Die Lebensbiografie von Heinrich Fraenkel (1960)
In diesem Buch beschreibt Heinrich Fraenkel (1897-1986†) seinen Werdegang und seine Erfahrungen mit den Menschen aus seinem persönlichen Umfeld, den Politikern, den Künstlern und auch den einfachen Menschen. Aus diesem Grund ist seine Biografie für uns so wichtig - auch für das Verstehen seiner beiden dicken Filmbücher, die er 1957 und 1958 geschrieben hatte.
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Wir sind im August 1946 angekommen - auf gehts nach Detmold
Immerhin kam ich jetzt pünktlich nach Detmold zum ersten deutschen Pädagogenkongreß der Nachkriegszeit. Er war aus der ganzen Britischen Zone sehr gut beschickt, aber um so hoffnungsloser erwies sich die gewünschte Beteiligung aus den anderen Zonen. Die scheiterte an den Transport- und Verpflegungsschwierigkeiten.
Ich hatte noch in der Woche vor dem Kongreßbeginn einen der führenden süddeutschen Pädagogen in Mainz besucht, einen Mann, der nicht nur eine große Schule leitete, sondern auch maßgeblich am Wiederaufbau des Schulwesens in der Französischen Zone beteiligt war.
Der Mann wäre natürlich für sein Leben gern zum Detmolder Kongreß gefahren, und er wäre dort höchst willkommen gewesen, denn es war im allgemeinen Interesse und sehr nützlich, daß er seine Erfahrungen und Gedanken mit denen der Kollegen aus Mittel- und Norddeutschland austauschte.
Es schien mir geradezu grotesk, daß eine so wichtige Reise an kleinlichen bürokratischen Bedenken scheitern sollte. Es fuhren ja ununterbrochen zahllose alliierte Dienstwagen durch ganz Deutschland, und die alltäglich und allnächtlich verkehrenden alliierten Sonderzüge waren meistens halbleer.
Es sollte doch bei einigem guten Willen kein unlösbares Problem sein, in der noch verfügbaren Zeitspanne von fünf oder sechs Tagen eine Reise von Mainz nach Detmold zu organisieren.
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So dachte ich als Pressemensch, aber ich sollte mich irren.
Es fehlte zwar nicht am guten Willen, aber der heilige Bürokratius war stärker als das bißchen guter Wille, dessen Vorhandensein nicht zu bezweifeln war. Ich hatte mich selber redlich bemüht, dem Mainzer Professor seine Reise zu ermöglichen; ich hatte von Mainz aus eine ganze Reihe von Ferngesprächen und Telegrammen an die zuständigen alliierten Dienststellen gerichtet, und zwar in der Britischen und Französischen Zone sowie auch in der »Transitzone« der Amerikaner.
Überall hatte man mir freundliche, wenn auch vage Versprechungen gemacht. Ich hatte dann noch am Tage vor meiner Abreise aus Frankfurt zweimal nach dem nahegelegenen Mainz telephoniert: ob der Professor nicht einfach herüberkommen könnte, um am nächsten Tage im Wagen mit mir nach Detmold zu fahren? Ich könnte ihn nötigenfalls auch mit dem kleinen Umweg über Mainz abholen.
Es schien einfach genug, und der Professor wäre liebend gern mitgekommen. Aber es fehlte noch irgendein für den Interzonenverkehr nötiges Papier, und das ließ sich leider nicht »so schnell« beschaffen. Ich war sehr erbost, als ich dann allein in meinem "Achtsitzer" abbrauste.
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Die »Education Branch« der britischen Besatzungsbehörde
Immerhin hatte die britische Behörde dafür gesorgt, daß aus allen Teilen der Britischen Zone so ziemlich alle maßgebenden Pädagogen nach Detmold kommen konnten. Freilich war die »Education Branch« der britischen Besatzungsbehörde eine Dienststelle ganz besonderer Art.
Es war eine numerisch sehr kleine Dienststelle, aber sie war bis herunter zu den Sekretariatsposten fast ausschließlich aus Menschen zusammengesetzt, die bedeutende Fachkenntnisse hatten und denen diese Arbeit Herzenssache war.
Sie hatten sich fast alle freiwillig dazu gemeldet, unter ihnen auch mein Freund Ian Carlisle, einer der Direktoren des Verlages, der, um die billige deutsche Ausgabe unseres "Weg zu einem neuen Deutschland" herauszubringen, sich nicht gescheut hatte, der guten Sache ein finanzielles Opfer zu bringen.
Aus genau so altruistischen Motiven waren er und ähnlich gesinnte Männer und Frauen in die Education Branch gegangen. Sie hatten daheim ihre gut dotierten Posten, ihre schönen Stadtwohnungen und ihre bequemen Landhäuser verlassen, um sich ein oder zwei Jahre lang in ein westfälisches Nest wie Lübbecke oder Bünde zu setzen, in einem möblierten Zimmer zu wohnen und in einer Dienstkantine zu essen.
Sie taten es, weil ihnen ein vernünftiger Wiederaufbau des Erziehungswesens in Deutschland als eine der Voraussetzungen für die Wiedergesundung Europas erschien, und weil es ihnen wichtig war, einer solchen Aufgabe zu dienen.
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Sehr bald hatten die teilnehmenden Kollegen ein freundschaftlich kollegiales Verhältnis untereinander
Es war begreiflich, daß die Menschen dieser Art sehr bald ein freundschaftlich kollegiales Verhältnis zu den menschlich wertvollen und fachlich hervorragenden Pädagogen fanden, die in fast jedem Bezirk der Zone verfügbar waren, und mit großem Eifer an ihre schwere Aufbauarbeit gingen.
Und es war nicht minder begreiflich, daß auf dem Detmolder Kongreß eine besonders freundliche Atmosphäre herrschte und daß man die Vertreter der Besatzungsmacht als die Freunde und Kollegen betrachtete und behandelte, die sie wirklich waren.
Man hatte auch - zumindest innerhalb der Zone - das Reise- und Verpflegungsproblem mit einem Minimum von Bürokratie bewältigt. Die Delegierten mußten zwar jeder ihre Lebensmittelabschnitte mitbringen, aber die Education Branch hatte für zusätzliche Verpflegung aus alliierten Beständen (und auch durch persönliche Spenden) gesorgt, womit die leidige Kalorienfrage halbwegs menschenwürdig gelöst war.
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Kontakt mit Dr. Grimme und Frau Professor Feuerstaak
Ich freute mich, in Detmold die Bekanntschaft mit Dr. Grimme zu erneuern (der den Vorsitz führte), sowie mit einigen seiner hannoverschen Mitarbeiter, wie etwa der liebenswürdigen Frau Professor Feuerstaak und dem tüchtigen Dr. Rönnebeck. Ich lernte auch die Senatoren Landahl aus Hamburg und Paulmann aus Bremen kennen sowie andere ausgezeichnete Pädagogen, denen ich im Laufe meiner nächsten Reisen noch oft begegnen sollte, um mich von den Fortschritten ihrer schwierigen Aufbauarbeit zu überzeugen.
Ich lernte auch einen Delegierten aus dem Osten kennen, genauer gesagt, einen Flüchtling, denn er war durchaus inoffiziell und »über die grüne Grenze« gekommen. Er war Studienrat in Leipzig gewesen und war mitsamt seiner Familie entflohen und direkt nach Detmold gekommen, in der (später erfüllten) Hoffnung, daß der eine oder andere der vielen zum Kongreß versammelten Kollegen ihm helfen würde, im Westen eine Anstellung zu bekommen und eine neue Existenz aufzubauen.
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Der Studienrat in Leipzig wurde regelrecht "ausgequetscht"
Da wir natürlich alle, die Deutschen sowohl wie die Engländer, sehr daran interessiert waren, einen wirklich ungeschminkten und objektiven Bericht über die Zustände in dem schon sehr geheimnisumwitterten Osten zu bekommen, erzählte uns der Neuankömmling nach einer unserer gemeinsamen Abendmahlzeiten seine Erlebnisse und beantwortete dann stundenlang unsere Fragen.
Mir selbst tat der Mann zwar leid, aber er machte mir keinen guten Eindruck. Sein Bericht erschien mir zwar gewiß ungeschminkt, aber keineswegs sehr objektiv. Der Mann war offenbar von Minderwertigkeitsgefühlen gequält, weil er ohne Kragen und Krawatte und in ziemlich abgerissenem Zustande im Kreise seiner Kollegen erscheinen mußte.
Das war wohl begreiflich, aber was mir für die Objektivität seines Urteils über die Ostzone einige Skepsis abnötigte, war der Umstand, daß er immer und immer wieder die »Proletarisierung« als das schlimmste Übel betonte, das ihm und den Seinen geschehen sei; und daß er nichts als Hohn und Spott für die »Neulehrer« hatte, also für den im Osten gemachten Versuch, den empfindlichen Mangel an Lehrkräften dadurch zu beheben, daß man dafür Menschen einsetzte, die zunächst nur durch persönliche Neigung und charakterliche Eignung qualifiziert erschienen und einen Teil der fachlichen Qualifikationen noch zu erwerben hatten.
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Der Begriff des »Neulehrers« ......
Mir war der Begriff des »Neulehrers« - wie so vieles andere, was ich schon über die Ostzone gehört und gelesen hatte - zunächst nur theoretisch bekannt. Aber es war ein Gedanke, der mir, zumindest in der Theorie, recht einleuchtend erschien.
Vernünftig schien mir auch, daß man »drüben« die als »hundertprozentige« PGs (Parteigenossen der NSDAP) abgestempelten Lehrer nicht einfach auf Eis legte (wie das im Westen geschah), sondern daß man ihre fachlichen Qualifikationen für die Mitarbeit an den neuen Schulbüchern einsetzte.
So lange man sie nicht an die Kinder heranließe - so sagte ich mir -, könnten sie keinen Schaden stiften; und ein Manuskript ließe sich gewiß leichter revidieren als ein in empfängliche Kinderhirne gepflanzter Irrglaube.
Blieb freilich die Frage, wie die neuen Herrscher den Begriff der charakterlichen Zuverlässigkeit auslegen würden, und ob es sich nicht einfach darum handelte, die PG's der abgesetzten (braunen) Parteifarbe durch die der herrschenden (roten) Couleur zu ersetzen.
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Wurde in der Ostzone aus der NSDAP jetzt die SED rekrutiert ?
Auf diese Frage und sehr viele andere hoffte ich, bald meine eigenen Antworten finden zu können. Es wurde nachgerade Zeit, nach Berlin zu fahren, und ich bildete mir damals allen Ernstes ein, daß ich von dort aus ohne besondere Schwierigkeiten auch die Ostzone besuchen könnte.
Wie groß diese Schwierigkeiten in meinem Falle sein würden, sollte ich bald erfahren. Aber das war gewiß nicht die einzige Überraschung, die mir noch bevorstand.
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Doch zuerst hatte ich noch mein »Pensum« zu erledigen ....
Nun, da die eigentliche »Heimkehr« so nahe war, begann mein Heimweh nach Berlin fast unerträglich zu werden, aber ich bestand eigensinnig darauf, erst mein »Pensum« zu erledigen. Ich übersiedelte also in das damals für das Ruhrgebiet zuständige British Press Camp in Iserlohn, übrigens kein »Lager«, sondern ein nettes kleines Gasthaus, das für diesen Zweck beschlagnahmt war und in genau dem gleichen Stil geführt wurde, wie das mir schon so wohl vertraute Hauptquartier in Herford; und von dort machte ich einige kurze Abstecher ins Rheinland und Ruhrgebiet.
Ich besuchte Freunde und Verwandte meiner Schwiegereltern in Düsseldorf und Köln und war entsetzt, in Essen und anderen Ruhrstädten die Zerstörungen noch viel schlimmer zu finden, als ich sie mir vorgestellt hatte, schlimmer sogar als in Kassel.
Was mich freilich am meisten entsetzte, war die allgemeine Stagnation und die Apathie, und der all diesen Trümmerhaufen und diesem Elend überlagerte Wust bürokratischer Bestimmungen, die zwar teilweise von der Besatzungsmacht recht gut gemeint waren, aber mit dazu beitrugen, fast jeden Aufbauwillen im Keim zu ersticken.
Da ich zum Abschluß dieser ersten langen Deutschlandreise noch einmal zu etwas längerem Aufenthalt ins Rheinland kommen würde, ließ ich es zunächst bei diesen kurzen Abstechern bewenden.
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Die ersten Repressalien in der "Russischen Zone"
Ich wollte ja nun endlich nach Berlin, mußte also zunächst ins »Hauptquartier« nach Herford zurück, um dann von Oeynhausen mit dem alliierten Dienstzug zu fahren, der versiegelt durch die Russische Zone geschleust wurde.
Deshalb mußte man, um die kurze Strecke zu bewältigen, eine ganze Nacht daran wenden; sogar eine ziemlich lange Nacht, denn der Zug fuhr um ca. 18.00 Uhr von Oeynhausen ab und kam erst um 7.00 oder 8.00 Uhr morgens in Berlin an. Er mußte erhebliche Umwege machen und hatte an der Zonengrenze durch die russische Kontrolle einen Aufenthalt von vielen Stunden.
Von der Atmosphäre des gerade beginnenden »Kalten Krieges« bekam ich einen kleinen Vorgeschmack, als der britische Zugkommandant sowohl wie der deutsche Schlafwagenschaffner darauf bestanden, daß mein großer Koffer nicht im Korridor bleiben durfte.
Die Russen nähmen alles mit, was nicht unter Verschluß sei, so erklärten sie mir; und obgleich mir das unglaubhaft schien - es wurde mir allerdings später vielfach bestätigt -, mußte der große Koffer zu meinem Handgepäck ins Schlafwagenabteil gewuchtet werden.
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Mein Koffer war fast ausschließlich mit Mitbringseln gefüllt
Das Ungetüm war übrigens fast ausschließlich mit Mitbringseln gefüllt und durchaus nicht nur mit meinen eigenen. Damals war ja die Postverbindung von England nach Deutschland, besonders in die nichtbritischen Zonen, noch sehr langwierig und unzuverlässig, und auf jeder Deutschlandreise wurde man sozusagen als Briefträger benutzt.
Ich hatte auf jener ersten Reise mehr als hundert Briefe mit, und kurz vor der Abfahrt kamen noch eine Menge Leute, die ich kaum kannte, und die, wenn sie ein paar Briefe losgeworden waren, unweigerlich mit der Frage kamen, ob man nicht auch noch ein einziges Päckchen mitnehmen könnte, ein winziges Päckchen, nicht größer als eine Kinderfaust.
Es waren dann meistens zwei und größer als eine Boxerfaust, aber man konnte schwer »nein« sagen, wenn man sich vorstellte, wie glücklich die Empfänger über so eine kleine Liebesgabe sein würden und wie nötig sie das bißchen Kaffee und Schokolade und die paar Zigaretten brauchen konnten.
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"Versiegelt" - die Russen bekamen uns gar nicht zu sehen
Nun war also der mit so viel glückspendenden Kalorien gefüllte Koffer unter ebenso sicherem Verschluß wie ich selbst, und die Russen bekamen uns gar nicht zu sehen, denn in die versiegelten Abteile ihrer »Alliierten« Freunde durften sie nicht hinein.
Sie studierten nur draußen stundenlang Reisepapiere, die man vorsorglich dem Schlafwagenschaffner ausgehändigt hatte. Als ich aufwachte, war alles schon vorbei, obgleich es noch sehr früh am Morgen war und fast dunkel.
Wir fuhren gerade langsam durch Brandenburg, und als wir dann endlich auf einem Nebengleis in den Bahnhof Charlottenburg einfuhren, mußten wir noch eine halbe Stunde warten; denn aus irgendeinem Grunde verlangte die Dienstvorschrift, daß die Schlafwagen erst um 7.00 Uhr geöffnet werden durften.
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Ich schnupperte endich wieder Berliner Luft nach 14 Jahren
Mir war es um diese Wartezeit nicht leid. Ich lehnte am offenen Korridorfenster und blickte und horchte wie gebannt auf die Menschen, die auf dem benachbarten S-Bahngleis zu sehen und zu hören waren. Sie waren sehr deutlich zu hören, denn sie schimpften in unverfälschtem Berlinisch, und für mich war das eine reine Wonne.
Hier waren nicht mehr die Zwangsvorstellungen, die mich an jenem anderen Korridorfenster auf der Einfahrt nach Deutschland geplagt hatten, hier glaubte ich keine Fabelwesen zu sehen, hier waren Menschen aus Fleisch und Blut, und sie sprachen den Tonfall, der mir von Kindheit auf vertraut war und den ich lange nicht gehört hatte.
»Dämlicher oller Dussel«, sagte die handfeste Frau auf dem Nachbarbahnsteig zu ihrem Begleiter, und aus seiner Antwort konnte ich das Wort »Schnauze« vernehmen. Es klang wie Musik in meinen Ohren. Zum erstenmal fühlte ich mich wirklich daheim und war sehr glücklich.
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Die ersten drei Tagen in Berlin
Ich hatte mir vorgenommen - und auch dieses »Pensum« erfüllte ich mit einer mir sonst gar nicht eigenen Pedanterie -, in meinen ersten drei Tagen in Berlin keinerlei berufliche Besuche und »Interviews« zu machen und keine der Recherchen zu beginnen, die ich für meine Artikelserie zu erledigen hatte.
Ich hatte es also in jenen drei Tagen keineswegs so eilig wie sonst auf diesen Reisen. Ich vermied es nach Möglichkeit, den mir zur Verfügung gestellten Wagen zu benutzen, fuhr mit der U-Bahn und der S-Bahn und wanderte kreuz und quer durch Berlin. Ich suchte Straßenecken und Kaffeehäuser, die zumeist ebenso in Trümmern waren wie die Jugenderinnerungen, die sich daran knüpften; und ich besuchte alte Freunde, die sich auch sehr verändert hatten, obschon sie sich ebenso über das Wiedersehen freuten wie ich selbst.
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Langsam wurde ich nachdenklich
Aber hatte ich mich nicht auch verändert? War nicht in diesen dreizehn Jahren genug geschehen, um die ganze Welt zu verändern? Was sich nicht verändert hatte - das sah ich mit großer Freude (aber vielleicht sah ich es durch die Brille eines Liebenden) - war die Atmosphäre von Berlin.
Diese Stadt schien mir auch in Trümmern ihr Gesicht behalten zu haben. Die Berliner hatten zwar eben erst Artilleriebeschuß, Belagerung, Russeneinmarsch und Sektorenteilung erlebt, sie hatten alle wochenlang in Kellern und Bunkern gehaust, aber sie hatten ihren Elan nicht verloren und nicht einmal ihren Humor.
Die Stagnation und die Stickluft einer überbürokratisierten Besatzungsmaschinerie, die mich in anderen Teilen Deutschlands bedrückt hatte, fand ich zwar auch in Berlin, aber ich fand dort sehr viel weniger Apathie als anderswo und viel mehr und energischeren Aufbauwillen.
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Wenn man vergleicht, was es früher mal war .....
»Sieh mal«, sagte mir einer meiner alten Freunde, auf einen Trümmerhaufen deutend, »wenn man das mit dem vergleicht, was es früher war, dann sieht es ja recht mulmig aus; aber wenn man das Ganze an dem Maßstabe Null-Komma-Null mißt, dann haben wir's doch eigentlich in den paar Monaten schon wieder ziemlich weit gebracht«.
Das war gewiß richtig, und immerhin lagen auf meinem Frühstückstisch im britischen Pressehotel mehr als ein Dutzend Berliner Morgenzeitungen, ganz zu schweigen von den Mittags- und Abendblättern, den Illustrierten und Fachzeitschriften und den zahllosen anderen Druckerzeugnissen, für deren Papierzuteilung die vier Besatzungsmächte miteinander wetteiferten, um ihrem Sektor ein möglichst weit sichtbares Aushängeschild zu geben.
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Die Menschen hatten mehr zu lesen als zu essen
Aber die Redaktionsräume und Druckereien waren größtenteils noch in Trümmern, und die Menschen, die dort arbeiteten, hatten mehr zu lesen als zu essen. Immerhin schlug auch dem zertrümmerten Berlin noch das Herz einer Weltstadt, und es schlug sogar lauter und schneller als je, denn es war ein krankhafter Puls und ein recht hysterischer Herzschlag.
Es gab große Kunstgenüsse und tollen Kitsch, und es gab beides in Hülle und Fülle; es gab sogar Kostümfeste und eine Modenschau, bei der die Anmut der Mannequins und der Witz des Ansagers die Ärmlichkeit der Stoffe vergessen ließ; es gab erlesene Konzerte und Theatervorstellungen, deren Genuß sich die Berliner nicht entgehen ließen, unbekümmert darum, daß sie die letzte U-Bahn versäumen würden und auf dem Heimweg stundenlang durch stockdunkle Trümmerhaufen tappen mußten.
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Hans Albers' Liliom-Aufführung im Hebbeltheater
Davon bekam ich schon am Tage nach meiner Ankunft einen Begriff", als ich mir Hans Albers' Liliom-Aufführung im Hebbeltheater ansehen wollte. Ich hatte noch von »ganz früher« in Erinnerung, daß es einmal "Theater in der Königgrätzer Straße" hieß, und als ich auf dem schon dunklen Trümmerzentrum am Potsdamer Platz stand und plötzlich die Orientierung verloren hatte, fragte ich einen alten Herrn, der durch die Trümmer stakte, ob er mir sagen könne, wo hier in allernächster Nähe die Königgrätzer Straße sei.
Er blickte mich erstaunt an. »Sie müssen aber sehr lange weggewesen sein«, meinte er. »So hieß die Straße einmal vor Jahrzehnten. Dann hieß sie Gustav-Stresemann-Straße, dann Saarlandstraße, dann wieder Stresemannstraße und jetzt heißt sie Hebbelstraße«. Dann zeigte er mir den Weg zum Theater.
Ich bekam einen Stuhl im Parkett - von Albers persönlich
Da kein Platz mehr zu kaufen war, ließ mir Albers einen Stuhl ins Parkett stellen, und nach der Vorstellung erzählte er mir, daß es Abend für Abend ausverkauft sei, und daß auch die häufigen Stromsperren und minutenlangen Unterbrechungen die Theaterbegeisterung der Berliner nicht dämpfen könnten.
Es war schön, Hans Albers nach all den Jahren in wahrhaft »alter Frische« wiederzusehen, und am nächsten Tage traf ich mich mit ihm und Hansi Burg (Frau Albers), deren Heimkehr aus England ich durch einige Pressebeziehungen hatte beschleunigen können. Sie war also damals sozusagen eine »Kollegin«, war eine Zeitlang im britischen Pressehotel einquartiert und mußte, genau wie ich, Uniform tragen.
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Auch hier war die Vergangenheit bitter ......
»Wissen Sie«, meinte sie lächelnd, »da mußte man nun als eine halbwegs junge deutsche Frau weg und als ein alter englischer Soldat kommt man zurück«.
Als ein Uniformträger zum anderen konnte ich ihr mit einiger Sachkenntnis und ohne die geringste Übertreibung erwidern, daß sie auch in englischer Uniform recht nett aussähe.
Wir gingen gerade durch die Friedrichstadt, und ich deutete auf die alten Männer und Frauen, die da in einem veritablen Zeitlupentempo die noch gebrauchsfertigen Backsteine aus den Trümmern fischten und aufschichteten. »Wenn das in dem Tempo weitergeht", meinte ich, „dann dauert es fünfzig Jahre, bis nur der Schutt weggeräumt ist«.
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"Nein, es dauert keine fünfzig Jahre ........"
»Nein, mein Lieber«, sagte Albers, »wenn wir erst mal wieder auf Touren kommen, und wenn diese Schipperei von den richtigen Maschinen besorgt wird, dann wird es verdammt viel schneller gehen«.
Er sollte recht behalten. Aber damals war der Wiederaufbau noch nicht in Ziegeln und Beton sichtbar, sondern mehr in Druckerschwärze und auf der Schaubühne; und eben jener lebhafte geistige und künstlerische Auftrieb inmitten einer gespenstischen Trümmerwelt, eben jener schaurig-surrealistische Kontrast zwischen Geist und Materie machte wohl damals Berlin so ungemein reizvoll und liebenswert, auch für den Fremden, der nicht wie ich durch tausend Fäden menschlicher Bindungen und persönlicher Erinnerungen mit dieser Stadt verknüpft war.
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Berlin war der neuralgischen Punkte der Weltpolitik
Dazu kam noch das besondere Interesse, das Berlin damals wie heute als einer der neuralgischen Punkte der Weltpolitik beanspruchen konnte. Heute hat man sich ja allmählich daran gewöhnt, aber damals, also im allerersten Stadium des »Kalten Krieges« war es für den politischen Beobachter ganz besonders interessant, sich am Schnittpunkt zweier Welten zu finden; in einer Stadt, in der man nur über den Potsdamer Platz oder durch das Brandenburger Tor zu laufen brauchte, um aus dem einen in den anderen der beiden weltweiten Machtbezirke zu gelangen, die das Schicksal unseres Planeten bestimmen.
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Der »Kalte Krieg« war zwar schon im Anfangsstadium
....., aber nach außen hin wurde von den Mächten diesseits und jenseits des Brandenburger Tors noch die Fiktion der Allianz aufrecht erhalten. Offiziell äußerte sich das in der Kommandantura, die immer noch die Spitzenverwaltung der Vier-Sektoren-Stadt war; privat äußerte es sich in den immer krampfhafter aufrecht erhaltenen gesellschaftlichen Beziehungen der Besatzungspartner, die freilich kaum dazu beitrugen, die immer schärferen Reibungspunkte der gemeinsamen Verwaltungsmaschinerie etwas zu ölen.
Immerhin wurde der gesellschaftliche Verkehr damals noch sehr lebhaft gepflegt, und für die Angehörigen der Besatzungsmächte (und natürlich auch für die Presse) war es fast unvermeidlich, solche Veranstaltungen zu besuchen.
Für uns Presseleute war es jedenfalls sehr interessant. Tulpanow und seine Leute kamen zu unseren Veranstaltungen im Grunewald, in Zehlendorf und in Frohnau, und wir fuhren nach Weißensee oder Karlshorst, wenn die Russen zu irgendeinem Empfang einluden.
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Diese Zeit als Presseoffizier war sehr lehrreich
Ich habe aus diesen und späteren Begegnungen mit Russen im positiven und im negativen Sinne viel gelernt, und es wird darüber noch einiges zu sagen sein.
Was ich sehr schnell zu erfahren bekam, war das grenzenlose Mißtrauen der höheren Offiziere und Besatzungsbeamten sowie die Unmöglichkeit, klare und schnelle Entscheidungen von ihnen zu bekommen.
Offenbar mußten sie immer erst bei einem noch höheren Vorgesetzten nachfragen, selbst wenn es sich um eine für normale Begriffe so harmlose und einfache Frage handelte wie etwa die, ob der New-Statesman-Korrespondent H. F. (das bin ich : Heinrich Fraenkel) die Erlaubnis bekommen könnte, nach Potsdam, Leipzig und Dresden zu fahren.
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Ich wollte mir immer mein eigenes Urteil bilden ....
Es lag mir viel daran, eine solche Reise zu unternehmen und mir ein eigenes Urteil über die vielen diametral entgegengesetzten Berichte zu bilden, die ich »von drüben« bekommen hatte.
Wäre ich ein »richtiger« Deutscher mit einem deutschen Personalausweis gewesen, ich hätte mich einfach auf die Bahn setzen und hinfahren können.
Wäre ich ein »richtiger« englischer Korrespondent gewesen, und zwar möglichst einer, der kein Wort Deutsch sprach und ein konservatives Blatt vertrat, dann wäre es zwar immer noch schwierig gewesen, aber erheblich leichter als in meinem Falle.
Denn ich wurde natürlich wegen meines Austritts aus der Freien Deutschen Bewegung mit besonderem Mißtrauen betrachtet; und die aus England heimgekehrten Kommunisten - jetzt nur in der Form der SED-Mitgliedschaft getarnt - werden sich begreiflicherweise gehütet haben, meine Einreiseerlaubnis in die Zone zu empfehlen.
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Die Kommuisten aus London waren schon in Ost-Berlin
Einige von ihnen sah ich ab und zu im Kulturbund, der mit unserem ehemaligen Londoner Klub durchaus nicht nur den Namen gemeinsam hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es in Berlin »vornehmer« zuging. Man saß nicht in einem schäbigen Londoner Vorstadtgebäude, sondern in den Räumen des ehemaligen Herrenklubs in der Jägerstraße, und es lag eine (gewiß beabsichtigte) historische Ironie darin, daß man eben die Räume gewählt hatte, in denen so manche Vorbesprechung geführt wurde, die der Berufung Hitlers auf den Kanzlerposten die Wege ebnete.
Jetzt verkehrten in diesen Räumen durchaus nicht nur die führenden Kommunisten, sondern sie bemühten sich - genau so intensiv und nicht minder erfolgreich wie seinerzeit in London - die parteipolitisch propagandistischen Ziele des »Kulturbundes« durch den unleugbaren Augenschein erheblicher kultureller und geselliger Aktivität zu tarnen.
Sie legten großen Wert darauf, westliche Ausländer und prominente Deutsche aus dem Westen und aus Westberlin als Gäste zu sehen. Und sie kamen; denn die kulturellen Darbietungen waren ganz unpolitisch, die Klubräume waren komfortabel, und man traf dort immer interessante Menschen.
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Und- sonderbar - im "Kulturbund" gabs etwas zu essen
Im übrigen - und das war damals für Deutsche eine fast unwiderstehliche Lockung - gab es dort etwas zu essen. Auch das wurde sehr geschickt und unaufdringlich geboten.
Es gab nicht etwa Wodka, Kaviar und sonstige Leckerbissen, die man uns Pressemenschen auf internationalen Empfängen bot, es war nur eine bescheidene, aber auskömmliche Mahlzeit von drei Gängen; und zum Dessert gab es eine Tasse Mokka und fünf Zigaretten. Für das Ganze wurde irgendein für damalige Begriffe lächerlicher Preis, ich glaube 3,- ReichsMark, berechnet.
Kein Wunder, daß damals viele Westler - sofern sie prominent genug waren, die Mitgliedskarte zu bekommen - in jenem scheinbar so harmlosen Klub verkehrten. Ich sage das ohne jeden Zynismus, denn wenn ich es nicht schon gewußt hätte, wie sehr damals auch Menschen von hohem Rang und Namen unter dem bitteren »Kalorien«-Mangel leiden mußten, ich hätte es aus einem kleinen Erlebnis gelernt, das ich in eben jenem Klub hatte.
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Mein kleines Erlebnis in eben jenem "Klub" ......
Ich war dort mit dem alten Geheimrat Justi verabredet, um von diesem berühmten Kunsthistoriker etwas über die Schwierigkeiten zu hören, unter denen in den letzten schlimmen Kriegsjahren die Schätze der Nationalgalerie und des Kaiser-Friedrich-Museums gehütet wurden.
Es war noch sehr früh am Abend, und da ich selber ein paar Stunden später in irgendeinem britischen oder amerikanischen Klub zum Essen verabredet war, leistete ich dem Geheimrat Gesellschaft, während er seine Mahlzeit einnahm.
Er aß sehr langsam, und er zerlegte auch die letzte der dem bescheidenen Hauptgericht beigegebenen Kartoffeln mit einer etwas altväterlich anmutenden Grazie, aber während ich seinem ungemein interessanten Bericht lauschte, hatte ich plötzlich das Gefühl: um Gottes willen, der Mann hat ja Hunger.
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"Um Gottes willen, der Mann hat ja Hunger"
Es war, einem Gelehrten von solchem Weltruf gegenüber, ein für mich bedrückendes und geradezu peinliches Gefühl. Aber der Vorgang, der mir dieses kleine Erlebnis unvergeßlich machte, geschah erst am Schluß der Mahlzeit.
Der Kellner hatte gerade die geleerte Mokkatasse und den krumenlosen Teller abgeräumt, der ein Stückchen Torte enthalten hatte. Jetzt stand auf dem Tisch nur noch ein Teller mit einer ziemlich großen Scheibe trockenen Brotes.
Auch das gehörte zu dem Drei-Mark-Menü des Klubs, aber der Geheimrat hatte es bisher nicht angerührt. Jetzt, ohne seinen interessanten Bericht über die Maßnahmen zu unterbrechen, die er zum Schutz der kostbaren alten Meister in seinen Museen unternahm, - jetzt holte er plötzlich ein schönes altes Juchtenportefeuille aus der Brusttasche und entnahm daraus ein Blatt Seidenpapier, das, sorglich gefaltet, zwischen den Hundertmarkscheinen steckte.
Ohne hinzublicken und ohne seinen Bericht zu unterbrechen, entfaltete er das Seidenpapier, um das Stück Brot behutsam einzuwickeln. Dann glättete er mit spitzen Fingern das Paketchen und steckte es in seine auf dem leeren Nachbarsitz stehende Aktentasche. Alle diese Handgriffe geschahen sehr langsam und methodisch und mit einer Sicherheit, die auf lange Gewohnheit schließen ließ.
Das Gespräch über die Rembrandts der Nationalgalerie wurde dabei keinen Moment unterbrochen, und nur, während er das Paketchen in die Aktentasche gleiten ließ, warf er mir einen kurzen Blick zu, der die Deutung einer leichten Verlegenheit zuließ.
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Ich gab mich also "unwissend und ahnungslos" ......
Ich gab mir den Anschein, es war eher ein Versuch, den ganzen Vorgang nicht bemerkt zu haben, und stellte eine weitere Frage über die Rembrandts. Es gehört gewiß nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie der alte Herr drei oder vier Stunden später das Stück Brot aus der Aktentasche nahm, es mit irgendeinem Brotaufstrich versah, den es damals zu kaufen gab, und sich dazu noch vor dem Schlafengehen irgendeinen Kräutertee braute.
Jedenfalls wußte ich nun, warum der »Kulturbund« auch von Menschen frequentiert wurde, denen die politischen Hintergründe des "Unternehmens" fremd waren.
Für prominente Kommunisten und auch für die heimgekehrten Emigranten war dieser Klub in der Jägerstraße natürlich die für sie zuständige Futterkrippe, und daß sie gern und regelmäßig davon Gebrauch machten, würde ihnen gewiß nur der verargen, der selber nie erlebt hat, was Hunger bedeutet.
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Wer selber nie erlebt hat, was Hunger bedeutet ......
Ich erinnere mich einer Besprechung, die ich eines Nachmittags mit Herrn und Frau Maetzig und ein paar anderen Filmleuten in der DEFA hatte. Ich hatte mir ein paar ihrer Filme angesehen, und jetzt erzählten sie mir von ihren Plänen.
Aber kurz nach halb sechs wurden sie alle etwas unruhig, und einige Minuten später sagte mir Maetzig offen, daß ich sie doch bitte in den Klub begleiten möge, um die Besprechung dort fortzusetzen.
Punkt sechs würde dort nämlich der Restaurationsbetrieb geöffnet, und sie hätten alle sehr großen Hunger und wollten zur Stelle sein, bevor der Hauptandrang begann.
Da ich selber im britischen Pressehotel und in zahlreichen alliierten Klubs jederzeit einen reichlich gedeckten Tisch finden konnte, kam es mir gewiß nicht zu, mich über den Eifer zu mokieren, mit dem diese Leute ihrem Speisesaal zustrebten; und wer immer jene schlimme Kalorienzeit noch im Gedächtnis hat, weiß wahrscheinlich besser als ich, daß die eine zusätzliche Mahlzeit damals den entscheidenden Unterschied zwischen einem Hungerdasein und einer halbwegs erträglichen Existenz ausmachte.
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Natürlich durfte nicht jeder Ostberliner in den "Klub"
Es versteht sich, daß ein Vorrecht, wie der Besuch des »Kulturbundes« (und seines Klubrestaurants) nicht jedem Ostberliner beschieden war, sondern nur den »Prominenten« und auch da gab es, je nach Rangordnung, genau präzisierte Zwischenstufen zwischen unbeschränkter Mitgliedschaft und erheblich seltener dosierten Tafelfreuden.
Auch sonst schienen es die Russen in punkto Rangordnung sehr genau zu nehmen, und ich stellte mit Interesse fest, daß es mindestens fünf verschiedene Klassen in der Qualität und Quantität der "Pajoks" gab, also der (Militär-) Pakete, die den deutschen Anhängern des Regimes von Fall zu Fall und mehr oder minder regelmäßig zugeleitet wurden.
Also doch ein Klassenstaat, dieser Kommunismus
In der ersten Klasse gab es außer dem unvermeidlichen Kaviar auch andere Leckerbissen und Getränke in erlesener Qualität und in großen Mengen; in der letzten Klasse gab es nur etwas Mehl, ein paar Zigaretten und allenfalls ein Fläschchen des billigsten Wodka.
Ich fand solche Feststellungen bemerkenswert und konnte nicht umhin, mir zu sagen, daß ein gelernter Marxist dabei auf den Gedanken kommen könnte, es handele sich (ja doch) um einen Klassenstaat.
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Mein Besuch in einer Villa in Pankow bei Johannes R. Becher
Die allerprominentesten Mitglieder kamen natürlich nur zu besonderen Gelegenheiten in den Kulturbund und hatten wohl sonst weder Zeit noch Veranlassung, dort ihre Mahlzeiten einzunehmen. Der Präsident jedenfalls (den ich über die literarische und kulturelle Entwicklung in der "Ostzone" zu interviewen hatte) empfing mich nicht in seinem Klub, sondern in seiner Villa in Pankow.
Für mich war dieser Besuch bei Johannes R. Becher sehr interessant, denn ich konnte bei dieser Gelegenheit sehen, wie seine Nachbarn, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, und andere führende Persönlichkeiten der Ostzone lebten.
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Die Promis lebten damals schon hinter Stacheldraht
Meine erste Überraschung war die, daß sie hinter Stacheldraht lebten, und daß mein Wagen nicht, wie ich mir das naiverweise vorgestellt hatte, an der angegebenen Adresse vorfahren konnte.
Im Stacheldrahtzaun war zwar eine Einfahrt, aber da stand ein Schilderhäuschen mit einem russischen Posten. Das war ein netter, rotbäckiger junger Mann, der mich freundlich anlächelte, aber die Verständigung machte einige Schwierigkeiten, und als ich meine Presseausweise mit den vielen schönen Stempeln vorwies, studierte er sie zwar gründlich, gab sie mir aber dann kopfschüttelnd zurück.
Der Russe sagt "Njet", ich dürfe da nicht rein ...
Njet, sagte er. Dann sprach er einen längeren russischen Satz, schüttelte wieder den Kopf und lächelte mich strahlend an.
Glücklicherweise war Bechers Villa die erste hinter dem Stacheldraht, und meine fruchtlose Unterhaltung mit dem Posten war vom Fenster aus bemerkt worden. Es muß wie eine etwas utriert gespielte Szene aus einem Stummfilm ausgesehen haben. Jedenfalls erschien prompt die Haushälterin, begrüßte mich über den Stacheldraht und begann dann ihrerseits die Verhandlungen mit dem jungen Soldaten im Schilderhäuschen.
Der lächelte noch freundlicher als vorher, schüttelte aber wieder den Kopf und hielt eine längere Rede, von der die Haushälterin nicht viel zu verstehen schien. Sie ging also zurück, um den Hausherrn zu holen.
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Nur ein paar russische Worte ins Telephon und ich durfte ...
Gleich darauf erschien Johannes R.Becher im Schlafrock und Pantoffeln, und nachdem der Dichter und Reporter einige freundliche Worte über den Stacheldrahtzaun gewechselt hatten, begann die erneute Verhandlung mit dem Posten, der in längerer Rede seine Bedenken auseinandersetzte.
Bechers eigenes Russisch schien mir zwar etwas holprig zu sein, aber er konnte sich immerhin verständlich machen, und das Resultat war, daß der Posten eine höhere Dienststelle anrief. Becher kam dann selbst ins Schilderhäuschen und sprach ein paar russische Worte ins Telephon; und als der Hörer aufgelegt wurde, lächelte der Posten noch freundlicher als vorher. Es war alles in Ordnung, ich durfte anstandslos passieren.
Mein Gastgeber mußte mir seinen neuen Horchwagen zeigen
Ich hatte für das Interview anderthalb Stunden veranschlagt, und fast eine halbe Stunde davon war nun schon durch die Vorverhandlungen am Schilderhäuschen verbraucht. Ich wollte jetzt also möglichst schnell auf die deutsche Literatur zu sprechen kommen und die Bibliothek des Dichters besichtigen.
Aber Becher bestand darauf, mir erst seine Garage zu zeigen. Er meinte, ich müsse unbedingt seinen neuen Horchwagen sehen. Ich bemerkte, daß ich schon viele Automobile gesehen hätte, aber noch sehr wenig von der ostdeutschen Literatur. Ich bekam aber trotzdem erst den Horch zu sehen, bevor wir in die sehr geschmackvoll eingerichtete Villa gingen, wo Frau Becher einen kleinen Imbiß servieren ließ.
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Mein PEN-Auftrag bezüglich der CARE-Pakete ...
Dabei fiel mir mein PEN-Auftrag ein, und ich sagte Becher, daß ich in Westdeutschland schon eine kleine Liste von Dichtern und Schriftstellern zusammengestellt hätte, die würdig seien, allmonatlich eines der schönen CARE-Pakete des PEN-Clubs zu bekommen; und nun müßte die Liste auch durch ostdeutsche Namen ergänzt werden.
Ich holte sie aus meiner Aktentasche und zeigte meinem Gastgeber, daß an der Spitze der sonst noch blütenweißen Rubrik Ostzone der Name Johannes R. Becher stand, und daß ich, sein Einverständnis voraussetzend, schon den Vermerk Ref. (für refuses oder refuse - also zurückgewiesen) neben seinen Namen gekritzelt hätte. Ich nähme an, so erklärte ich, daß er, ebenso wie Kästner, auf die ihm zukommende Spende des PEN zugunsten ärmerer Kollegen verzichten würde.
»Warum eigentlich?« meinte mein Gastgeber etwas befremdet, und während er mich höflich nötigte, zuzulangen, erklärte er mir, daß ihm ein solcher Verzicht grundsätzlich unangebracht schien.
Ich holte prompt meinen Füllhalter heraus und strich das Ref. neben Bechers Namen wieder aus. Dann nahm ich noch eines der wirklich ausgezeichneten Lachsbrötchen und ließ mir von der Hausfrau einen besonders erlesenen russischen Likör kredenzen.
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Das gab es eine Überraschung ganz anderer Art mit Herrn Becher und den Russen
Einige Tage später erlebte ich mit Becher eine Überraschung ganz anderer Art: immerhin eine, die mir zu denken gab. Es wurde im Kulturbund ein Essen veranstaltet, zu dem auch ein gutes Dutzend »Westler« erschienen waren, wie etwa die Korrespondenten der Times und des Manchester Guardian, der Europavertreter von Time und Life, sowie ein paar andere amerikanische und einige französische Zeitungsmänner.
Es waren natürlich auch ein paar Deutsche dabei und auch mindestens drei oder vier offenbar ziemlich prominente Russen. Bei Tisch kam das Gespräch auf die Oder-Neiße-Grenze, und als mich einer der Russen um meine Meinung befragte, erklärte ich ihm natürlich, warum ich diese Grenzregelung für historisch unsinnig und für einen politisch verhängnisvollen Fehler hielt.
Ich konnte es mir ja schließlich leisten, auch in diesem Kreise meine Meinung zu sagen, aber ich war höchst überrascht, als mir Becher zustimmte. Er saß mir gegenüber zwischen zwei russischen Generälen und widersprach seinen Nachbarn aufs entschiedenste, als sie mit den üblichen Gegenargumenten kamen.
War das jetzt echt oder nur - meinetwegen - gespielt ?
Ich weiß bis heute noch nicht, ob er damals seine wirkliche Meinung gesagt hat, oder ob er in seiner Eigenschaft als Präsident des »Kulturbundes für die demokratische Erneuerung Deutschlands« die gewissermaßen amtliche Funktion hatte, Opposition zu markieren, wenn Gäste aus dem westlichen Auslande zugegen waren.
Solche Gäste waren damals dort ziemlich häufig. Man stand mit »unseren tapferen russischen Alliierten« noch auf verhältnismäßig gutem Fuße; die gemeinsame Verwaltung der vier Sektoren war zwar gewiß nicht reibungslos, aber noch funktionierte sie, und nirgends konnte man die vermutliche Entwicklung der Weltpolitik besser studieren als in Berlin.
Kein Wunder, daß die Weltpresse damals dort reichlich vertreten war; und einmal - ich glaube, das war während meines zweiten Berliner Besuchs - kam sogar eine ganze Flugzeugladung der prominentesten englischen Chefredakteure.
Sie wurden in vier oder fünf Tagen in ihrem Sonderflugzeug durch die Hebelpunkte der drei Westzonen geschleust, aber mindestens die Hälfte der verfügbaren Zeit verbrachten sie in Berlin.