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Die Lebensbiografie von Heinrich Fraenkel (1960)

In diesem Buch beschreibt Heinrich Fraenkel (1897-1986†) seinen Werdegang und seine Erfahrungen mit den Menschen aus seinem persönlichen Umfeld, den Politikern, den Künstlern und auch den einfachen Menschen. Aus diesem Grund ist seine Biografie für uns so wichtig - auch für das Verstehen seiner beiden dicken Filmbücher, die er 1957 und 1958 geschrieben hatte.

Die einführende Start-Seite dieses Buches finden Sie hier.

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Mein Reiseplan durch Deutschland - pedantisch genau
(wir sind noch im Jahr 1946)

Ich mußte natürlich keineswegs; ich hätte den von mir festgelegten Reiseplan jederzeit umstoßen oder modifizieren können, aber ich hielt mit pedantischer Genauigkeit daran fest. Warum ich das tat, war mir damals wohl kaum bewußt.

Heute weiß ich, daß es eine in meinem damaligen Nervenzustand begreifliche Ruhelosigkeit war, die mich durch das Land hetzte und mich nirgends rasten ließ, solange ich von den mir wesentlichen Orten meines Vaterlandes nicht wenigstens einen Blick erhascht hatte.

Aber der Hauptgrund war natürlich der, daß ich die ersehnte und doch irgendwie gefürchtete Wiederbegegnung mit Berlin verschieben wollte, bis ich mich etwas mehr akklimatisiert hatte. Deshalb redete ich mir ein, daß ich erst mein »Pensum« in Süddeutschland und im Ruhrgebiet erfüllen müßte, bis ich in dem mir wirklichen und wichtigsten Sinne »heimkehren« konnte.

Ich hatte ja schon als Kind einiges Verständnis dafür gehabt, daß der Pudding zum Schluß genossen wird, und daß der Genuß durch etwas Zögern erhöht werden kann.
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Als Engländer in der amerikanischen Zone

In der amerikanischen Zone mußte ich mich zunächst im Pressehauptquartier in Frankfurt melden, um ordnungsgemäß akkreditiert und mit den nötigen Reisepapieren, Fahrbefehlen und Verpflegungsscheinen ausgestattet zu werden. Frankfurt war mir nie besonders sympathisch gewesen. Ich hatte dort Anfang der zwanziger Jahre bei Franz Oppenheimer ein Semester Nationalökonomie gehört und hatte an der satten Bürgerlichkeit der Bockenheimer Landstraße nie viel Gefallen gefunden. Sympathisch war mir eigentlich immer nur der schöne Hauptbahnhof, von dem man mit dem Nachtzug nach Berlin fahren konnte.
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Von Frankfurt war nicht viel übrig geblieben

Jetzt war dieser mir so wohl vertraute Bahnhof nicht minder zertrümmert wie die meisten der großen Hotels in seiner Umgebung und der prunkvollen Wohn- und Geschäftsviertel. Das Ausmaß der Zerstörungen erschütterte mich eben so tief wie die stoische Ruhe und der grimmige Galgenhumor, mit dem die Frankfurter ihr Schicksal trugen und wieder an die Arbeit gingen.

Die Freunde und Verwandten, die ich früher dort gehabt hatte, waren längst tot oder in alle Welt zerstoben; aber es hatten sich neue persönliche Beziehungen ergeben, da die "Frankfurter Rundschau" (Anmerkung : eine SPD nahe Zeitung) schon einige Monate vor meiner Abreise eine Artikelserie bei mir bestellt hatte.

Jetzt hatte ich die Freude, meine mir schon brieflich bekannten Auftraggeber auch persönlich kennenzulernen, und in diesem Falle war das nicht nur erfreulich, sondern auch sehr lehrreich für meine langsam wachsende Erkenntnis der deutschen Wirklichkeit.
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Ein bedeutendes Zeitungsunternehmen der Nachkriegszeit

Daß die Frankfurter Rundschau zu den bedeutenderen Zeitungsunternehmen der Nachkriegszeit gehört, bedarf kaum der Erwähnung (Anmerkung - das Buch ist von 1960). Was aber längst vergessen sein dürfte, ist die Tatsache, daß in jenem ersten Nachkriegsjahr das neugegründete Blatt gewissermaßen ein Unikum der Zeitungsgeschichte darstellte.

Die Besatzungsmacht benutzte es nämlich zu einem gewiß sehr gut gemeinten, wenn auch etwas naiven politischen Experiment, genauer gesagt: zu einem »umerzieherischen« Versuch, die von Goebbels auf Abwege geführten Pressemänner wieder an die demokratischen Spielregeln zu erinnern.

Das machte man so, daß man ein Gremium von vier Chefredakteuren einsetzte, je einen für jede der vier zugelassenen Parteien, und daß man sie dann umschichtig, also in demokratisch korrekter Reihenfolge ihre Leitartikel schreiben ließ.

Am äußersten »rechten« Flügel des Gremiums stand natürlich der CDU-Vertreter und sozusagen offizielle Katholik Karl Wilhelm Gerst; und daß gerade er sich im Laufe der Jahre zum Kommunisten entwickelt hat - obschon er offiziell immer noch für den römischen und nicht den Moskauer Papst firmiert -, das ist wohl das einzige konkrete Resultat des umerzieherischen Gedankens, der damals die Besatzungsmacht bewegte.

Von den ursprünglichen vier Chefredakteuren ist heute (1960) nur noch Karl Gerold übrig, der wohl auch damals schon, wie ich aus vielen Gesprächen mit ihm und seinen Kollegen feststellte, keine demokratische »Umerziehung« nötig hatte.
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..... so war ich wohl ein gern gesehener Gast

Solche Gespräche waren natürlich für mich sehr interessant, aber noch lehrreicher für meine wachsende Erkenntnis der deutschen Wirklichkeit war es, mit dem Personal zu reden, mit jungen Redakteuren und alten Mitarbeitern, mit Sekretärinnen und Buchhaltern.

Ich galt immerhin als »unser Londoner Korrespondent« - damals gewiß der einzige Auslandskorrespondent des Blattes; und da die großen Taschen meines Uniformmantels stets in einer für den vorschriftsmäßigen militärischen Sitz sehr unzuträglichen Weise mit Zigarren, Zigaretten und Schokolade gefüllt waren und mit anderen schönen Dingen, mit denen man in jener schlimmen Zeit den Menschen etwas Freude machen konnte, so war ich wohl ein gern gesehener Gast.
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Im Auftrag des PEN Clubs - die Suche nach deutschen Dichtern

Eines der lehrreichsten Erlebnisse meines ersten Frankfurter Besuchs hatte ich übrigens bei der Erfüllung einer der vielen privaten und offiziellen Nebenaufträge, die man damals auf jeder Deutschlandreise mitbekam.

Einen dieser Aufträge - und es war gewiß der erfreulichste - hatte ich vom PEN-Club. Ich war also nicht nur auf der Suche nach Erkenntnissen der deutschen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, ich war auch auf der Suche nach deutschen Dichtern.

Ich sollte nämlich für den PEN eine Liste von Dichtern und Schriftstellern zusammenstellen, die durch ihre berufliche Leistung sowie durch ihre menschliche Haltung während der Hitler-Zeit und durch ihre gegenwärtige Notlage des Vorrechtes würdig wären, allmonatlich ein CARE-Paket zu empfangen, also eines jener umfangreichen Lebensmittelpakete, die in jener Zeit für den Empfänger den Unterschied zwischen einem Hungerdasein und einer halbwegs menschenwürdigen Existenz bedeuteten.
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Die Stephan Hermlin Story :

Die dritte der vom PEN-Club gestellten Bedingungen wurde ganz gewiß von dem jungen Mann erfüllt, den man mir aus dem Mitarbeiterkreis der Frankfurter Rundschau zuführte, denn er sah sehr verhungert aus und wohnte in einer Mansarde, in der seine junge Frau ihr Kind erwartete.

Auch die zweite Bedingung schien mir von dem jungen Dichter nicht nur erfüllt, sondern geradezu übererfüllt zu sein, denn er hatte keineswegs mit dem Hitler-Regime paktiert, er war sogar ein aktiver Widerstandskämpfer gewesen.

Blieb nur noch die Frage, ob er auch die erste Bedingung der beruflichen Leistung erfüllt habe. Ich hatte sein Lyrikbändchen durchgeblättert, und man sagte mir, daß auch eines seiner Essays als Broschüre erschienen sei, also in einer Form, die man mit einigem guten Willen als »Werk« bezeichnen konnte. Damit war zur Not der Forderung des PEN genügt, der ein Minimum von »zwei veröffentlichten Werken« verlangte.
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Sein Name kam auf die Förderliste ...

Ich beschloß also, den Namen des jungen Mannes auf meine Liste zu setzen, aber schon erhielt ich mehrere Warnungen, die alle aus der gleichen Richtung zu kommen schienen, nämlich aus dem Kreise der zahlreichen Anhänger und Nachläufer des im Vierer-Rat der Chefredaktion zuständigen KPD-Vertreters.

Die eindringlichste dieser Warnungen kam von einer Frau, die ihren Mangel an Charme und anderen weiblichen Vorzügen durch eine geradezu penetrante Intensität ersetzte und mir in wohlgesetzter Rede erklärte, der junge Mann habe zwar ein oder zwei Jahre in der Widerstandsbewegung gearbeitet, sei dann aber fahnenflüchtig geworden, indem er die erste günstige Gelegenheit ergriff, in die Schweiz zu entkommen, nur um dort in Ruhe ein paar Gedichte zu schreiben.

»Bravo«, sagte ich und dankte dann der etwas befremdeten Dame dafür, daß sie mich endgültig in dem Beschluß bestärkt habe, den jungen Mann auf die PEN-Liste zu setzen. Denn durch seine Flucht in die Schweiz habe er einwandfrei den Beweis erbracht, daß er zumindest den heiligen Egoismus des schöpferischen Künstlers habe, vielleicht also auch das Zeug, einmal wirklich ein Dichter zu werden.
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Der Mann (Rudolf Leder) wurde ein Honnecker Freund

Ob er es geworden ist, möge die zünftige Literaturkritik entscheiden. Seine damaligen Schwierigkeiten mit den Parteigenossen scheint er jedenfalls bereinigt zu haben, denn als ich ihm viele Jahre später einmal in Ostberlin begegnete - der junge Mann heißt übrigens (mit Künstlernamen) Stephan Hermlin (eigentlich Rudolf Leder) - war er schon (ostzonaler) Staatspreisträger (und Honnecker Freund).

Er sah keineswegs mehr verhungert aus, sondern ungemein soigniert, und er sprach sehr viel und sehr gebildet über Literatur. Er trug ein Seidenhemd, dessen sich Londons bester Hemdenschneider in Jermyn Street nicht zu schämen brauchte, aber auf die Krawatte hatte er stilgemäß verzichtet.
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Der nächste deutsche Dichter ..... war Erich Kästner

Den nächsten deutschen Dichter traf ich ein paar Tage später in München, und da an seiner Qualifikation in keiner der vom PEN stipulierten Punkte zu zweifeln war, stand der Name Erich Kästner schon längst auf meiner Liste.

Als ich das im Laufe des ersten Gesprächs erwähnte, meinte er, daß er zwar seinen Namen gern auf der Liste sähe, ich sollte doch aber das ihm zugedachte Monatspaket lieber einem ärmeren Kollegen zukommen lassen. Die Mittel des PEN seien ja nicht unbegrenzt, und es gäbe doch jetzt so viele begabte und anständige Menschen, die so ein Paket bitter nötig hätten.

Abends gingen wir in ein Kabarett, in welchem Werner Finck und Walter Kiaulehn spielten. Die hatten ihre helle Freude an meiner Uniform, und Finck meinte, ihm sei vor mir noch nie ein Tommy begegnet, der berlinern könne.

Ich meinerseits hatte meine Freude an dem Kabarett; ich hatte den später in Berlin, Düsseldorf und Hamburg bestärkten Eindruck, daß in Deutschland das politische Kabarett noch nie so witzig, so frech und geistreich war wie gerade in jenen schlimmen Jahren.
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Die Kabarettabende waren fast immer ausverkauft

Auch schien mir da keineswegs ein Widerspruch, sondern eher ein Kausalzusammenhang zu bestehen, und was mich besonders freute, war die Tatsache, daß solche Kabarettabende fast immer vor ausverkauften Häusern und verständnisvollem Publikum stattfanden. Ich habe das in England oft erwähnt, wenn in der Debatte nach einem Vortrag jemand mit dem alten Gemeinplatz kam, die Deutschen hätten bekanntlich keinen Sinn für Humor.

Nach dem Kabarett ging ich mit Kästner, Finck und Kiaulehn in eine typisch Münchener Kneipe. Ich weiß nicht mehr, wo es war, aber wir saßen an einem Münchener »Stammtisch«, dessen Echtheit nur dadurch beeinträchtigt war, daß die Wirtin, die uns die Honneurs machte, nicht ganz die traditionelle Behäbigkeit hatte, und daß es weder gutes Bier noch guten Wein gab, sondern eine Flüssigkeit von gelblich-weißer Farbe.

Soweit ich mich entsinne, hieß das Zeug Molke, und wenn schon der Name häßlich genug war, der Geschmack spottete jeder Beschreibung.

Glücklicherweise hatte ich gute Virginia- Zigaretten und noch besseren Pfeifentabak mit, wodurch sich die Stimmung unserer Runde merklich besserte.
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München und die Narben und Ruinen jener Epoche

Ich hatte München seit häufigen Kindheitsbesuchen nicht gesehen, hatte also die ganze Epoche überschlagen, in der die Stätte schöner Kindheitserinnerungen zur »Stadt der Bewegung« wurde.

Jetzt sah ich nur die Narben und Ruinen jener Epoche; und da ich sie ungern sah, versuchte ich davon zu abstrahieren und glaubte zu meiner Freude zu bemerken, daß München und die Münchener sich keineswegs so epochal geändert hatten, wie ich es fürchtete.

Auch darüber, daß die amerikanische Besatzungsmacht dem Stadtbild viel deutlicher ihr Gepräge gab als ich das aus der Britischen Zone gewöhnt war, ließ sich leicht hinwegsehen. Es schien mir eine Übergangserscheinung, nicht anders als die unverhältnismäßig große Zahl der »verhinderten Berliner« und der sonstigen »Zug'rasten«.
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Merkwürdie Ansichten der Amerikaner beim Tischgespräch

Daß mir die Besatzungsmacht besonders auffiel, lag vielleicht auch daran, daß wir noch nicht unseren American Press Club hatten (in dem die meisten Korrespondenten bald nicht mehr ihre alte Offiziersuniform, sondern nagelneue »Krachlederne« trugen), und daß fast alle Offiziere der Besatzungsmacht und der bei ihr akkreditierten Dienststellen auf die wenigen Hotels angewiesen waren, die damals noch (oder schon wieder) funktionierten.

Immerhin gab es mir zu denken, als einer meiner Tischnachbarn - ein Oberst, der schon zum Lunch in etwas alkoholisch aufgelockerter Stimmung war - seine Ansichten äußerte: »Verstehe nicht«, sagte er, »was die Leute eigentlich gegen diese Nazis haben. Wenn ich ein gottverdammter Kraut wäre, dann wäre ich bestimmt auch so ein gottverdammter Nazi. Sind ja die einzigen vernünftigen Leute in diesem gottverdammten Lande«.

Obschon solche Privatansichten damals gewiß nicht vereinzelt waren, offiziell galt immer noch die »Morgenthau-Linie«, und es dauerte noch ein paar Jahre, bis die Amerikaner von diesem idiotischen Extrem in das Umgekehrte verfielen: also in die gewissermaßen offizielle Anerkennung der Ansichten, die jener beschwipste Oberst zu mir bei Tisch äußerte.
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Die Amis wollten Haltung und Seelenzustand "erfassen"

Damals jedenfalls war die amerikanische Besatzungsbehörde noch sehr streng, und das machte sich vor allem durch den ganz besonders langen Fragebogen bemerkbar, der mir schon viel zu denken gegeben hatte, obgleich ich in der glücklichen Lage war, ihn nicht ausfüllen zu brauchen.

Wie hoffnungslos der Versuch war, durch so bürokratische Maßnahmen die geistige Haltung und den Seelenzustand eines ganzen Volkes zu erfassen, wie wahnwitzig und schädlich ein solcher Wust von Überbürokratie gerade zu jener schlimmen Zeit sein mußte, da die überwiegende Mehrheit der erschöpften Bevölkerung begreiflicherweise nur an ein paar Stück Kohle und ein paar zusätzliche »Kalorien« dachte - dafür bekam ich manchen lehrreichen Anschauungsunterricht; und solche nützlichen Lehren habe ich nach Möglichkeit an die zuständigen Stellen weitergeleitet.
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Einen der lehrreichsten Abende bei Karl Jaspers

Den in diesem Sinne lehrreichsten Abend verbrachte ich, an welchem ich gerade solche Erkenntnisse am allerwenigsten erwartet hätte, nämlich im Hause von Karl Jaspers in Heidelberg.

Ich hatte dem berühmten Philosophen einige Grüße und Mitteilungen von gemeinsamen Freunden in England und Amerika auszurichten und wurde von ihm und seiner Frau aufs liebenswürdigste empfangen.

Sie war Jüdin und wurde in den letzten Jahren des Regimes von ihrem Mann auf eine geradezu abenteuerliche Weise versteckt gehalten und so dem Zugriff der Gestapo und der Verschickung in die Gaskammer entzogen.

Aber nicht darüber ereiferte sich die noch ungemein rüstige und geistig regsame alte Dame; all das sei nun vorbei und verschmerzt; es hätte keinen Zweck mehr, darüber zu reden, aber es müßte unbedingt sofort etwas getan werden, um neues Unrecht zu beheben, das eben jetzt von der Besatzungsmacht verübt würde - Unrecht an Freunden und Bekannten, die zwar aus irgendeinem Grunde PG's (Parteigenossen) geworden wären, aber durchaus anständige und wertvolle Menschen seien.
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Und spät in der Nacht bekam ich viel erzählt ....

Als der Professor sich zur Nachtruhe zurückgezogen hatte, saßen wir noch viele Stunden zusammen, in denen Frau Jaspers und die Gäste ihres Hauses dem englischen Uniformträger über die Mißgriffe der Besatzungsmacht berichteten.

Es waren ein paar jüngere Dozenten da sowie ein Assistent des Professors und seine Frau, alles Menschen, die selber unter dem Hitler-Regime gelitten hatten und um ihren eigenen Fragebogen gewiß nicht zu bangen brauchten.

Aber sie erzählten mir einen Fall nach dem anderen von Menschen, denen bitteres Unrecht geschah, nur weil sie im Paragraphengestrüpp der Fragebogen gestrauchelt waren; und auch von Leuten, die zwar keine PG's waren, aber trotzdem in der Hitler-Zeit schlimm gewütet hatten, und die jetzt ihre blütenweißen Fragebogen dazu benutzten, sich Macht und Einfluß zu verschaffen und wiederum wehrlose Landsleute zu tyrannisieren.

Es gab da schon merwürdige Fälle mit den Fragebogen

Von allen diesen Fällen will ich hier nur den einen erwähnen, von dem ich selbst am meisten gelernt habe. Es handelte sich um einen mit den Jaspers befreundeten Studienrat, der, wenn ich mich recht entsinne, auch einen Lehrauftrag an der Universität hatte.

Der Mann hatte übersehen, daß eine wissenschaftliche Vereinigung, der er angehörte, organisatorisch mit der SS verbunden war. Irgendein lieber Landsmann und Kollege hatte das der Besatzungsbehörde angezeigt, und die Folge war ein Verfahren wegen Fragebogenfälschung.

Der Mann war verhaftet worden, wurde dann zwar auf Professor Jaspers' Fürsprache entlassen, aber jetzt drohten ihm erneute Verhaftung, absolutes Arbeitsverbot und völliger wirtschaftlicher Ruin.

Der Mann sei Familienvater mit mehreren unmündigen Kindern - so erklärte mir Frau Jaspers - und er sei so verzweifelt, daß er schon einen Selbstmordversuch gemacht habe.

Selbst intelligente Menschen waren nur noch verängstigt

Ich habe diesen Mann dann am nächsten Tage kennengelernt, und er machte mir einen keineswegs sympathischen Eindruck. Er war mir zu servil, betonte mir allzusehr seine anti-nazistische Gesinnung und benahm sich wie ein verängstigter Angeklagter vor einem srengen Richter, obschon ich ihm sofort gesagt hatte, daß er mit mir als Mensch zu Mensch reden könnte, daß ich gar keinen Einfluß hätte und nur ein Journalist wäre, der den Fall mit ein paar freundlichen Worten an die zuständige Stelle weiterleiten könnte. Das habe ich dann natürlich getan.
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Für eine Beurteilung wären mehr als 2 Stunden notwendig

Aber die wichtigste Lehre, die ich selber aus diesem Fall zog, war eine sehr einfache Rechenaufgabe: hier hatte ich mir nun über eine Stunde lang das Klagelied des Mannes angehört (und war vermutlich zu Unrecht gegen ihn voreingenommen, nur weil er in seiner Angst und Not den falschen Tonfall hatte); eine weitere Stunde hatte ich vorher schon damit verbracht, die Akten des Falles zu studieren, und trotzdem war ich noch keineswegs in der Lage, nach bestem Wissen und Gewissen darüber zu urteilen.

Ich hätte mindestens noch in seine Wohnung gehen müssen, um mit der Frau und den Kindern zu sprechen, und ich hätte weitere Stunden und erheblich gründlicheres Aktenstudium gebraucht, um mir über die Hintergründe des Falles ein wirklich klares Bild zu machen. Wie, um Himmels willen, - so sagte ich mir - kann ein Beamter es verantworten, Dutzende solcher Fälle am laufenden Band und nach fünf Minuten Aktenstudium und Verhör abzuurteilen?

Ich erkannte schwere und kaum gutzumachende Fehler

Es war ein deprimierender Gedanke, und er bestätigte nur allzu deutlich die damals schon kaum zu bezweifelnde Tatsache, daß in der Nachkriegsbehandlung des deutschen Volkes schwere und kaum gutzumachende Fehler und Unterlassungssünden begangen wurden.

Man hatte die »Fraternisierung« verboten, wo sie erwünscht und nützlich gewesen wäre, und man hatte sie gestattet, wo sie keineswegs empfehlenswert war. Man hatte Menschen vor den Kopf gestoßen, die vom besten Willen beseelt waren, während man sich von Böswilligen düpieren ließ.

Man hatte wirkliche Kriegsverbrecher durch die Maschen des Paragraphengestrüpps schlüpfen lassen und mehr oder minder harmlose Mitläufer oder Befehlsempfänger schwer bestraft; viele von ihnen hatte man gar nicht verurteilt, sondern nur sinnlos »verbiestert«, indem man sie monatelang ohne Prozeß festhielt und dann ohne Begründung wieder laufen ließ.
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Ein Tag Station beim Prozeß in Nürnberg

Auch der große Prozeß in Nürnberg, dort machte ich einen Tag Station, war für mich sehr deprimierend. Wir hatten uns das alles ganz anders vorgestellt; wir hatten gehofft, daß die Führer und die Hauptschuldigen des Regimes vor einem deutschen Gerichtshof stehen würden, vor Richtern, die sie im Namen des deutschen Volkes dafür zur Verantwortung zögen, daß sie eben dieses Volk ins Verderben gerissen und schließlich seine Blutopfer sinnlos vergrößert hatten, nur um ihren eigenen Machtwahn um eine Galgenfrist zu verlängern.

Wir hatten gehofft, daß damit eine wahre Bereinigung geschaffen werden könnte, eine Katharsis, nach der das deutsche Volk seine Arbeitskraft unbeschwert dem eigenen Wiederaufbau und einer gerechten Wiedergutmachung widmen könnte.

Stattdessen gab es einen internationalen Schauprozeß, bei dem das deutsche Volk die Rolle einer Schulklasse bekam, die aus erzieherischen Gründen zuschauen durfte.
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Ein Blick von der Pressetribüne auf die Anklagebank

Ich hatte mir keinen besonders »sensationellen« Tag für meinen Besuch ausgesucht, und in der Stunde, die ich im Gerichtssaal verbrachte, gab es nur ein belangloses juristisches Argument zwischen einem der Verteidiger und einem der Kronanwälte. Ich blickte von der Pressetribüne auf die Anklagebank hinunter, und der Anblick schien mir traumhaft irreal.

Das also waren die Männer, die jahrelang eine Welt in Atem gehalten hatten, das waren die Gesichter, die sich einer sehr kurzen und verhängnisvollen Spanne der Weltgeschichte eingeprägt hatten.

Ich entlieh mir den Feldstecher meines Nachbarn und betrachtete ein jedes dieser Gesichter sehr lange und sehr genau.

Es war kein sehr eindrucksvoller Anblick, und ich empfand weder Haß noch Triumph noch auch nur ein Rachegefühl. Ich empfand nichts als Kummer und Sorge, als ich den Blick aufwärts lenkte zu der dichtgefüllten Galerie, auf der die Hauptakteure der Veranstaltung saßen: das deutsche Publikum, das schichtweise hineingelassen wurde, um somit einen Teil des »Umerziehungs«- Pensums zu erfüllen.

Wieder entlieh ich mir den Feldstecher und betrachtete ein Dutzend dieser Hunderte von Gesichtern. Alle, die ich sah, blickten stumpf und still auf das Schauspiel, das ihnen geboten wurde. In keinem sah ich einen Funken des Gefühls: "Mea res agitur. Nostra res agitur."

Ich war nicht überrascht. Ich wußte, daß ich das unter solchen Umständen nicht erwarten konnte.
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Eine "Sightseeing" Tour durch die Trümmer Nürnbergs

Ich verließ den großen Saal ohne einen weiteren Blick auf die Anklagebank und wanderte ein paar Stunden durch die Trümmer Nürnbergs: der Stadt, die ich sehr geliebt und oft besucht hatte, als sie noch nicht »die Stadt der Parteitage« war, sondern schlechthin Nürnberg; die Stadt, in der Albrecht Dürer gelebt hatte, und in der es einige der schönsten Werke deutscher Baukunst zu sehen gab.

Es war kein erfreulicher Spaziergang, und ich war froh, als es dunkel wurde und Zeit, in das Faberschloß hinaufzufahren, in welchem die Presse untergebracht war, und in dem sich auch die Juristen und die Politiker, die Diplomaten und Schlachtenbummler aus aller Welt ein Stelldichein gaben.

Es war ein buntes, lebhaftes, aber für mich nicht besonders erfreuliches Bild, und ich mußte komischerweise an den Turmbau von Babel denken.
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Zeit für Gedanken über die Besatzungsmächte ...

Da ich bis lange nach Mitternacht warten mußte, bis es Zeit für mich wurde, zum Bahnhof hinunterzufahren und den Zug nach Frankfurt zu erreichen, und da ich nicht in der Stimmung war, mich an einem der zahlreichen Bargespräche zu beteiligen, hatte ich reichlich Zeit, in einem der bequemen Klubsessel zu sitzen und mir meine Gedanken über die Besatzungsmächte zu machen, deren Vertreter so zahlreich und so prominent die Bar, den Speisesaal und die Salons bevölkerten.

Ob und wann ich die russische Zone zu sehen bekommen würde, war noch unklar; die französische würde ich in den allernächsten Tagen besuchen, aber von der britischen und amerikanischen hatte ich immerhin schon einen ziemlich umfassenden Eindruck gewonnen.
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Die Amerikaner mit dem Stempel der eigenen Persönlichkeit

Die Amerikaner gaben ihrer Zone mehr als irgendeine der anderen Besatzungsmächte den Stempel der eigenen Persönlichkeit. Nicht nur, daß die Unzahl der Jeeps und der schnittigen Limousinen dem Stadtbild ihr Gepräge gaben; nicht nur, daß die Soldaten und Beamten in ihrer reichlichen Freizeit und mit ihrem reichlichen Taschengeld herumflanierten und Anschluß suchten: auch die Besatzungsbehörde funktionierte mit der starken Intensität und Aktivität dieses virilen und rührigen Volkes.

Das äußerte sich (zunächst) in der Strenge und der überbürokratischen Gründlichkeit, mit der die Fragebogen-Aktion durchgeführt wurde; es äußerte sich aber auch in der Intensität und dem freundlichen Eifer, womit die Amerikaner, sei es amtlich, sei es privat, den ihnen so selbstverständlichen American Way of Life zu propagieren suchten.

Da gab es reichlich dotierte Klubs und Vortragskurse, Bibliotheken und Ausstellungen; und wenn ein sportbegeisterter Captain oder Sergeant dafür sorgte, daß bayrische Dorfbuben in die Geheimnisse des Baseballspiels und die Genüsse des Kaugummis eingeweiht wurden; oder wenn Frankfurter Ladenmädchen - nicht ganz ohne Gegengabe - den Genuß von Nylonwäsche und französischen Parfüms um so mehr zu schätzen wußten, wenn er von dem Segen einer kalorienreichen Mahlzeit und würziger Zigaretten begleitet war, dann braucht man heute nicht gerade ein Zyniker zu sein, um festzustellen, daß damit im großen und ganzen - und von einigen peinlichen Entgleisungen abgesehen - dem schönen Ziel der Völkerverständigung gedient wurde.
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Bei den Briten war es viel ruhiger

In der britischen Zone ging das alles weniger intensiv und viel ruhiger zu. Ihrem Volkscharakter entsprechend hielten die Engländer mehr auf Distanz. Trotzdem würde der in irgendeinem Bezirk rangälteste Colonel es nie versäumt haben, zu Weihnachten die obligate Kindergesellschaft zu geben, eine Teaparty für die Angehörigen der Besatzungsmacht und eine Kaffee- und Kuchenparty für die Eingeborenen.

Er tat das mit der gleichen kühlen Freundlichkeit, mit der ein Landedelmann daheim in England pünktlich dafür sorgte, daß die Dorfkinder ihre Bescherung und die Dorfarmen ein paar abgelegte Wollsachen bekämen; mit der gleichen Gewissenhaftigkeit, mit der ein Kolonialgouverneur sich darum kümmert, daß die Eingeborenen seines Bezirks sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen, und daß sie ihre Kinder zur Schule und möglichst auch zur Kirche schicken.
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Die englische Tradition als "Kolonisten"

Die Engländer haben ja schließlich eine jahrhundertealte Tradition als Kolonisten, und es schien mir begreiflich, daß sich das in einer stark mit alten Kolonialbeamten durchsetzten Besatzungsbehörde sehr bemerkbar machte.

Im ersten Jahre freilich ging diese etwas gouvernantenhafte, obschon durchaus gutgemeinte Bevormundung manchmal bis an die Grenze der Komik; und ich fragte einmal den in einem Provinzbezirk regierenden Colonel, ob er es für ganz unmöglich hielt, daß die Angehörigen eines Volkes, das immerhin fünf Jahre lang gegen die ganze Welt Krieg geführt hätte, nötigenfalls fähig wären, ihre eigenen Kinder höchst eigenhändig und ohne Aufsicht aufs Töpfchen zu setzen.

Der Colonel sah mich verständnislos an; er hatte offenbar, im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit seiner Landsleute, keinen "Sense of Humour".
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Welcher Engländer von Niveau wollte schon nach Deutschland

Daß es für die britische Besatzungsbehörde immer schwieriger wurde, die Posten in Deutschland gut zu besetzen, macht gewiß den vielen tüchtigen Offizieren und Verwaltungsbeamten alle Ehre, die es zwar in den ersten Monaten für ihre patriotische Pflicht hielten, solchen Dienst zu tun, aber nicht geneigt waren, auf die Dauer eine nunmehr recht bequeme und zur Routine gewordene Pascharolle in einem besetzten Gebiet beizubehalten.

Für mich selbst ergab dieser Tatbestand ein recht interessantes und bezeichnendes Gespräch, das ich einmal - nicht auf der ersten Reise, sondern ein oder zwei Jahre später - mit einem sehr berühmten deutschen Schriftsteller hatte, einem ziemlich nationalistisch eingestellten Herrn, der heute übrigens der Chef eines sehr großen Zeitungsunternehmens ist.

»Ich danke Gott für die britische Besatzung«, sagte er mir, und auf meine erstaunte Frage nach einer Begründung erklärte er: »Jetzt werden wir Deutsche vielleicht endlich einmal den verdammten Minderwertigkeitskomplex los, den wir seit Jahrhunderten den Engländern gegenüber haben.«
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Und die folgende Tatsache ist nahezu unbekannt

Als ich ihm zu bedenken gab, daß die meisten Besatzungsleute ja nicht mehr gerade aus der allerobersten Schublade der großen britischen Beamten- und Militärkaste kämen, lachte er laut auf und sagte, daß ihm das sehr wohl bekannt sei; aber die Mehrheit des deutschen Volkes könne das ja nicht wissen, der Endeffekt sei also sehr begrüßenswert.

Das gab mir einiges zu denken. Immerhin konnte man der britischen Besatzungsbehörde zugute halten, daß selbst die dritte und vierte Garnitur der Beamtenschaft noch halbwegs Niveau hielt.

Die Zustände in der französischen Zone

Am peinlichsten - das jedenfalls war mein Eindruck auf der ersten Reise - waren damals die Zustände in der französischen Zone.

Das mag als eine allzu drastische Behauptung und eine vielleicht etwas ungehörige Verallgemeinerung erscheinen, und erfreulicherweise kann ich sie in einem sehr wesentlichen Punkt modifizieren. Ich fand nämlich gerade auf der allerhöchsten Ebene der Besatzungsbehörde - aber nur eben dort - Menschen von Verstand, Takt und Einfühlungsvermögen.

Ich fand in Baden-Baden einen General - übrigens ein gebürtiger Elsässer, der auf deutschen Hochschulen studiert hatte -, der zu dem leidigen Thema der »Umerziehung« eine der gescheitesten Bemerkungen machte, die ich in Deutschland zu hören bekam. (Denn das war ja ein Thema, über das damals ungewöhnlich viel Stroh gedroschen wurde, bis es endlich zu Tode zerredet war.)

»Was für ein Unfug«, meinte jener französische General. »Wenn solche Umerziehung einen Sinn haben soll, dann muß sie im deutschen Volk organisch wachsen«.
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Auch die folgende Erfahrung ist uralt ......

Das hörte ich lieber als so manchen Unsinn, der sonst zu diesem Thema verzapft wurde, und ich war noch angenehmer überrascht, als der französische General fortfuhr, es sei eine höchst gefährliche Narretei, dem deutschen Volke unter dem Vorwand der »Umerziehung« seine Helden zu verbieten und seine Heldendenkmäler wegzunehmen.

Jedes Volk benötige ein gewisses Maß von Heldenverehrung und die Deutschen mindestens so viel, wenn nicht mehr, als andere Völker. Es käme also darauf an, sie an eben diejenigen Helden und heroischen Ereignisse der deutschen Geschichte zu erinnern, die dem Fortschritt der Menschheit gedient hätten.

Das schienen mir sehr vernünftige Gedanken zu sein, und sie deckten sich mit manchem, was ich in dem Kreise der ausgezeichneten Pädagogen hörte, die Adolf Grimme in Hannover um sich versammelt hatte.

Wenn sich also meine Baden-Badener Erlebnisse auf die Gespräche beschränkt hätten, die ich mit jenem gescheiten französischen General und seinen Mitarbeitern hatte, dann hätte ich mit sehr erfreulichen Eindrücken abfahren können.
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Die Stimmung unter den Deutschen in Baden Baden war mies

Aber die Stimmung der deutschen Bevölkerung war alles andere als erfreulich, und um die Gründe zu verstehen, brauchte ich mich nur in meinem eigenen Hotel umzusehen. Das war ein ziemlich großer Kasten - das Golfhotel - und war ausschließlich »für die Weltpresse reserviert«.

Da aber von meinen englischen und amerikanischen Kollegen sich kaum je einer für ein paar Tage dorthin verirrte, war das Hotel fast ausschließlich von französischen Provinzjournalisten besetzt, die dort besonders billige und komfortable Dauerferien verlebten. Als ich unten in der Telephonzentrale ein Ferngespräch bestellte und in der Wartezeit hörte, daß die Telephonistin aus Paris war, fragte ich sie, ob sie denn kein Heimweh nach ihrer Familie habe.

»Oh non, Monsieur«, sagte sie, »j'ai toute ma familie ici, ma mere et mon pere et mon frere - et ma tante.« Es ist seltsam, wie manchmal irgendeine Belanglosigkeit jahrelang im Gedächtnis haftet. Ich habe heute noch genau den Tonfall im Ohr, mit dem die kleine Telephonistin nach einigem Nachdenken das » ... et ma tante« ihrer Aufzählung anhängte.

Aber ganz so belanglos war der Vorfall nicht. Daß sogar die Tante der Telephonistin »zugezogen« war, schien mir recht bezeichnend und eine immerhin plausible Erklärung für die Tatsache, daß auch in dem völlig unzerstörten Baden-Baden die gleiche fürchterliche Wohnungsnot herrschte wie in den zu 70 oder 80 Prozent zerstörten Städten.
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In Baden Baden stimmte die Welt nicht mehr ....

Ich begann jetzt zu begreifen, warum in einer Stadt mit unbeschädigten Wohnungen und hunderttausend zusätzlichen Hotel- und Pensionszimmern die einheimische Bevölkerung genau so eng zusammenrücken mußte wie in den Städten, in denen so viel Wohnungsraum zertrümmert war, daß Tausende immer noch in den Luftschutzbunkern hausen mußten.

Die Zustände in Baden-Baden haben sich erfreulicherweise ziemlich bald gebessert, damals waren sie aber gewiß nicht dazu angetan, die zwischen der (französischen) Besatzungsmacht und der Bevölkerung herrschende Stimmung etwas freundlicher zu gestalten. Es schien mir eine ziemlich kleinliche »Rache« für das, was die Franzosen ihrerseits erdulden mußten, als ihr eigenes Land besetzt war.
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Nein, nicht mit der Bahn, mit dem Auto muß ich fahren

Das Ferngespräch, das ich bei der mit soviel Familiensinn begabten Telephonistin bestellt hatte, ging übrigens zum Britischen Pressehauptquartier in Herford und gab mir wieder eine kleine Lehre über die Verschwendungssucht, die wohl in jeder Besatzungsmacht ihre psychologischen Gründe hat und somit vielleicht unvermeidlich ist.

Ich rief an, um für meine schon längst festgelegte Reiseroute die endgültigen Angaben zu machen, an welchem Tage und zu welchem Zeitpunkt mich ein Wagen am Bahnhof in Hannover abholen sollte, um mich zum Detmolder Pädagogenkongreß zu bringen.

»Sie wollen mit der Bahn fahren?« fragte der freundliche Presseoffizier in Herford ganz entsetzt. »Ich habe aber doch schon veranlaßt, daß morgen ein Wagen nach Frankfurt fährt, um Sie abzuholen.«

Das war mir gar nicht angenehm, denn es bedeutete Zeitverlust. Es schien mir sinnvoller, mich abends in Frankfurt in den Schlafwagen zu legen, um dann in Hannover in aller Herrgottsfrühe abgeholt zu werden und schon zum Frühstück in Detmold zu sein. Aber der freundliche Presseoffizier am westfälischen Ende der Leitung hatte inzwischen schon weitergeplaudert.
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Es sei ein Humber-Achtsitzer, ein Straßenkreuzer

Ich solle nicht erschrecken, sagte er, wenn ich den Wagen zu sehen bekäme. Es sei ein Humber-Achtsitzer und ein wahres Ungetüm von Straßenkreuzer. Unsere eigenen kleinen Volkswagen dürften ja nur innerhalb der Zone benutzt werden, nach Frankfurt müsse er mir also einen Dienstwagen mit einem britischen Militärfahrer schicken.

Ich warf die Frage ein, ob es nicht eine ziemliche Brennstoffverschwendung sei, so einen Wagen leer von Westfalen nach Süddeutschland zu schicken, nur um einen einzigen Passagier abzuholen; und während ich diese Bemerkung machte, mußte ich an schlimme Dinge denken, die mir Ollenhauer und Heine in Hannover berichtet hatten: wie ab und zu und in dieser und jener Ortschaft die Leute noch mehr gehungert hätten, als es nötig gewesen wäre, nur weil die paar Liter Brennstoff fehlten, um die paar Tonnen Kartoffeln heranzuschaffen, die anderswo mangels Transportmöglichkeiten verfaulten.

Aus solchen trüben Gedanken wurde ich durch das herzliche Lachen meines Gesprächspartners gerissen. »Brennstoff Verschwendung« wiederholte er und wollte sich fast ausschütten vor Lachen: darüber brauchte ich mir nun wirklich keine grauen Haare wachsen zu lassen; das sei, weiß Gott, nur ein Tropfen in den Ozeanen von Brennstoff, die hierzulande verschwendet würden.


Als ich noch einmal schüchtern die Vorzüge der Eisenbahn erwähnte, unterbrach mich der liebenswürdige Offizier mit allem Charme, der ihm zu Gebote stand.

»Have a heart, old boy«, sagte er und erklärte mir dann, daß er doch schon die Formulare für meine Wagenfahrt von Frankfurt in vierfacher Ausfertigung habe ausfüllen lassen. Wenn ich jetzt umdisponierte, müßte seine arme Sekretärin alles noch einmal, nein, noch viermal ausfüllen, und er müßte den ganzen Kram noch viermal unterschreiben.
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Und so habe ich das unzerstörte Deutschland gesehen

Was blieb mir übrig? Ich »hatte ein Herz« und fuhr mit dem Wagen. Ich habe übrigens den Zeitverlust nicht bereut, denn da ich die Autobahn vermied und über die Landstraßen fuhr, sah ich viele Dörfer und Städtchen, die von Luftangriffen und anderen direkten Kriegseinwirkungen so gut wie ganz verschont schienen und einen halbwegs normalen Eindruck machten.

Und ich habe Kassel gesehen

Ich fuhr freilich auch durch Kassel, das mir von allen Städten, die ich bisher gesehen hatte, bei weitem am schlimmsten zerstört schien. Es schien mir fast unbegreiflich, daß in diesem Trümmerhaufen noch Menschen leben konnten.
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Und dann war der Sprit fast alle

Aus solchen trüben Gedanken wurde ich durch die Notwendigkeit gerissen, in einer sehr akuten Notlage etwas zu tun. »Der Straßenkreuzer« hatte noch mehr Brennstoff gesoffen, als ihm zuzutrauen war, und der Fahrer gestand mir, daß wir mindestens noch drei oder vier Gallonen brauchten, um bis zur Britischen Zone und zur nächsten Tankstelle zu kommen, die für ihn zuständig sei. Wenn wir nicht hier in Kassel etwas Sprit auftrieben, würden wir unweigerlich später auf der Landstraße sitzen.

Es war gar nicht einfach, aber schließlich fand ich eine UNRRA-Dienststelle, die zwar genau so wenig wie irgendeine andere der vielen alliierten Dienststellen verpflichtet (oder berechtigt) war, von ihren Brennstoffvorräten unvorschriftsmäßige Abgaben zu machen; aber glücklicherweise saß da ein Quäker, und der bestätigte wieder einmal meine Erfahrung, daß die Quäker nicht nur zu jeder Zeit zu praktischer Hilfeleistung bereit sind, ohne viel Wesens davon zu machen, sondern daß sie das besonders gern tun, wenn es gegen irgendwelche bürokratischen Vorschriften verstößt.

Der Mann gab mir also vier Gallonen (ca. 20 Liter), aber als ich bezahlen wollte, beschwor er mich, das zu unterlassen, denn die Annahme der Zahlung würde geradezu unwahrscheinliche Buchungsschwierigkeiten verursachen und vermutlich einen Papierkrieg entfesseln, der eine wochenlange Korrespondenz zur Folge hätte.
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