Die Lebensbiografie von Heinrich Fraenkel (1960)
In diesem Buch beschreibt Heinrich Fraenkel (1897-1986†) seinen Werdegang und seine Erfahrungen mit den Menschen aus seinem persönlichen Umfeld, den Politikern, den Künstlern und auch den einfachen Menschen. Aus diesem Grund ist seine Biografie für uns so wichtig - auch für das Verstehen seiner beiden dicken Filmbücher, die er 1957 und 1958 geschrieben hatte.
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Emigration
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1960 - Ein umfassendes Werk über die deutsche Emigration ?
Ich hoffe, daß bald einmal - so lange das Erlebnis noch nicht allzusehr verblaßt ist - jemand ein umfassendes Werk über die deutsche Emigration während der Hitler-Zeit schreibt.
Es wäre eine interessante Aufgabe, und es würde für künftige Historiker einiges brauchbares Quellenmaterial liefern über das in jener Zeit ungejätete Niemandsland zwischen den Ländern, zwischen den Parteien - und in gewissem Sinne auch zwischen Traum und Wirklichkeit.
Berichte über meine wiederholten Heimkehrversuche ?
Ich selbst fühle mich nicht berufen, ein solches Buch zu schreiben. Ich werde mich in diesem Bericht nur einleitend mit der Emigration befassen, also nur so weit es eben nötig ist, um dem sehr persönlichen Rechenschaftsbericht meiner späteren Heimkehr (oder vielmehr meiner wiederholten Heimkehrversuche) eine sachliche Grundlage zu geben.
Wer immer über die deutsche Emigration schreibt, wird zwischen Gesinnungsemigranten und Wirtschaftsemigranten unterscheiden müssen, also zwischen denen, die ohne politische oder »rassische« Nötigung ihre Heimat verließen und denen, die es zwangsweise tun mußten, weil sie daheim ihres Lebens und ihrer Freiheit nicht mehr sicher waren.
Unterscheiden wir Gesinnungs- und Wirtschafts-Emigranten
Daß beide Kategorien sich vielfach deckten und überschnitten, dafür bietet mein eigener Fall eines von zahlreichen Beispielen; denn obschon ich früher oder später ohnehin aus »rassischen« Gründen genötigt worden wäre zu emigrieren, hätte das (vielleicht) noch fünf oder sechs Jahre Zeit gehabt.
Andererseits unterschied ich mich als »Wirtschaftsemigrant« von der großen Masse meiner weniger glücklichen Nachfolger dadurch, daß ich mich schon vor 1933 viele Jahre in England und in Amerika herumgetrieben hatte, daß also die Emigration für mich wirtschaftlich kein so schwieriges Problem und gewiß nicht der Verzweiflungsschritt war, den nach der »Kristallnacht« im November 1938 so viele deutsche Juden unternehmen mußten.
Für sie bedeutete es die Übersiedlung in ein fremdes Land, eine fremde Sprache und eine günstigenfalls höchst fragwürdige und ungewisse Zukunft. Für sehr viele freilich, besonders für die Älteren, war die wirtschaftliche Zukunft weder ungewiß noch fragwürdig, sie war ganz einfach hoffnungslos.
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Nov. 1938 - Die "grimmige" Warnung der »Kristallnacht«
Kein Wunder also, daß auch nach der grimmigen Warnung der »Kristallnacht« viele noch so lange zögerten, bis sie schließlich ihr Martyrium in den Gasöfen von Auschwitz beschlossen.
Mir selbst blieben zwar körperliches Leid und Elend erspart, nicht aber die geistige Not und der seelische Aufruhr eines halbwegs mit Phantasie und Mitgefühl begabten Menschen, der solche Schreckensnachrichten aus zweiter Hand erfährt.
Ich hörte ja alles, was Deutschland betraf, das Schlimme und das Gute, das Teuflische und das Heldische, aus zweiter Hand.
Es war sehr, sehr viel, das ich auf diese Weise erfuhr: sehr viel mehr, als ich je über Deutschland erfuhr (oder erdachte), solange ich noch selbst dort leben durfte, wann immer ich Lust dazu hatte oder doch jederzeit von irgendeiner Auslandsreise heimkehren konnte.
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Begriffe wie Heimat und Vaterland ......
Begriffe wie Heimat und Vaterland waren mir selbstverständlich gewesen, und ich hatte nie viel darüber nachgedacht, allenfalls mit einigem Widerwillen gegen den "Hurra"-Patriotismus, der uns von den Oberlehrern des Kaiserreichs eingepaukt wurde.
Ich brauchte solche Phrasen nicht, um mich meines Deutschtums zu vergewissern.
Ich war deutsch, weil ich in Deutschland geboren war, weil meine Eltern und Großeltern und auch deren Eltern und Großeltern in Deutschland geboren wurden, lebten und beerdigt sind.
Ich war deutsch, weil ich in Deutschland aufgewachsen und in deutscher Begriffswelt zwischen Gut und Böse, zwischen Schön und Häßlich zu unterscheiden gelernt hatte.
Ich war deutsch, weil mir die deutsche Landschaft bekannt und vertraut war.
Ich war deutsch, weil ich deutsch dachte und Deutsch meine Muttersprache war, weil sie mir viel mehr bedeutete als ein Verständigungsmittel, weil sie zum unlöslichen Ausdruck meines Empfindens und meiner Begriffswelt geworden war.
Ich war deutsch, weil mir deutsche Kost von Kindheit an vertraut war und zeitlebens mehr zusagte als manche Leckerbissen, die ich später in aller Welt genießen lernte.
Ich war deutsch, eben weil ich in Deutschland und unter Deutschen Heimatgefühl hatte und damit, so dünkte mir, auch Heimatrecht.
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Neu für mich - jenes Heimweh "einer ganz besonderen Art"
Hier also war einer der Ansatzpunkte meines Emigrantenzornes, hier - so weiß ich, seit ich jene ersten Monate der Emigration nicht mehr in der ersten Wallung seelischen Aufruhrs sehe, sondern über die allheilende Distanz von Jahrzehnten - erlebte ich zum ersten Male jenes Heimweh einer ganz besonderen Art, wie es nur Emigranten kennenlernen.
Es unterscheidet sich wesentlich vom gewöhnlichen Heimweh, das ich erst kurz vorher nach einigen Jahren in Hollywood empfunden hatte. Das war ein leicht kurierbares Heimweh, und es galt wohl mehr der Stadt Berlin und den Stätten entscheidender Kindheits- und Jugenderlebnisse als einem Deutschland, das mir damals als Sehnsuchtsziel gewiß kein bewußt empfundener Begriff war.
Ich sehnte mich allenfalls nach gewissen erinnerungsträchtigen Jugendsymbolen, nach gewissen Lokalen, Läden und Straßenecken, nach gewissen Kaffeehaustischen, Wohnungen und Menschen.
Das war ein Heimweh, das leicht zu beschwichtigen war. Ich fuhr eben heim, und da man das Jahr 1932 schrieb, war es eine etwas enttäuschende Heimkehr, denn das war gewiß kein sehr glückliches Jahr.
Es war nicht die Zeit, in der mein Heimatland, meine Heimatstadt und ihre Menschen sich einem Heimkehrer von der besten Seite zeigten.
Die Menschen hatten sich verändert, und zumeist nicht zu ihrem Vorteil; und selbst die Straßenecken, die Buchläden und die Kaffeehaustische glichen nicht mehr ganz dem Wunschbild, das ich davon im Herzen trug, als ich noch in weiter Ferne über den Hollywood Boulevard wandelte.
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Das Jahr 1932 - Ich war gerade mal 14 Monate in Deutschland
Immerhin, ich war wieder "daheim". Man wird ja einer großen Liebe nicht gleich überdrüssig, nur weil eine Runzel, ein graues Haar oder einige schlechte Launen zum Vorschein kommen; und wenn ich etwas enttäuscht war, so wurde das durch das aus vielen Quellen strömende Glücksgefühl ausgeglichen, eben wieder daheim zu sein.
Ich möchte jenes Jahr 1932 und die ersten beiden Monate des nächsten Jahres nicht aus meiner Entwicklung missen. Ich bin froh, daß ich diese 14 Monate in Deutschland verbrachte, zumeist in Berlin oder an einem der märkischen Seen, wohin ich mich jeweils für einige Sommerwochen zurückzog, teils um mit einem Drehbuch oder Kriminalroman die jeweilige Brotaufgabe zu erfüllen, vor allem aber, um mich von der immer unerquicklicheren politischen Atmosphäre Berlins zu erholen.
Unpolitisch war ich nie, aber ....
Gewiß habe ich in jenem schicksalsschweren Jahr 1932 politisch einiges gelernt und mich mehr als je vorher zu einem "zwov politikov", einem politischen Lebewesen entwickelt. Nicht als ob ich vorher ganz und gar unpolitisch gewesen wäre. Das war ich nie.
Aber ich war darin ein echter Deutscher, daß ich mit keiner der vielen existierenden Parteien restlos zufrieden war und mir eigentlich meinen eigenen Parteiladen hätte aufmachen müssen.
Ich verabscheute jede Art von Reaktion und jede Art von Diktatur; ich gehörte zu denjenigen, die ich später (mit der Bitterkeit des Emigranten) den »Klub der Weltbühnenleser« nannte *).
*) Jüngere Leser müssen hier bedenken, daß die heute (in 1960) in Ostberlin erscheinende »Weltbühne« nur noch den Namen mit der berühmten Zeitschrift gemein hat, die in den zwanziger Jahren erst von Siegfried Jakobsohn und später von Carl v. Ossietzky herausgegeben wurde.
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Die Artikel von Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky
Ich trieb die geistige und politische Inzucht derjenigen, die sich gegenseitig auf die Schulter klopften, wenn Kurt Tucholsky oder Carl von Ossietzky einen besonders scharfen Artikel geschrieben hatten.
»Haben Sie das gelesen?« fragten wir dann. »Großartig, wie? Jetzt hat er's ihnen aber gegeben!«
Die große Masse des Volkes hatte das nie gelesen
Was wir bei solcher politischen Selbstbefriedigung zu übersehen pflegten, war die einfache Rechenaufgabe, daß die etwa 200.000 Großstädter, die das lasen, es gar nicht nötig hatten, weil sie ohnehin davon überzeugt waren, daß aber die 20 Millionen, die es anging, es nie zu sehen bekamen.
Immerhin lernte ich in jenem schlimmen Jahre die politische Entwicklung einigermaßen erkennen. Parteipolitisch freilich war (und blieb) ich ungebunden. In den zwei Reichstagswahlen stimmte ich für die SPD, in den zwei Reichspräsidentenwahlen für Hindenburg; nicht etwa, weil mir jene beiden Wahlobjekte in jeder Hinsicht genehm waren, sondern weil sie mir als das jeweils kleinste der zur Wahl gestellten Übel erschienen.
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Meine Emigration war eine "ganz schnelle" Flucht .....
Ich hatte also bis zu meiner Emigration mit den mehr oder minder aktiven parteipolitischen Opponenten der neuen Machthaber keinerlei Kontakt; und daß ich doch schon in den ersten Wochen nach der Machtergreifung sozusagen politische Schwierigkeiten bekam und deshalb meine Emigration erheblich beschleunigen mußte, ist einem ziemlich albernen Zufall zu danken.
Ich war damals (im Nebenberuf) Berliner Korrespondent von »Variety«, der großen New Yorker Film- und Theaterzeitschrift, und die brachte eine Berliner Meldung, die von den neuen deutschen Machthabern als »Greuelmärchen« gebrandmarkt wurde.
Das war sie wohl kaum, aber wie groß auch immer der Wahrheitsgehalt jener Meldung gewesen sein mag - es handelte sich darum, daß ein sehr jüdisch aussehender amerikanischer Filmdirektor auf dem Kurfürstendamm verhauen worden war - die Meldung stammte nicht von mir, sondern von einer amerikanischen Nachrichtenagentur.
Aber da ich nun einmal der Berliner Korrespondent des Blattes war, entlud sich das Gewitter des Gestapozorns über meinem Haupte oder vielmehr in meiner Wohnung. Ich selbst war glücklicherweise von Freunden gewarnt worden und hatte mich rechtzeitig entfernt; und da ich keine Lust hatte, wegen einer solchen Albernheit verhaftet zu werden, ging ich sehr bald über die Grenze.
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- Anmerkung : In seinen anderen Büchern schrieb er, daß seine Flucht noch in der Nacht begann, als er gewarnt wurde.
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Zuerst ging es nach Paris, dann nach London ......
Ich ging erst für ein paar Monate nach Paris und dann nach London. Ich hatte zwar ein verlockendes Angebot, nach Hollywood zurückzukehren, aber ich lehnte ab.
Ich wollte nicht (im leider buchstäblichen Sinne des Wortes) »so weit vom Schuß« sein, und schon gar nicht in jenem Elfenbeinturm an der südkalifornischen Küste, in dem - das wußte ich aus langjähriger Erfahrung - alle Werte umgewertet wurden, und in dem also eine Filmpremiere oder die Ehescheidung eines Stars wichtiger war als die Ereignisse in Mitteleuropa, an denen ich immer leidenschaftlicheren Anteil nahm.
Ganz sonderbar - ich hatte hassen gelernt.
Ich hatte schon in jenen ersten Wochen der Emigration etwas gelernt, das ich vorher nie vermocht hatte: ich hatte hassen gelernt.
Eine öffentliche Bücherverbrennung in Italien oder sonst einem Diktaturstaat hätte mir allenfalls ein höhnisches Lächeln entlockt; als es aber in meinem eigenen Lande geschah, spürte ich erst Scham und dann einen kalten und mörderischen Haß.
Ich haßte die neuen Machthaber meines Landes mit einer Intensität, deren ich mich nie für fähig gehalten hätte, und die wohl nur durch eine nicht minder gesteigerte Liebe zu dem Land erklärbar war, aus dem man mich verbannt hatte.
Diese Liebe äußerte sich durch eben jenes Heimweh einer ganz besonderen Art, das Emigrantenheimweh, das ich nunmehr kennenlernte, ein Heimweh, das von Tag zu Tag nur schlimmer werden konnte, und für das es keine andere Linderung gab als Haß und Kampf.
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Nur ein paar Flugstunden von der Heimat getrennt und doch ...
Da saß ich nun, nur ein paar Flugstunden von der Heimat getrennt und doch ihr weltenfern; nur um den Preis des Lebens konnte ich eines jener täglichen Flugzeuge besteigen und meinen Fuß auf den Boden des Landes setzen, um das alle meine Gedanken kreisten, und in dem ich mich tiefer verwurzelt fühlte als je in meinem Leben.
Tagtäglich und allnächtlich saß ich viele Stunden an meinem Rundfunkgerät und hörte nicht nur die neuen Machthaber, sondern auch jeden, der gegen sie seine Stimme erheben konnte.
Tagtäglich las ich den "Völkischen Beobachter" und den "Angriff" und allwöchentlich verschlang ich jede Zeile in "Das Schwarze Korps" und "Der Stürmer".
Ich war vom Ekel geschüttelt und doch wie besessen davon. Ich konnte und wollte davon nicht lassen. (Vielleicht wollte ich nur meinen Haß wachhalten). Aber ich las und hörte auch sonst alles, wovon ich mir einigen Aufschluß über die Vorgänge in meinem Heimatland versprach.
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London - der »Gegenprozeß« des Reichstagsbrand-Prozesses
Ich war sogar auf das Militärwochenblatt und auf die Reichsbahn abonniert, studierte beide Blätter aufs gründlichste und jubilierte, wenn immer sich die Richtigkeit meiner Prognose erwies, daß in diesen Fachorganen hier und da ein kritischer Hinweis auf gewisse Irrtümer und Schwächen des Regimes zu finden war: also etwa das durch allzu scharfen HJ-Dienst verminderte Bildungsniveau der Rekruten und Offiziersanwärter oder die Vernachlässigung der Reichsbahn zugunsten der aus strategischen Gründen bevorzugten Autobahnen.
Mein erster Kontakt mit der politischen Emigration und die erste aktive Arbeit, die ich für unsere gemeinsame Sache leisten konnte - also zum wahren Nutzen des deutschen Volkes, wie wir uns das (gewiß nicht ohne guten Grund) einredeten - diese erste Chance ergab sich für mich, als in London der »Gegenprozeß« des vor dem Leipziger Reichsgericht beginnenden Reichstagsbrand-Prozesses organisiert wurde.
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Endlich konnte ich etwas tun ... und glücklich sein, dachte ich ...
Für mich selbst war das die erste Möglichkeit, für die Sache, die mir am Herzen lag, etwas zu tun, wovon ich mir eine praktische Wirkung versprach.
Ich übersetzte fast hundert Folioseiten der Anklageschrift, ich stand während der Verhandlung als Dolmetscher zur Verfügung, wann immer man mich brauchen konnte; und wenn es nichts dergleichen zu tun gab, dann half ich Briefumschläge schreiben und frankieren.
Alle Mitarbeiter dieser ziemlich umfangreichen Aktion - von Sir Stafford Cripps und anderen weltberühmten Juristen bis herunter zu uns bescheidenen Hilfskräften -, wir alle gaben unsere Zeit und Arbeit und bestritten die unvermeidlichen Spesen für Reisen, Porto, Saalmiete etc. aus eigener Tasche.
Es machte mich sehr glücklich, einige Wochen lang in diese Arbeitsgemeinschaft eingespannt zu sein, es war eine der wenigen Perioden der Emigration, in denen ich Grund zu haben glaubte, aus politischen Motiven glücklich zu sein.
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