Teil einer Lebens-Biografie von Curt Riess
Der Journalist, Reporter, Auslandskorrespondent und Schriftsteller Curt Riess (1902-1993) hat in dieser in 1956/57 verfassten biografischen Zusammenstellung der Ereignisse in Berlin von 1945 bis 1953 eine Art von Roman-Form gewählt und sehr viele Daten, Personen und Einzelheiten aus der Film- und Kino-Welt untergebracht. Eigentlich ist es eine erweiterte Biografie aus seinem Leben. Sonst ist es ist es leider (im gedruckten Original) eine reine - nicht besonders lesefreundliche - Buchstabenwüste.
Zur Geschichte der Berliner Kinos gehört natürlich auch das Ende des 2. Weltkrieges in Berlin und die politische Entwicklung danach. Die einführende Seite beginnt hier.
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Die Berliner machten sich keine Illusionen mehr
Wer konnte es den Berlinern verübeln, wenn sie zitterten? Wer konnte es ihnen verübeln, daß sie sich ängstlich fragten, ob die Amerikaner denn nun wirklich in der Stadt bleiben würden, ob Clays Worten in dieser Beziehung Glauben zu schenken sei?
Denn schließlich wußten sie: an dem Tage, an dem die Westmächte die Stadt räumten, würden viele von ihnen aufgehängt werden.
Darüber machten sie sich keine Illusionen. Denn die Berliner sind Menschen, denen die Illusion fremd ist. Sie konnten sich ausmalen, wie die Russen mit einer Bevölkerung verfahren würden, die in ihrer überwiegenden Majorität antirussisch eingestellt war.
Das Vermächtnis des Dr. Josef Goebbels
Man konnte sie nicht belügen, auch wenn man es in den Zeitungen des Ostens täglich von neuem versuchte. Sie waren hellhörig geworden, sie hatten ein untrügliches Gefühl dafür bekommen, wo die Wahrheit aufhörte und die Propaganda anfing, wenigstens dies war ein Verdienst Dr. Goebbels.
Viele Berliner wurden in dieser Zeit bitter. Sie verwechselten Ursache und Wirkung und sahen historische Zusammenhänge nicht, wie sie in Wirklichkeit waren. Ein Berliner sagte mir in jenen Tagen: »Wann wird der Westen endlich begreifen, daß man Berlin in seinem jahrelangen Kampf um die Demokratie nicht allein lassen kann?«
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Die Nervosität der Berliner stieg
Offenbar hatte der Mann ganz vergessen, was sich zwischen 1933 und 1945 auch in dieser Stadt abgespielt hatte. Und doch: irgendetwas war richtig an seinen Worten. In irgendeinem nicht genau zu definierenden Sinne war Berlin das Barometer der Besatzungsmächte geworden, und vielleicht auch ein wenig ihr Gewissen.
Die Nervosität der Berliner stieg dadurch, daß sie in jenen Tagen nicht wußten, was um sie herum geschah. Der elektrische Strom war fast immer gesperrt, also war das Radio meist tot.
Die Zeitungen waren überholt, kaum daß sie ausgetragen wurden. Und was durfte man noch glauben? Welche Gerüchte beruhten auf Wahrheit, welche auf Erfindung der Russen?
Auf irgendeine mysteriöse Art sickerte dann doch vieles durch, was wichtig war. Dafür war der Schwarze Markt und sein Verhalten in jenen Tagen ein gutes Beispiel.
Die Wahrheit mit dem Wert der Ost-Mark kam schnell
Kaum daß die beiden neuen "Mark"-Sorten (Ost-Mark und West.Mark) auf der Bildfläche erschienen waren, und man mit diesen wie mit jenen bezahlen konnte, da stellte der Schwarze Markt auch schon fest, daß sie beide beileibe nicht den gleichen Wert hatten.
Von Anfang an wurde die "Russen"-mark nicht so hoch bewertet wie die Westmark, als sei man genau darüber im Bilde, wie es mit der Deckung dieser Mark-Arten beschaffen sei. Und allmählich kam die Russenmark ins Rutschen, dann sank sie, dann stürzte sie ...
Die "Russen"-Mark gab zu zahllosen Witzen Anlaß.
Viele nannten sie nur noch »Tapetengeld«, womit sie andeuten wollten, sie sei gerade gut genug dazu, als Schmuck der Wände zu dienen.
Im übrigen gab es überhaupt sehr viel Witze, die man sich um diese Zeit in Berlin erzählte, als sei die Lage gar nicht so ernst.
Besonders beliebt war folgende kleine Anekdote:
Zwei Sklavenhändler auf einem römischen Sklavenmarkt stürzten sich auf einen Sklaven, von dem jeder von beiden behauptete, er gehöre ihm, versuchten ihn in verschiedene Richtungen zu zerren und schlugen auf ihn ein mit den Worten: »Du bist mein Sklave, du hast mir zu folgen!«
Der Sklave seufzte nur und meinte: »Wenn die Herren sich darüber streiten, wem ich gehöre, warum schlagen Sie denn dann auf mich ein, warum schlagen Sie denn nicht aufeinander ein?«
Viel kolportiert wurde auch eine parodistische Notiz in einer Berliner Zeitung, die wie folgt lautete:
»Achtung! Berliner! Ab sofort ist, wie soeben als dreihundertfünfundachtzigste Zusatzbestimmung zu den vorläufig nur zwei Währungsreformen in Berlin von einer zuständigen Stelle bekannt wird, die Ausgabe verbotener Neugeldscheine nur noch erlaubt gegen Altgeldscheine nach Aufdruck des erst in den nächsten Tagen vorzunehmenden neuen Sonderstempels, der aber nicht sichtbar sein darf, andernfalls er gültig ist.
Der Sonderstempel wird nur in den vier Sektoren, nicht aber im Gebiet von Großberlin gegeben und dies nur an solche Personen, die nicht mehr im Besitz der genannten Geldscheine sind, die gestempelt werden können. Ein besonderer Merkbogen zur Erklärung dieser neuesten Verfügung wird nicht herausgegeben, muß aber auf jeden Fall von allen Personen im juristischen Sinne abgeholt werden.«
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Die Wahrheit über den wahren Berliner
Als ich dies und Ähnliches hörte, und wenn ich mir überlegte, wie ruhig die Berliner in diesen Tagen dennoch blieben, in denen so Unerhörtes über sie verhängt wurde, dann tauchte langsam ein Bild vor mir auf, das schon ein wenig alt und vergilbt war und dessen Existenz ich schon vergessen hatte: das Bild des Berliners aus den guten "Vor-Hitler-Zeiten".
Ja, so war er: vieles war ihm schnuppe, er war ein bißchen skeptisch und gleichgültig, keß, mit einem gewissen trockenen Humor begabt, äußerlich rauh, aber doch immer hilfsbereit, und von einer Kameradschaft, wie der Asphalt übervölkerter Städte sie schafft, vor allem aber: er war schnell und hell in seinen Reaktionen.
Ja, so war der Berliner einmal gewesen, so hatten wir ihn in hundertfacher Ausführung kennengelernt, als Taxichauffeur und als Zeitungshändler, als Conferencier im Kabarett und als Sechstagefahrer, als Leitartikler und als Schieber ...
Und keiner, der diesen richtigen Berliner gekannt hatte, konnte sich dabei der Wahrheit verschließen, daß er wirklich, um Berlinisch zu sprechen, »richtig« war.
Und nun war er, sozusagen über Nacht, wieder geboren. Er war wieder da, der alte Berliner. Und vielleicht, so dachte ich jetzt, war er nie wirklich fortgewesen.
Vielleicht hatte er auch unter den Nazis weitergelebt, und vielleicht war dies der Grund dafür, daß die Nazis Berlin nie richtig erobert hatten. Die Berliner konnten sich nun einmal für hohle Schlagworte nicht erwärmen - und es war unwahrscheinlich, daß, was Dr. Goebbels nicht gelungen war, nun dem Obersten Tulpanow gelingen sollte.
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Schon wieder eine belagerte Stadt
Ja, vielleicht könnte man sagen, daß Berlin auch unter den Nazis eine Art belagerte Stadt gewesen war, so daß die Erfahrungen, die die Berliner jetzt durchmachten, ihnen nicht ganz neu waren.
Das mochte ihre Ruhe erklären, als nun die Flugzeuge der »Operation Vittles« mit wenigen Sekunden Abstand über ihren Häuptern dahinbrausten. Denn diese Ruhe wurde für jeden unvergeßlich, der die Blockade von Berlin miterlebte.
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Berlin - das waren jetzt (nur noch) zwei Städte
BERLIN war keine viergeteilte Stadt mehr. Berlin - das waren jetzt zwei Städte, die, wenn sie an den entgegengesetzten Enden der Welt gestanden hätten, nicht weiter voneinander hätten entfernt sein können.
Übrigens stellten die Russen ausdrücklich am 1. Juli, also bald nach Beginn der Blockade, durch ihren Stabschef, Oberst Kalinin, fest, daß nach sowjetischer Ansicht die Viermächte Verwaltung Berlins zu existieren aufgehört habe.
Nichts hatte sich bei den Russen geändert, sie lügen immer noch
Um so erstaunter mußte man sein, als vier Wochen später, gelegentlich eines Empfanges der polnischen Militärmission, Marschall Sokolowsky dem Berliner Korrespondenten der "United Press", John Mac Dermott, erklärte, die Abschnürung Berlins von der Außenwelt sei eine Vergeltungsmaßnahme für die Einreiseeinschränkungen sowjetischer Offiziere in die amerikanische Zone.
Falls die Amerikaner sie aufheben würden, würden die Blockademaßnahmen ebenfalls aufgehoben werden. Wenige Stunden später erklärte die amtliche russische Nachrichtenagentur TASS, der Marschall habe nichts dergleichen gesagt, und der amerikanische Journalist sei vermutlich betrunken gewesen.
TASS konnte nicht wissen, daß McDermott seit dreißig Jahren Abstinenzler ist.
Der Russe - Marschall Sokolowsky
Es war kein Zufall, daß Sokolowsky von Moskau nun schon zum zweiten Male desavouiert wurde; das erste Mal hatte er sich selbst dementieren müssen gelegentlich des Zusammenstoßes der russischen und britischen Flugzeuge über Gatow. Aber das machte ihm wenig aus.
Sokolowsky konnte so, aber er konnte auch anders. Er hatte viele Meinungen, aber keine eigene. Er war eben ganz anders, als man sich einen Mann seiner Stellung vorstellt, ganz anders auch, als er aussah.
Er wirkte gewissermaßen wie aus einem Guß. Ein Meter neunzig groß, breitschultrig, stiernackig, mit ernstem, entschiedenem Gesicht, das durch die schweren schwarzen Brauen und den martialischen Blick der Augen bestimmt wurde, mit den gemessenen sparsamen Bewegungen, die auf Selbstdisziplin und Willenskraft schließen ließen, schien er die Personifikation des kompromißlosen Soldaten.
Der andere Marschall Sokolowsky
Aber es gab auch einen anderen Sokolowsky, der gar nicht in die Marschalluniform paßte und nicht zu den vierzig Orden, die seine Brust bedeckten, einer, der ganze Nächte lang unruhig durch sein Schlafzimmer humpelte, weil ihm eine Beinverletzung aus dem Ersten Weltkrieg zu schaffen machte; einer, der sechzig bis achtzig Zigaretten pro Tag rauchte und die Nerven verlor, wenn er eine halbe Stunde lang keine Zigarette zwischen den Lippen hatte, und der dann plötzlich Dinge sagte oder tat, die das Polit-Büro seine kollektiven Hände über seinem kollektiven Kopf zusammenschlagen ließ, worauf Sokolowsky eiligst zur Berichterstattung nach Moskau fliegen mußte.
Niemand schien recht zu wissen, wie es kam, daß er für eine so hohe Stellung auserkoren war. 1897 geboren, in kleinen, aber durchaus nicht revolutionären Kreisen aufgewachsen, kam er im Verlauf des Bürgerkriegs zum Kommunismus und machte in der Roten Armee, in der man seine militärische Begabung sofort erkannte, schnell Karriere.
1942 war er Shukows Generalstabschef in der Schlacht um Moskau, organisierte den Nachschub in der Schlacht um Stalingrad und war dann maßgeblich am russischen Vormarsch beteiligt. Anfang 1945 besetzte er den südpolnischen Raum, dann Schlesien und spielte schließlich eine Rolle bei der Einnahme Berlins.
Trotzdem gehörte er nie zu den populären russischen Armeeführern wie etwa Shukow, Koniew, Rokossowskij, Timotschenko, Woroschilow, Budjenny.
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Eigentlich gab es den Sokolowsky gar nicht
In einem so maßgeblich offiziellen Werk wie »Der Große Vaterländische Krieg der Sowjetunion« war sein Name nicht einmal erwähnt.
Um so größer das Erstaunen in sowjetischen wie in westlichen Kreisen, als er am 10. April 1946 zum Nachfolger Shukows in Berlin und zwei Monate später zum Marschall der Sowjetunion ernannt wurde.
Man kam der Wahrheit wohl am nächsten mit der Vermutung, daß dieser robuste und augenscheinlich so undiplomatische Offizier noch immer der beste Verhandlungsgeneral war, den die Sowjetunion damals zur Verfügung hatte.
Dafür sprach ein Satz, den ein hoher sowjetischer Offizier mir gegenüber im Juli 1948 fallen ließ. Damals war Marschall Rokossowskij in großer Heimlichkeit nach Berlin geholt worden. Viele von uns vermuteten, daß er Sokolowskys Stellung übernehmen würde.
»Das kommt gar nicht in Frage«, erklärte mir jener Offizier. »Nehmen wir an, daß der Kontrollrat wieder tagen würde. Rokossowskij wüßte ja nicht einmal, was er in einer Verhandlung mit den Alliierten sagen oder nicht sagen dürfte!«
Man nahm bei den Russen also wohl an, daß Sokolowsky zumindest dies wußte, und daß man ihn brauchen würde, wenn es früher oder später zu "Verhandlungen" mit den Alliierten käme.
Sokolowsky wurde offensichtlich für "später" geparkt
Man ließ ihn also in Berlin, weil man nicht wußte, wohin der Kurs ging, wenn man ihn nicht überhaupt deswegen ursprünglich nach Berlin gesandt hatte. Man wußte, daß Sokolowsky so konnte - aber auch anders.
Es machte ihm nichts aus, daß er weniger Handlungsfreiheit besaß, als etwa ein Hauptmann in der amerikanischen Armee. Jener Offizier, der ihn gut kannte, sagte mir, gute Beziehungen zu den Westmächten zu halten, sei ihm sein oberstes Prinzip gewesen.
Aber in Moskau habe man anders entschieden und seine Autorität untergraben. Ein ausführendes Organ, ein Soldat, der mehr gewohnt war, Befehle zu erhalten, als sie zu erteilen. Diese Befehle erhielt er in Form von hektographierten Denkschriften, zweimal pro Monat, durch einen Kurier des Generalstabschefs des Oberkommandos der Roten Armee.
Außerdem telefonierte er fast jeden Abend eine gute Stunde auf direkter Leitung mit Moskau. Aber meistens war es so, daß sein Vertreter, Generalleutnant Dratwin, früher über den Inhalt der Moskauer Botschaft informiert war als der Marschall.
Das kam daher, daß Dratwin seit langem in inniger Freundschaft mit dem Oberst Sergej Tulpanow, dem Leiter der politischen Informations-Abteilung, verbunden war. Trotzdem führte Sokolowsky alle Befehle mit einer Art dumpfer Selbstverständlichkeit aus, als sei er nie auf den Gedanken gekommen, es sei möglicherweise nicht alles richtig, was zu tun und zu sagen ihm aufgetragen wurde.
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Und noch eine neue Seite von Marschall Sokolowsky
Symptomatisch für seine Einstellung oder vielleicht für den Mangel an Einstellung war, daß er noch lange nach Beginn der Blockade gesellschaftlichen Kontakt mit den Vertretern der Westmächte aufrechtzuerhalten versuchte.
Er sah darauf, daß sie zu allen sowjetischen Empfängen und Festlichkeiten eingeladen wurden. Oberst Tulpanow schätzte dergleichen weniger und erklärte mit zynischer Offenheit Sokolowskys Offizieren gegenüber: »Der Marschall ist ein verdienter Rotarmist, aber ein weniger guter Kommunist.«
Auch der Westen hatte weniger Verständnis für Sokolowskys gesellschaftliche Bemühungen. Als Sokolowsky nach einer besonders bösartigen Attacke sowjetisch-lizensierter Zeitungen auf General Clay diesem gelegentlich eines Empfanges spontan die Hand drückte und erklärte, er hoffe, der General bleibe ihm trotzdem gewogen, antwortete Clay ziemlich kalt: »Aber natürlich habe ich nichts gegen solche Zeitungsartikel, ich habe nur etwas gegen die Schweine, die die Zeitungen zwingen, dergleichen Attacken zu veröffentlichen.«
Als kurz darauf Sokolowskys Auto im amerikanischen Sektor Berlins wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von amerikanischer Militärpolizei gestoppt wurde, verfügte Clay, daß der Marschall nicht weiter belästigt werden sollte - und dies schon nach einer guten halben Stunde, auch ließ er die Zeitungen wissen, daß die Militärpolizei von einer Anzeige absehen würde.
Ein letzter Versuch, die Berliner "zu gewinnen"
Nur ein einziges Mal in diesen Monaten gelang es den Russen, die Sympathien der Berliner zu gewinnen. Das war nicht lange nach dem Beginn der Blockade, als der Chor und das Ballett der Roten Armee Vorstellungen gaben und sämtliche Zuschauer, gleichzeitig ob Kommunisten oder Antikommunisten, Deutsche oder Alliierte, in Begeisterung versetzten.
Das Ensemble bestand aus »Volkskünstlern« im besten Sinne des Wortes. Die Lieder, die sie sangen, die Tänze, die sie zeigten, schienen aus dem russischen Wesen geboren.
Gewiß, die technische Ausführung war exakt oder vielmehr grandios, aber man vergaß das, man dachte nicht mehr an Kunst, es war alles ganz ursprünglich. Wildfremde Menschen umarmten einander im Zuschauerraum, ordensgeschmückte sowjetische Offiziere, die sonst so finster dreinsahen, gerieten in Ekstase, und ihre amerikanischen, britischen und französischen Kollegen standen ihnen wenig nach. Dieses eine Mal, freilich nur dies eine, sahen die Berliner, daß die Russen auf ihre Art liebenswert sein konnten.
Aber das dauerte nur ein paar Tage. Und als Chor und Ballett die Einladung der amerikanischen und britischen Militärbehörden ablehnten, auch in den westlichen Sektoren der Stadt aufzutreten und also die einmalige Gelegenheit ausschlugen, auch dort Sympathien zu gewinnen, wo sich viel Bitterkeit gegen die Russen angehäuft hatte, wußte man Bescheid.
Der Zauber, der von der russischen Volkskunst ausging, der mehr vom echten Rußland hatte, als die öde Tyrannei des Stalinismus, war dieser dienstbar. Die »russische Seele« war ein Mittel zum politischen Zweck geworden, ein Theaterrequisit, das man, nachdem es gebraucht war, wieder von der Bühne verschwinden ließ.
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Wieder ein Blick rüber in den Osten Berlins
Karl Schwarz von ADN hatte in diesen ersten Wochen und Monaten der Blockade kaum eine freie Minute. Die Ostzeitungen brauchten täglich Material, um die drei Propagandathesen, die die Russen verfochten, zu unterstützen.
Diese waren:
- erstens, die Versorgung Westberlins bricht zusammen;
- zweitens, die Luftbrücke ist völlig unzulänglich und bedeutet Kriegsgefahr;
- drittens, die Westberliner Bevölkerung sehnt sich danach, daß die Amerikaner, Briten und Franzosen abziehen.
Anfänglich glaubte Schwarz, daß zumindest die ersten beiden Thesen zu stützen seien. Besonderes Entzücken riefen Berichte bei den Russen hervor, daß die westlichen Besatzungen einen Teil ihres Personals aus Berlin nach dem Westen verlagerten.
Die Russen zählten die ausreisenden Franzosen, Briten und Amerikaner und übergaben diese Zahlen ihrer Presse. Sie vergaßen aber, diejenigen zu zählen, die nach Berlin zurückreisten.
Die Meldungen machten anfangs einen gewissen Eindruck auf die Berliner. Dann aber merkten sie, daß es nicht weniger amerikanische und britische Uniformen in Berlin gab, als vorher. Nun glaubten sie nichts mehr, was in der östlichen Presse stand.
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Ulbricht, Grotewohl und Pieck waren wirklichkeitsfremd
Nur die hohen kommunistischen Funktionäre waren nicht zu belehren. Die Ulbricht, Grotewohl und Pieck waren überzeugt, daß Berlin, das sie am 20. Oktober 1946 verloren hatten, ihnen wie eine reife Frucht in den Schoß fallen würde. »Es ist bald soweit. Die Amerikaner müssen klein beigeben!« sagten sie.
Alle drei waren keine großen Leuchten, nicht mal Mittelmaß - und dazu unter der Fuchtel der Russen.
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Die neuen "Journalisten" in Ost-berlin
Auch unter den östlichen Journalisten gab es nur wenige, die wie Schwarz einsahen, daß die Schlacht noch lange nicht gewonnen war. Vielleicht ging es ihnen dafür zu gut.
Diese Männer und Frauen, die während des Hitler-Regimes viele Jahre in Konzentrationslagern gesessen oder ihr Leben in der Emigration - in Moskau, oder auch in London oder New York - gefristet hatten, erfreuten sich zum erstenmal eines gewissen, wenn auch bescheidenen Wohlstandes.
Die Russen hatten ihnen Wohnungen zugewiesen, aus denen Arbeiter oder Angestellte vertrieben worden waren, und nun lebten sie weniger wie Revolutionäre denn wie Kleinbürger.
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In der Ostzone gab es von Anfang an "Privilegierte" und andere
Sie gehörten zur privilegiertesten Kaste, die das an Abstufungen so reiche kommunistische System aufzuweisen hatte. Sie bekamen Monatsgehälter von fünfzehnhundert bis dreitausend (Reichs-) Mark, was damals in Berlin viel Geld war, und sie brauchten ein Drittel davon nicht einmal zu versteuern.
Sie bekamen von Tulpanow besondere Prämien für »gute Artikel«, die die »Prawda« angeblich benützen würde, es aber nie tat - damit konnten sie weitere tausend Mark verdienen. Sie bekamen ein Auto, ein komfortabel ausgestattetes Büro und monatlich einen »Pajok«, das heißt ein Paket mit vierhundert Zigaretten, Fleisch, Butter, Zucker und Scheinen, die zum billigen Einkauf von anderen Nahrungsmitteln, auch Wodka und Kleiderstoffen in sowjetischen Militärläden berechtigten.
Sie hatten also etwas zu verlieren, diese Propagandisten Stalins in Berlin, und sie konnten es sehr schnell verlieren, wenn sie von der »Linie« abwichen, wenn sie etwa »objektive Agenten«, »Handlanger des Imperialismus« oder gar »vom Westen ausgehalten« wurden, worunter alles und nichts zu verstehen war. Sie wurden dann zu Bergwerksarbeitern degradiert, ohne Pajoks, ohne Autos und ohne Prämien von Tulpanow.
Es war ein gefährlicher Nebel, in dem sie stochern oder agitieren mußten
Ihr Dilemma war, daß sie nie vorher wissen konnten, was ihr Brotgeber eigentlich von ihnen verlangte. Zum Beispiel kam es Tulpanow plötzlich in den Sinn, daß Ostzeitungen Meldungen von AP und UP benützen sollten, um so ihre »Objektivität« unter Beweis zu stellen.
Natürlich handelte es sich um nicht dem Sinn entsprechend übersetzte Meldungen, um aus dem Zusammenhang gerissene Fakten oder gar um plumpe Fälschungen - aber wer konnte einer Zeitung vorwerfen, kommunistische Propaganda zu treiben, wenn sie ihre Nachrichten aus amerikanischen Quellen schöpfte?
Von einem zum anderen Tag änderte Tulpanow dann seine Ansicht, und nun konnte gar nicht genug auf die Amerikaner geschimpft werden. Sie waren »Luftbrückengangster« und »Reutergesindel«, sie waren »Mörder« und »Diebe«, vor allem aber »Kriegshetzer«.
Es war nie zweifelhaft, daß die Männer und Frauen, die das schreiben mußten, nicht alles glaubten, was sie schrieben. Aber dieses gemeinsame Bewußtsein verleitete sie nicht etwa dazu, offen und zynisch über die Lügen zu witzeln, die sie täglich publizieren mußten.
Wie kam es, daß sie, die doch nicht gerade dumm waren, nicht begriffen, daß diese Propaganda auf die Bevölkerung abstoßend wirkte?
Mein Freund Karl Schwarz meinte dazu ....
Ich fragte Schwarz mehr als einmal darüber, und er meinte, diese Frage könnten die Ostjournalisten wohl kaum beantworten.
Er selbst versuchte eine Antwort. »Sie leben seit Jahren in der Traumwelt politischer Spekulation, in der es für sie nur einen festen Punkt gibt: die Sowjetunion. Die eigentliche Welt der Journalisten, die Öffentlichkeit, die Welt des Mannes auf der Straße, ist ihnen verschlossen. Dafür sorgen Gehalt, Pajok, Auto, Büro. Sie sind isoliert. Sie sind die Funktionäre der stalinschen Propaganda, und sie haben es aufgegeben, mehr zu sein!«
Als der "Sieg der Russen" in immer fernere Spähren rückte
Übrigens wurde es für die Ostjournalisten immer schwieriger, den baldigen Sieg der Russen zu prophezeien. Die Russen hatten die Blockade nicht sorgfältig genug geplant, sie hatten niemals erwogen, daß Berlin aus der Luft versorgt werden könne.
Nachdem sie einmal die ersten Flüge von Maschinen mit Lebensmitteln zugelassen hatten, konnten sie nicht mehr gut dagegen protestieren. Um so systematischer schnürten die Russen die Stadt ab.
Selbst die Belieferung der Milch für Babies und Kinder, die bis dahin aus der Ostzone gekommen war, wurde nicht mehr zugelassen. Man wollte also die Berliner verhungern lassen und der Welt erzählen, die »westlichen Imperialisten« seien an diesem brutalen Akt schuld.
Neuer Slogan : »Selbstisolierung der Berliner Westsektoren«
Oberst Tulpanow allerdings wußte genau, daß es schwer halten würde, diese Verdrehung der Tatsachen auch nur in Worte zu kleiden. So erfand er den Begriff der »Selbstisolierung der Berliner Westsektoren«.
Er argumentierte wie folgt: »Da uns die Anwesenheit der Westmächte in Berlin unbequem ist, ist es Sache der Deutschen, sich von ihnen zu befreien Da dies nicht geschieht, haben sie die >Selbstisolierung< vollzogen. Wir tragen jedenfalls keine Schuld.«
Darauf fiel natürlich niemand herein, vor allen Dingen niemand in Berlin. Das wäre Tulpanow gleichgültig gewesen, es war den Russen ja immer gleichgültig, wie eine Bevölkerung, die sie kontrollierten, reagierte.
Nicht gleichgültig war ihm die Empörung der Welt, die schnell um sich griff, weil sie Moskau nicht gleichgültig bleiben konnte. Und so wurde denn den Berlinern am 26. Juli die Versorgung der gesamten Stadt mit Lebensmitteln angeboten.
Und wieder ein durchschaubarer Trick der Russen
Freilich sollten die Berliner ihre Lebensmittel im Osten der Stadt kaufen. Diese Bedingung allein zeigte schon, daß das Angebot nicht ernst gemeint war. Seine Annahme hätte bedeutet, daß eine Million Hausfrauen täglich quer durch Berlin hätte fahren müssen - eine verkehrstechnische Unmöglichkeit.
Die Berliner Bevölkerung reagierte auf das Angebot der Russen überhaupt nicht. Von zweieinhalb Millionen Westberlinern kauften während der Blockade nur etwa 60.000 im Osten, obwohl es dort das gab, was es im Westen nicht gab: frisches Gemüse und frisches Fleisch.
Aber auch unter diesen 60.000 waren viele, die gezwungen wurden, im Osten zu kaufen, weil sie im Osten arbeiteten und sonst ihre Arbeitsstelle verloren hätten.
Selbst diejenigen, die in der Nähe der Ostsektorengrenze wohnten oder nur eine Straße hätten überqueren müssen, um dorthin zu gelangen, lehnten in ihrer überwiegenden Mehrheit das Angebot der Russen ab.
Langsam entwickelte sich wieder die Solidarität der Berliner
Die Berliner begriffen, daß sie in dieser Stunde zusammenhalten mußten, wenn sie die Absichten der Russen zunichte machen wollten. Ein neues Gefühl der Solidarität entwickelte sich. Die Menschen waren wieder bereit, Opfer zu bringen und Gefahren auf sich zu nehmen .......
Die Russen begriffen nichts. Sie zweifelten nicht einen Augenblick an dem Erfolg der Blockade. Sie klammerten sich an die Hoffnung, Westberlin werde »wirtschaftlich zusammenbrechen« - schon am 31. Juli waren 3.619 Betriebe in Westberlin stillgelegt, die Zahl der Halbbeschäftigten und Arbeitslosen stieg ständig -, vor allen Dingen auch daran, daß die Amerikaner das »Rennen bald aufgeben« würden.
Die Russen waren borniert und völlig realitätsblind
Gerade in diesem Punkte irrten sie am meisten. Die in Berlin anwesenden Amerikaner, übrigens auch die Briten und Franzosen, begriffen genau wie die Berliner, daß jetzt alles darauf ankam, zusammenzuhalten.
Sie spürten, daß sie alle in dem gleichen Boot saßen oder besser, in einer Riesenfalle, und daß sie aufeinander angewiesen waren. Niemals seit 1945 war die Zusammenarbeit zwischen Militärregierungen und deutschen Stellen reibungsloser verlaufen.
Übrigens hatten auch wir weniger Strom, weniger Benzin und weniger Lebensmittel, wenngleich noch immer viel mehr als die Deutschen. Aber nicht das war das Entscheidende. Entscheidend war vielmehr das neue Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Manche von uns (Amerikanern) bewunderten die Berliner, wie etwa ein Theaterbesucher in einer Loge die Schauspieler bewundert, die sich nur wenige Meter von ihm entfernt auf der Bühne heldenhaft benehmen.
Aber die meisten von uns fühlten sich enger mit den Berlinern verbunden, und bezugnehmend auf unsere wesentlich größeren Rationen sagten manche: »Eigentlich hätten wir alle Veranlassung, unser letztes Stückchen Brot und unsere letzte Zigarette mit den Berlinern zu teilen!« In Berlin verschoben sich damals die Begriffe.
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Die Russen waren nicht mehr die Bundesgenossen.
Die Deutschen, zumindest die Berliner, waren nicht mehr die Feinde.
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