und die Verheimlichung der Buchführung nicht berücksichtigt."

Der Film in der Epoche des Jahrmarkts

Und immer noch befand sich der Film in der Epoche des Jahrmarkts. Es lohnte sich, dem Nickel, dem Eintrittsgeld für die Schaubude, nachzujagen.

In Amerika wurde das beunruhigende Signal zu dieser Jagd durch einen Film „Der große Eisenbahn-Raubüberfall" ausgelöst. Edwin S. Porter, der Leiter der Edinson'schen Produktionsgesellschaft, hatte diesen Streifen als die Rekonstruktion eines wirklichen Vorfalls gedreht. Damit war wider Willen der wilde Westen für den Film entdeckt, denn Porter, ein Anhänger von Melies, ging ungern aus dem Atelier heraus, aber diese Rekonstruktion zwang ihn notwendigerweise dazu.

Weg von der Komik, hin zur Kriminalstory

Eisenbahnen konnte man durch Tricks im Atelier aufnehmen, aber für die auf Pferden davoneilenden Banditen suchte man besser das Freie auf. Mit dieser Rekonstruktion war aber nicht nur der Wildwester geboren, sondern zugleich auch die gefilmte Kriminalstory. Der Inhalt der bisherigen Filme beschränkte sich auf die handgreiflichste Komik oder auf die amüsanten Überraschungen der Tricks, aber ihre Kürze erlaubte ihnen nicht, eine innere Spannung entwickeln zu können. Porters Wildwester schlug auch in dieser Hinsicht eine Bresche, er wurde gleich als Großfilm gedreht. Die enorme Länge der „Reise zum Mond", zweihundertachtzig Meter, erreichte er allerdings nicht.

Dafür schlug er aber einen anderen Rekord: er machte Kasse, und jahrelang ein unermüdlicher Einheimser von Nickels, begann sein Beispiel die Phantasie der Geschäftsmänner zu erhitzen. Nach diesem Edison-Erfolg trat die Konkurrenz auf den Plan.

1905 - Harry P. Davis und John P. Harris mieten einen Laden

Im Jahre 1905 entschlossen sich die Besitzer einer Spielautomatenhalle zu Pittsburg, dem Mittelpunkt des amerikanischen „Ruhrgebiets", die Herren Harry P. Davis und John P. Harris, zur Vorführung des „Großen Eisenbahn-Raubüberfalles" einen Laden zu mieten. Dieser lag inmitten eines Arbeiterviertels in der Smithneid Street.

Das erste feste öffentliche Kino in den USA war damit errichtet.

Kino-Vorführungen von 8.00 Uhr Morgens bis 10.00 Abends

Die Vorführungen dauerten jeweils eine halbe Stunde, und die Nachfrage war so stark, daß sie bereits morgens um acht Uhr begannen, um bis zehn Uhr abends ununterbrochen fortgesetzt zu werden. Die Nickels klapperten nur so. Für die zahlreichen Arbeiter, die eben erst aus Deutschland, aus Polen, aus Italien eingewandert waren und noch kaum ein paar Brocken Englisch verstanden, war es ein geradezu ideales Vergnügen. Sie brauchten nicht mehr verständnislos vor ihrem Bier zu sitzen, wenn ringsum laut gelacht wurde, die Sprache des Films verstanden sie ohne weiteres.

Unter denjenigen, die das Beispiel von Pittsburg hellhörig gemacht hatte, überwogen ebenfalls die Eingewanderten; auch dies ist begreiflich. Nicht, daß sich die „alten" Amerikaner für zu ehrenwert für das neue Geschäft gehalten hätten, sie saßen bereits tief in den Verdiensten irgendeiner fetten Branche. Die Eingewanderten mußten wie ein Luchs aufpassen und die ökonomischen Lücken herausfinden, wenn sie „hochkommen" wollten.

Carl Laemmle kommt aus dem Schwabenland gründet die "Universal Pictures Company"

Als typisch für den Mann, der auf eine solche Lücke wartete, darf Carl Laemmle gelten, ein Einwanderer aus Schwaben. Zwanzig Jahre lang in kleinen Stellungen in der Textilbranche tätig, hatte er sich ein paar tausend Dollars erarbeitet, mit denen er sich selbständig machen wollte. In Chikago wurde er auf das neue Nickelgeschäft aufmerksam.

Weitblickend wie er war, begnügte er sich nicht mit der Einrichtung eines einzigen „Odeons" (dies war die Einheitsbezeichnung für solche Vergnügungsstätten), sondern er dachte sofort nach dem Beispiel von Woolworth an die Gründung von Kettenläden zum Verzehr dieser neuartigen Unterhaltungsware „Film". Ein paar Jahre später hatte er nicht nur dieses Ziel erreicht, sondern sah er sich auch an der Spitze einer großen Produktionsgesellschaft, der Universal Pictures Company.

Über die Anfänge Adolph Zukors - (Paramount-Gesellschaft)

In seinem Buch „Die Phantasie-Maschine, eine Saga der Gewinnsucht", schildert Rene Fülöp-Miller die Anfänge Adolph Zukors, des späteren Präsidenten der Paramount-Gesellschaft:

„Dann gab es einen Pelzhändler in Chikago namens Adolph Zukor; er hatte einem Freund in New York dreitausend Dollars geliehen, und dieser hatte den Betrag in einer >Penny-Arcade< angelegt. Die Nachrichten, die Zukor über den Geschäftsgang dieses Unternehmens erhielt, erregten seine Besorgnis, und wenn ihm auch seine Pelzfirma gute Erträgnisse einbrachte, so war er doch nicht leichtsinnig genug, einem eventuellen Verlust seines Darlehens tatenlos zuzusehen.

Fest entschlossen, dem Betrieb seines Freundes auf die Beine zu helfen, fuhr Zukor nach New York, und da er dort bemerken konnte, welche Anziehungskraft die neuen Edison-Geräte auf die Masse ausübten, verwandelte er die Penny-Arcade in ein Kinetoscop-Theater. Bald waren nicht nur die dreitausend Dollars gerettet, sondern Zukor erkannte, daß dieses Geschäft weit höhere Gewinne abwarf als der Pelzhandel - und so wurde auch Zukor Filmunternehmer."
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