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Und dann kam ein Vopo nach dem anderen herüber

Was nun die östliche Polizei betraf, die Volkspolizei, die immer offener in militärischer Manier ausgebildet wurde, so verging bald kein Tag mehr, ohne daß nicht der eine oder andere dieser Volkspolizisten nach Westberlin überlief.

Diese Flüchtlinge, die in des Wortes wahrster Bedeutung die Freiheit gewählt hatten, kamen zuerst einmal im Fichtebunker unweit des Flugplatzes Tempelhof, im amerikanischen Sektor von Berlin, unter.

Der Fichtebunker

Dieser Bunker war während des Krieges entstanden. Dorthin waren die Menschen geflüchtet, wenn die britischen und amerikanischen Bomber kamen. Als ich ihn besuchte, befanden sich Volkspolizisten dort, die in den letzten Wochen geflüchtet waren. Innerhalb eines Jahres waren insgesamt 453 Volkspolizisten auf ihrer Flucht nach dem Westen durch den Fichtebunker gegangen.

Die Männer im Fichtebunker waren jung und gern bereit, Auskunft zu geben. Sie hatten keine Geheimnisse. Sie versuchten nicht, ihr Incognito zu wahren, vielleicht im Hinblick auf Verwandte, die drüben geblieben waren. Sie waren politische Flüchtlinge, und genau das sagten sie, jeder auf seine Art.

Da war Heinrich. Er gehörte zur Wachmannschaft des Gefängnisses in Bautzen. Das Gefängnis war mit Männern vollgestopft, die bis dahin in Konzentrationslagern gesessen hatten. Nazis? Sicher waren auch Nazis darunter. Aber die meisten wußten gar nicht, weswegen man sie verhaftet hatte. Zu Ostern drängten sie sich an die vergitterten Fenster und riefen hinaus: »Wir wollen unsere Freiheit, wir wollen unsere Freiheit ...«
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Die brutalen Methoden der Ost-Polizei in Bautzen

Darauf ließ der Kommandant 350 Gefangene, die in einem Saal zusammengepfercht waren, einzeln heraustreten, wobei jeder solange mit einem Gummiknüppel traktiert wurde, bis er zusammenbrach. Dann wurden die Unglücklichen in einen Waschraum geschleift, wo man sie mit dem scharfen Wasserstrahl einer Feuerspritze bearbeitete, bis sie knietief im Wasser standen und vor Angst und Schmerzen wie die Wahnsinnigen schrien.

Dies alles mußte Heinrich mitansehen. Damals beschloß er, die erste Gelegenheit zur Flucht zu ergreifen. Die erste Gelegenheit fand sich, als er Urlaub hatte. Ein Lastwagen der »Freien Deutschen Jugend« nahm ihn nach Berlin mit. Er atmete erst auf, als er im Westen Berlins gelandet war. Aber manchmal träumte er noch von dem, was er in Bautzen gesehen hatte. Seine Nächte waren unruhig.

Es gab noch mehr traumatische Erlebnise der jungen Vopos

Da war Alfred. Erst vor einem halben Jahr war er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. In der Sowjetunion war es ihm nicht schlecht ergangen. Er war groß und stark und konnte zu allen möglichen Arbeiten verwendet werden.

Er verdiente gutes Geld. Außerdem schickte man ihn in Schulen, damit er ein guter Kommunist werde.

Kein Wunder, daß man den baumlangen Kerl in die Volkspolizei nahm, daß man ihn, da er »umerzogen« war, zum politischen Schulungsleiter machte und ihm versprach, er werde bald Kommissar werden.

Aber Alfred war nicht sehr entzückt davon. Er hatte seinen eigenen Kopf. Um ein Beispiel zu geben: Er hatte in Rußland Weizen gesehen, der ihm bis zu den Hüften ging. Wenn nun ein höherer Schulungsbeamter kam und den Volkspolizisten erzählte, der Weizen in Rußland sei übermannshoch, dann widersprach er. »Ich habe es doch mit meinen eigenen Augen gesehen«, wiederholte er immer wieder. Er wollte nicht begreifen, daß das in der Sowjetunion kein Argument war.

Aber er hatte allmählich begriffen, daß sein ewiger Widerspruch nicht gut für seine Gesundheit war. Allein die Weizendebatte hatte ihm fünf Tage Einzelarrest eingetragen.

Er konnte nicht daran zweifeln, daß er bald häufiger in der Zelle als außerhalb sein würde. Und das wollte er nicht. Den Mund halten wollte er auch nicht. So kletterte er eines Nachts über das Gitter seiner Kaserne und fuhr nach Berlin.

Jetzt ging es ihm gut. Er schlief traumlos und fest.
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Da war Fritz, der Volkspolizist

Da war Fritz. Er hatte sechs Monate Gefängnis hinter sich - oder vielleicht besser: Untersuchungshaft. Genau wußte er das selbst nicht, die Russen hatten ihn eines Tages verhaftet, sie sagten, er treibe »Spionage für den Westen«.

Eines Tages ließen sie ihn wieder frei. Fritz war dann zur Volkspolizei gegangen, weil er arbeitslos war. Er wollte wieder einen Beruf haben, wieder eine geregelte Arbeit, die ihn ausfüllte. Er wollte vor allen Dingen von der Straße weg, er wollte nichts mehr von Politik hören, er wollte ein friedlicher Bürger seines Landes werden, er wollte seine Ruhe haben.

Zu spät entdeckte er, daß die Volkspolizei etwas anderes war als das, was er sich darunter vorgestellt hatte. Das polizeiliche Training blieb Nebensache.

Jeden Tag gab es politische Schulung oder Politik in einer anderen Form. Und nichts fand Fritz so langweilig wie Politik. Wenn er in den Schulungsstunden nicht schlief, dann las er einen Roman oder schrieb einen Brief.

»Einmal schrieb ich meiner Freundin. Der Schulungsleiter merkte es, ich mußte nach vorn kommen, neben ihm sitzen und furchtbar viel Quatsch anhören. Ich wußte nur noch, daß es sich immerfort um Lenin und Stalin handelte. Dann sollte ich einen Aufsatz schreiben darüber, was der Mann gesagt hatte. Und als ich es nicht konnte, bekam ich Ausgehverbot, das solange dauern sollte, bis ich den Aufsatz niedergeschrieben hätte. Na, was sagen Sie dazu? Ist das noch eine Polizei?«

Wenn 18jährige an Panzerabwehrkanonen ausgebildet werden

Dazu kam, wie Fritz weiter berichtete, noch die Ausbildung an den Pakgeschützen und Schnellfeuerkanonen. »Die meisten Kameraden waren siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Sie hatten vom Krieg nichts gesehen. Nun lehrte man sie schießen.«

Fritz ergriff die erste Gelegenheit zur Flucht. Das war, als er nach Berlin geschickt wurde, um eine Demonstration der »Freien Deutschen Jugend« zu überwachen. Er verschwand am Abend, nachdem er seine Rationen erhalten hatte.

Manchmal unterbrach er sich beim Sprechen, und sein Gesicht zeigte den verzweifelten Ausdruck eines Menschen, der dicht davor steht, die Lösung eines schwierigen Rätsels herauszufinden und sie doch nicht findet. »Das mit dem Schießen ... das ist es, mein Herr, was mir nicht aus dem Kopf geht. Die armen Kerle wissen ja gar nicht, was Krieg ist.«

Die meisten Vopos hatten ein Gefühl im Bauch, da stimmte etwas nicht

Die meisten Volkspolizisten hatten keine heroischen, weltanschaulichen Fluchtmotive, und wenn sie sie hatten, wußten sie es nicht. Sie waren einfache Menschen. Und doch spürten sie alle, daß etwas mit der Volkspolizei nicht in Ordnung war.

»Es war schlimmer, als beim Kommis«, erzählte einer, und die anderen nickten. »Keine Freizeit nach der Dienstzeit, nur zweimal in der Woche abends Ausgang, und sonntags nachmittags und abends. Aber nicht etwa alle! Die Freizeit wurde nach politischen Verdiensten< verteilt!«

Ein anderer: »Ich bin verheiratet, ich durfte alle sechs Wochen einmal zu meiner Frau fahren. Ist das ein Leben? Ich habe es satt gehabt...« Jetzt waren sie also im Fichtebunker, als anerkannte politische Flüchtlinge.

Sie sollten jetzt pro Tag vier Stunden arbeiten, bekamen dafür freie Wohnung und Verpflegung. (1,30 DM-West pro Mann und Tag und 20 DM-West Taschengeld im Monat.)

Die Volkspolizisten a.D. erklärten, das Lageressen sei jedenfalls besser als das Kasernenessen im Osten, wenn es auch vielleicht nicht ganz ausreiche für so junge, stramme Burschen.

Sie wollten keine Uniformen mehr anziehen

Sie waren nicht unzufrieden. Sie meckerten nicht, wie man in Berlin sagte. Denn jetzt waren sie wenigstens Herren ihrer selbst. Nur die vier Stunden Arbeit genügten ihnen nicht, sie wollten fort von Berlin, sie wollten in den Westen, aufs Land oder in ein Bergwerk.

Sie waren zu allem bereit, nur wollten sie keine Uniformen mehr anziehen, sie wollten nicht mehr herumkommandiert werden. Aber sie konnten erst fort, wenn sie irgendwo Zuzugsgenehmigung bekamen Die Stadt Berlin würde sie per Flugzeug in den Westen schicken, damit sie ein neues Leben anfangen könnten, nur die Zuzugsgenehmigung fehlte. Und sie kam nicht, denn Deutschland war schon wieder sehr bürokratisch geworden ...
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Manchmal hatte auch ich ein Gefühl im Bauch .....

MANCHMAL hatte ich das Gefühl, daß dieses Berlin trotz allem eine sterbende Stadt sei. Eines solchen Gefühls konnte sich niemand erwehren, der etwa auf einen der großen Berliner Bahnhöfe ging.

Früher war Berlin ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, eine Durchgangsstation des west-östlichen, nordsüdlichen europäischen Verkehrs gewesen. Jetzt lagen die Bahnhöfe verödet, auch wo sie nicht in Trümmern lagen.

Auf Bahnhöfen, wie dem Anhalter Bahnhof oder dem Bahnhof Zoo, auf denen früher pro Tag zahllose internationale oder zumindest deutsche Expreßzüge ankamen, liefen jetzt bestenfalls drei, vier oder fünf solcher Züge ein.

Es gingen fast nur noch Züge in nahegelegene Orte, in die sowjetische Zone natürlich. Die wenigen Züge, die über die deutschen Grenzen fuhren, waren übrigens schwach besetzt.

Möglichst die Willkür der Ost-Grenzer vermeiden

Kein Berliner wagte es, in die internationalen Kurswagen einzusteigen, weil man ihn unweigerlich an der Zonengrenze herausgeholt und vermutlich sein Geld beschlagnahmt hätte.

Da war es schon sicherer, in einem Lokalzug bis zur Zonengrenze zu fahren und erst nach Passieren der Kontrolle den Zug zu wechseln.
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Berlin war jetzt eine Insel mit einem Zaun drum herum

Wo konnte der Westberliner denn hinfahren auf ein paar Stunden oder Tage, wenn er nicht in die sowjetische Zone fahren wollte?

Es gab für die zweieinhalb Millionen Westberliner nur ein paar Quadratkilometer Wald und ein paar Seen. Früher war man übers Wochenende an die Ostsee gefahren oder in eines der nahegelegenen Mittelgebirge.

Dies alles war jetzt entweder sowjetisches Gebiet oder konnte doch nur erreicht werden, indem man sowjetisches Gebiet durchfuhr. Das war nicht jedermanns Sache, es war niemals ganz ungefährlich, und im besten Falle mußte jeder Berliner damit rechnen, viele Stunden an der Grenze umherzustehen.

Berlin war ein großes Gefängnis geworden. Wer in Berlin war, war eben in Berlin und konnte nicht mehr fort. Berlin war ein Gefängnis, aus dem man nicht herauskonnte, Berlin war eine Stadt, die nicht leben und sterben konnte, aber sie war neben allem Einmaligen und Gespenstigen auch eine Stadt, in der alles geschah, was eben in großen Städten geschieht.

In mancher Beziehung eine Stadt wie jede andere

Es gab Einbrüche, es gab Taschendiebstähle, es gab Morde wie anderswo auch. Man kaufte Aktien und spekulierte wieder an der Börse man sparte Geld für ein Fahrrad, Paddelboot oder Fotoapparat, kaufte Radios und zahlte sie in achtzehn Monatsraten ab.

Man nahm wieder eine Lebensversicherung auf, gründete Vereine, machte Hausmusik; man schickte seine Kinder zur Klavierstunde, zur Tanzstunde, oder in eine neu eröffnete Schule für gutes Benehmen. Man kaufte wieder Möbel, tauschte Briefmarken, züchtete Hunde, adoptierte Kinder, kaufte
Grabstellen auf Friedhöfen und bezahlte sie auf fünfundzwanzig Jahre ...

Menschen verliebten sich ineinander und ließen sich scheiden. Kinder wuchsen auf und wurden etwas oder wurden nichts, Sportler stellten Rekorde auf, Journalisten schrieben darüber, wie anderswo auch. Die Kulisse trat zurück, man hatte sich längst daran gewöhnt, in Trümmern zu leben, und in einer Stadt, die keine war, sondern eine tiefe Wunde, die mitten durch ein Land, durch einen Erdteil, durch die ganze Welt ging.

Die Statistiker stellten fest, daß trotz allem die Kurve der Verbrechen Jugendlicher nicht höher anstieg, als in anderen normalen Städten auch, daß es trotz furchtbarster Not und völlig unmöglicher Verhältnisse prozentual nicht mehr Scheidungen gab als anderswo.

Berlin war wirklich eine normale Stadt geworden

..... die auf einer völlig anormalen Basis aufgebaut war, vergleichbar etwa jenen Sträuchern und Blumen, die im Sommer 1945, als wir in die Stadt gekommen waren, aus den Ruinen emporzuwachsen begannen, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.

Ein Besuch bei Dr. Theo Friedenau

ES war nicht ganz leicht, das kleine Haus zu finden, das in einem Villenvorort von Westberlin, inmitten eines schönen, tiefen Gartens lag. Es war hinter hohen Bäumen und Sträuchern fast verborgen. Hierhin drang nicht der Lärm der Großstadt, nicht die ewige Unruhe der Politik, die Berlin erfüllte. Und plötzlich, wenn man eintreten wollte, stand ein schwerbewaffneter Wächter vor einem und fragte in barschem Ton nach dem Ausweis.

Dann erst fiel der Blick auf das kleine Schild an der Tür: »Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen der Sowjetzone.« Drinnen hatte man zuerst den Eindruck, im Wartezimmer eines Arztes zu sein. Ein halbes Dutzend Männer saßen herum, vielleicht waren es auch mehr. Sie hatten sorgenvolle, bedrückte Gesichter, keiner redete mit dem anderen.

Ein wenig später saß man einem Mann gegenüber, dessen kluge, schnelle Augen hinter einer dunklen Hornbrille verborgen waren. Das Haar, soweit noch vorhanden, war noch dunkel, obwohl der Mann schon hoch in den Vierzigern sein mußte.

Der Mann machte einen ruhigen, gelassenen Eindruck, aber man spürte, daß die Ruhe erzwungen war. Manchmal ging durch die schmalen, feingliedrigen Hände ein leises Zucken.

Das war Dr. Theo Friedenau, der Chef des Untersuchungsausschusses. »Natürlich will ich Auskunft über unsere Arbeit geben«, sagte er, »dazu bin ich ja da. Nur Namen ... die richtigen Namen kann ich nicht nennen. Sie werden das verstehen. Die meisten unserer Leute sind ja im Osten.« Er lächelte fein. »Auch der Name Friedenau ist vielleicht nicht mein wirklicher Name ...« »Aber die im Osten kennen wohl Ihren richtigen Namen?« Dr. Friedenau zuckte die Achseln. »Jedenfalls kennen sie mich. Jedenfalls kennen sie das«, er machte eine weite Bewegung, die das Haus einschloß, »was meine Freunde und ich aufgebaut haben ...«
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Das "Unternehmen" war noch nicht alt.

Im Oktober letzten Jahres (1950) traf sich Dr. Friedenau, der bis dahin den Posten eines Staatsanwaltes in der Ostzone innehatte, mit einigen Freunden, die, wie er, nicht mehr unter sowjetischer Herrschaft leben konnten oder wollten.

Der Treffpunkt war Westberlin. Über eines war man sich klar: es genügte nicht, zu fliehen. Man mußte etwas gegen das gefürchtete und gehaßte Regime unternehmen. Man mußte es aktiv bekämpfen.

Viele von ihnen waren auch unter den Nazis in der Opposition gewesen. Sie hatten damals erfahren müssen, daß es unmöglich war, in einem totalitären Staat Widerstand zu leisten, wenn kein Zentrum dieses Widerstandes existierte, das außerhalb des zu bekämpfenden Staates lag.

Daraus zogen Dr. Friedenau und seine Freunde jetzt die Lehre. Sie gingen daran, ein Zentrum des Widerstandes gegen das östliche Regime zu gründen. Da sie Juristen waren, wurde es eine Art Justizministerium im Exil.

Die Justiz in der Ostzone war schon wieder wie bei Hitler

Das schien ihnen um so notwendiger, als in der Ostzone die Justiz wiederum zum Knecht der Politik gemacht worden war - ganz wie unter Hitler. Wie damals wurde wiederum »Recht«, was den Diktatoren nutzte.

»In Hunderten von Prozessen wurden Tausende von kleinen Existenzen ruiniert, wurden kleine Kaufleute enteignet, ins Gefängnis oder ins Zuchthaus gesperrt. Die Begründung war stets Wirtschaftssabotage.

»Sie müssen nicht glauben, daß alle Staatsanwälte und Richter mit ganzem oder auch nur halbem Herzen bei der Sache waren. Aber was sollten sie tun? Wo sollten sie sich beraten? Wem konnten sie in ihrer Gewissensnot Vertrauen schenken?«

Eine Instanz für Ostzonen-Juristen

Diese Frage hatte Dr. Friedenau für sie beantwortet. Er hatte eine Instanz geschaffen, an die sich die bedrängten Justizbeamten der Ostzone wenden konnten. In das kleine Haus im Vorort von Westberlin konnten alle diejenigen kommen, denen noch ein Gewissen schlug, die nicht mitschuldig werden wollten an dem Unrecht, das im Osten geschah.

Zuerst kamen nur wenige. Sie hatten Angst, verfolgt und bespitzelt zu werden. Aber dann kamen immer mehr. Jetzt kam es oft vor, daß dreißig bis vierzig Juristen aus der Ostzone an einem einzigen Tag Kontakt aufnahmen. Sie kamen nicht nur, um sich Rat zu holen, sie berichteten auch, sie brachten Material.

Amtsrichter und Oberlandesgerichtspräsidenten

Unter denen, die das Justizministerium im Exil besuchten, waren Amtsrichter und Oberlandesgerichtspräsidenten, sogenannte Volksrichter und Staatsanwälte. In allen Sparten des Justizapparates gab es Menschen, die nicht mehr mitansehen wollten, was sie täglich mitansehen mußten, und die deshalb nach Berlin eilten.

Das hinter Bäumen und Sträuchern verborgene Haus war zu einer Art Beichtstuhl geworden. Dr. Friedenau und seine Freunde verlangten keineswegs sinnlosen Heroismus von denen, die kamen. Man riet ihnen, in Amt und Würden zu bleiben.

Ja, man war durchaus dafür, daß sie sich tarnten, zum Beispiel als Mitglieder der »Gesellschaft der Freunde der Sowjetunion«, daß sie in ihren Parteien blieben, selbst wenn es sich um die SED, die kommunistische Einheitspartei, handelte, denn auch von dieser Seite kamen die Enttäuschten zu Dr. Friedenau.

Es kamen die Richter, die Staatsanwälte, die Gefängnisbeamten. Sie fragten, wie sie um diese oder jene Verurteilung herumkommen, diesem oder jenem, der unschuldig eingesperrt worden war, helfen konnten. Sie erfuhren es. Sie erfuhren auch manches andere.
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Da gab es merkwürdige Urteile in der Ostzone

Und in der Ostzone begann etwas sehr Merkwürdiges, etwas, das für die Russen und ihre kommunistischen Schergen nicht greifbar war. Da stand ein Mann vor Gericht wegen Wirtschaftssabotage, der Staatsanwalt beantragte eine hohe Zuchthausstrafe, aber das Gericht verhängte nur eine kurze Gefängnisstrafe ...

Da wurde in irgendeinem Prozeß auf Einziehung des Vermögens erkannt, der Angeklagte war nach dem Westen geflüchtet, und jetzt, da man sein Geschäft beschlagnahmen wollte, stellte sich heraus, daß auch die Waren wie vom Erdboden verschwunden waren ...

Fünf Gefangene, die zu langen Freiheitsstrafen verurteilt waren, wurden von einem zum anderen Tag in aller Form entlassen. Erst später fanden sie heraus, daß der Untergebene eines Generalstaatsanwalts die Stempel seines kommunistischen Vorgesetzten benutzt hatte, um sie in Freiheit zu setzen, bevor er selbst floh. Das kam jetzt häufig vor.

Der »Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen« wußte, daß fast die Hälfte aller Juristen, die in der Ostzone lebten und wirkten, hinter ihm stand.

»Schwer war ja eigentlich nur der erste Schritt«, kommentierte Dr. Friedenau.

»Zuerst war es wirklich nicht leicht, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Es dauerte ja auch ein paar Monate, bis man überhaupt von unserer Existenz wußte. Heute gibt es keinen Menschen in der Ostzone, der uns nicht kennt. Oder jeder kennt wenigstens einen, der eine Verabredung mit uns vorbereiten kann, einen Mittelsmann.«

Ein Minister sogar .... erzählte viel Interessantes

Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Neulich war sogar ein Minister bei uns. Er kam natürlich nicht in dieses Haus, das wäre zu riskant für ihn gewesen. Wir trafen uns an dritter Stelle.«

Der Minister erzählte viel Interessantes. So wußte er zu berichten, daß alle Machthaber der Ostzone ein wenig Angst vor dieser Justizbehörde im Exil haben.

»Keiner weiß, ob nicht in seinem Büro, in seinem Vorzimmer, in seiner Wohnung irgendeiner ist, der zu uns gehört, der ihn bewacht und uns dann das Material zuleitet...«

»Und hat man noch nichts gegen Sie unternommen?« »Vorläufig haben wir noch die Initiative!« erwiderte Dr. Friedenau. Er reichte mir eine Reihe von Denkschriften. Ich fand dabei eine ganz formelle Anklageschrift gegen den Finanzminister der Deutschen Demokratischen Republik, Dr. Franz Loch, eine andere gegen den Ministerialdirektor Kurt Müller, den Leiter der Industrieabteilung in der Landesregierung Brandenburg, eine dritte gegen Dieckmann, den Justizminister von Sachsen.
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Es gab sogar Steckbriefe gegen Ost-Minister

Da war außerdem noch ein Steckbrief gegen den Innenminister von Ostdeutschland, Wilhelm Zaisser. »Sie müssen das recht verstehen, es handelt sich hier nicht um Propagandamaterial, nicht um Rhetorik. Es handelt sich hier um ganz trockene, juristische Feststellungen. Die Anklagen gegen diese Männer wurden erhoben aufgrund von Aktenmaterial, das jedermann zugänglich gemacht werden kann. Gute Juristen haben daran mitgearbeitet. Es handelt sich auch nicht etwa um politische Verbrechen, die diese Männer begangen hatten. Es handelt sich um ganz gemeine Verbrechen, wie sie im Strafgesetzbuch jedes Staates zu finden sind ... Nehmen Sie zum Beispiel die Anklage gegen den Minister Loch. Wenn er morgen nach Hamburg oder München käme, müßte ihn eigentlich aufgrund unserer Arbeit jeder Staatsanwalt verhaften lassen.«

»Würde man ihn verhaften?« Dr. Friedenau lächelte bitter. »Noch nicht. Soweit ist es noch nicht.« Aber der »Untersuchungsausschuß« war dabei, weitere Fahndungslisten aufzustellen. Man hatte sich auch bereits mit der Bundesjustizbehörde in Verbindung gesetzt, um eine Möglichkeit zu finden, die vom Ausschuß »angeklagten« Persönlichkeiten im Bundesgebiet unter öffentliche Anklage zu stellen.

Doch ein richtiger Prozess war bislang unrealistisch

Niemand wußte besser als Dr. Friedenau, daß dergleichen vorläufig noch nicht möglich war. Dazu mußte noch viel geschehen. Dazu mußten wohl erst die Russen aus Ostdeutschland abziehen. Immerhin, eines hatte der »Ausschuß« schon erreicht. Jeder Einwohner der Ostzone wußte um seine Existenz. Er war den Machthabern viel zu sehr auf die Nerven gegangen, als daß sie ihn länger hätten totschweigen können.

Der sächsische Justizminister Dieckmann hatte ein Rundschreiben erlassen, in dem er ausdrücklich vor den »freiheitlichen Juristen« warnte. Minister Loch hatte im Organ der sowjetischen Besatzungsmacht einen längeren Artikel veröffentlicht, in dem er die »freiheitlichen Juristen« als ehemalige Nationalsozialisten »entlarvte«;

»... aber keiner aus unserem engeren Kreise ist je in der Partei gewesen«, stellte Dr. Friedenau fest. »Und selbst wenn wir alle in der Partei gewesen wären - wie will Loch das wissen? Er kennt ja keinen von uns, er hat es nicht fertiggebracht, auch nur einen unserer Namen herauszufinden und in seinem Artikel zu nennen ...«

Inzwischen hatte die östliche Gestapo, der »Staatssicherheitsdienst«, sich mit den freiheitlichen Juristen beschäftigt. Die Nebenstelle Potsdam erhielt den Auftrag, sie »zu liquidieren«. Bis jetzt war allerdings noch kein Versuch gemacht worden, diesen Auftrag auszuführen.

»Jedenfalls haben wir keine Angst«, sagte Dr. Friedenau. »Wir haben viel zu viel zu tun, um Angst zu haben. Das Material häuft sich auf unseren Schreibtischen. Es ist eine lange Rechnung, die wir aufstellen. Einmal wird sie präsentiert werden.«
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Im Juli 1951 gab es in Westberlin 292.000 Arbeitslose.

Es sah sehr ernst aus. Und die Situation war noch viel ernster als sie aussah. Die Hoffnung, daß nach Aufhebung der Blockade alles wieder gut werden würde, hatte sich als trügerisch erwiesen. Die Rechnung war falsch gewesen. Denn schon vor der Blockade war Berlin - nicht mehr Berlin gewesen.

Das alte friedensmäßige Berlin war die Hauptstadt eines großen Landes. Diese beherbergte ein Heer von Beamten und Angestellten, hier drängten sich die Ministerien des Reiches, sowie des Landes Preußen zusammen, hier konzentrierten sich die Hauptquartiere der Großindustrie, der Mammutkonzerne des Geld- und Kreditwesens, die Büros des Großhandels und der Versicherungsgesellschaften. In Berlin wurde verwaltet und repräsentiert.

In Berlin wurde auch produziert.

Berlin war die größte Industriestadt des Reiches. Im Jahre 1937, das in vielen Statistiken als das letzte normale fungiert, hatte Berlin ein Gesamteinkommen von 15 Milliarden (Reichs-)Mark und lag damit steuermäßig weit an der Spitze Deutschlands, wenn nicht des europäischen Kontinents.

Der Luftkrieg zerstörte einen großen Teil der industriellen Kapazität Berlins. Von dem, was noch stand, demontierten die Russen soviel, daß vier Jahre nach Kriegsende knapp zwanzig Prozent der einstigen Maschinenanlagen standen. Und die Beamtenheere hatten sich schon nach Kriegsende in ein Nichts aufgelöst.

Berlins volkswirtschaftliche Bedeutung war also schon vor der Blockade stark zurückgegangen. Berlin lebte schon vor der Blockade vom Ausverkauf. Es hätte demnach klar sein müssen, daß, selbst wenn die Aufhebung der Blockade Berlin automatisch auf das Niveau der Vorblockadezeit zurückgebracht hätte, damit noch nicht viel erreicht worden war. Aber es geschah ja nicht einmal das.
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Es wurde immer schlimmer.

In Ostberlin sagte man, Westberlin sei eine sterbende Stadt und wies auf die hohe Zahl der Arbeitslosen hin, während es im Osten damals Arbeitslose noch kaum gab.

Sofort machten die Berliner einen Witz darüber, der wiefolgt lautete:
Wilhelm Pieck trifft einen alten Freund, Vorarbeiter in einer Ostberliner Maschinenfabrik. Er beglückwünschte ihn, denn der Mann ist gerade ausgezeichnet worden, weil er sein Soll zu einhundertzwölf Prozent erfüllt hat.

Der Arbeiter sagt: »Das ist noch gar nichts! Meine Tochter ist >Heldin der Arbeit< geworden, und mein Jüngster ist ebenfalls belobigt worden, da er sämtliche Sonntage freiwillig gearbeitet hat.«

»Und hast du nicht auch einen Schwiegersohn? Deine Tochter ist doch verheiratet?« fragt Pieck.

Der Arbeiter schüttelt düster den Kopf. »Der ist arbeitslos. Aber Gott sei Dank in Westberlin, und von seiner Arbeitslosenunterstützung leben wir alle!«
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Die Wirklichkeit war aber noch weiter verdreht

Leider war es aber in Wirklichkeit so, daß viele Westberliner von der Arbeitslosenunterstützung lebten, die sie gar nicht hätten bekommen dürfen, da sie in Wahrheit keine Arbeitslosen waren.

Nichts war leichter, als in Westberlin Arbeitslosenunterstützung zu erhalten. Man suchte sich einen Bekannten, der einen pro forma mit einem guten Gehalt anstellte und dieses Gehalt auch in die Bücher eintrug.

Man bekam es natürlich nicht, und der Bekannte hatte den Vorteil, daß er es von der Steuer abziehen konnte. Nach einem halben Jahr wurde man wegen Einschränkung des Betriebes entlassen und erhielt nun auf sechs Monate Arbeitslosenunterstützung und auf unbestimmte Zeit andere Unterstützungen im Verhältnis zur Höhe des in den letzten sechs Monaten erhaltenen Gehaltes.

Und alles, was der Entlassene tun mußte, war, einmal pro Woche auf dem Arbeitsamt zu erscheinen und das Geld in Empfang zu nehmen. Seine größte Sorge war, daß ihm Arbeit nachgewiesen werden könnte, die er hätte annehmen müssen. Aber die Wahrscheinlichkeit war gering.

Und dann wuchsen die merkwürdigsten Auswüchse

Die Sucht, von Unterstützung zu leben, ging sehr weit. Baufirmen mußten fürchten, daß ihre Arbeiter und Angestellten nach Ablauf eines halben Jahres auf jede nur erdenkliche Weise eine Kündigung provozieren würden.

Gewiß, der Arbeitslohn war höher als die Arbeitslosenunterstützung, aber der Arbeitslose konnte ja damit rechnen, nebenbei noch etwas »schwarz« zu verdienen. Dies alles war nur ein Symptom für die trostlose Situation.

Und vermutlich wäre sie nach viel trostloser geworden, wenn nicht seit Anfang 1950 ERP-Gelder nach Berlin geflossen wären, die für eine Belebung des Arbeitsmarktes sorgten.

Langsam, fast unmerklich, begann die Zahl der Arbeitslosen zu sinken. Von 292.000 im Juli 1951 auf 281.568 im September 1951 und sank weiterhin um etwa 2000 pro Monat.

Es gab aber noch ein Problem nahezu ungeahnten Ausmaßes

Freilich, man konnte dagegen anführen, daß vier- bis fünftausend Flüchtlinge aus Ostberlin und der Ostzone jeden Monat in Berlin eintrafen, und daß sie Arbeit suchten, man konnte überhaupt viel anführen, um zu beweisen, daß Berlin nie wieder hochkommen würde.

Nur konnte man es eben den Berlinern nicht beweisen. Denn die Berliner blieben auch angesichts aller Schwierigkeiten optimistisch. Sie hatten es so oft geschafft, sie waren überzeugt, daß sie es wieder schaffen würden.

Arbeitslose in der Ostzone gab es "nicht" - jedenfalls offiziell

Auch im Osten der Stadt gab es nun Arbeitslose. Die Statistiken versuchten zwar, diesen Tatbestand zu verschleiern, aber die grauen Gesichter der Menschen, ihre abgeschabte Kleidung, ihre heruntergekommenen Schuhe sprachen eine deutlichere Sprache als die Statistiken.

Und Ostberlin verwandelte sich immer mehr in eine Stadt, die in der Sowjetunion oder auf dem Balkan hätte liegen können. Neben den Häusern, die stehengeblieben waren, schossen überall Buden aus dem Boden.

Noch immer gab es im Osten Berlins unaufgeräumte Trümmerberge und Straßen, die infolge der tiefen Löcher unpassierbar waren.
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Und jetzt machte das ZK einen "Plan"

Um hier endlich Wandlung zu schaffen, vielleicht auch, um der Arbeitslosigkeit abzuhelfen, veröffentlichte das Zentralkomitee der SED einen Plan zum Aufbau Berlins, in dem es hieß, die Stadt solle innerhalb weniger Jahre »schöner und großzügiger« als vorher neu erstehen.

Die Berliner lasen das und grinsten. Hatte nicht Hitler einmal erklärt, man solle ihm nur ein wenig Zeit lassen, und man werde Berlin nicht wiedererkennen? Hatte er nicht in der Tat Wort gehalten?

War es wieder soweit? Schloß sich auch hier ein Kreis? Die finanziellen Mittel zum neuen Aufbau Berlins sollten dadurch aufgebracht werden, daß alle Berufstätigen ein Jahr lang drei Prozent ihres Einkommens für eine Lotterie zeichneten.

Die gesamte Summe, so wurde versprochen, sollte ab 1956 in drei Jahresraten zurückgezahlt werden.
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Tausend Wohnungen, die ab 1952 ausgelost würden.

Die Gewinne: tausend Wohnungen, die ab 1952 ausgelost würden.

Sogenannte freiwillige Arbeitsbrigaden sollten in Schichten zu je drei Stunden bei den Aufräumungsarbeiten helfen, und wer hundert Schichten geleistet hatte, sollte ein Los bekommen.

Plötzlich waren die Ostzeitungen voll von diesen großzügigen Wiederaufbauprojekten. Plötzlich erschienen nun neue Spruchbänder auf den östlichen Straßen: »Wir bauen mit!«, »Wir bauen auf!«, »Helft uns alle, das zerstörte Berlin wiederaufbauen!«, »Bau mit!«, »Weg mit den Trümmern des 3. Februar 1945 - Berlin soll eine Stadt des Friedens werden!«

Am ersten Tage des neuen Aufbauprogramms, dem 1. Januar 1952, erschienen in der Tat 45.000 Arbeiter, um ihre Freizeit zur Verfügung zu stellen. Drei Wochen später waren es nur noch 4000.
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Und eigentlich war mein Buch damit zuende.

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